Minkel trat mit kleinen, leicht albern wirkenden Schritten an die Rezeption heran, als hätte er das noch nie in seinem Leben gemacht. Seine Frau, die die Aktenmappe hielt, stand neben ihm. Der Empfang war nur mit einer Angestellten besetzt, und die war mit zwei anderen Gästen beschäftigt. Minkel wartete und blickte sich dabei verwirrt um. Seine Frau taxierte unbeeindruckt das Etablissement. Auf der anderen Seite der Halle, hinter einer Rauchglasabtrennung, versammelte sich eine Gruppe von gutgekleideten Deutschen zu irgendeiner Feier. Missbilligend betrachtete sie die Gäste und flüsterte ihrem Mann etwas zu. Die Rezeption wurde frei, und Minkel nahm ihr die Aktentasche ab: ein stillschweigender, instinktiver Austausch zwischen Partnern. Die Angestellte an der Rezeption war blond und trug ein schwarzes Kleid. Mit roten Fingernägeln ging sie die Kartei durch, ehe sie Minkel ein Formular zum Ausfüllen gab. Die Treppenstufen stießen gegen Charlies Hacken, ihre feuchte Hand klebte am breiten Geländer. Minkel war durch die astigmatischen Brillengläser eine verschwommene, abstrakte Form. Der Boden kam ihr entgegen, und sie machte sich zögernd auf den Weg zur Rezeption. Minkel stand über den Tresen gebeugt und füllte sein Formular aus. Er hatte seinen israelischen Paß neben dem Ellbogen liegen und schrieb die Passnummer ab. Die Aktenmappe auf dem Boden neben seinem linken Fuß; Frau Minkel war nicht im Weg. Charlie stellte sich rechts neben Minkel und sah ihm heuchlerisch beim Schreiben über die Schulter. Frau Minkel kam von links und sah Charlie befremdet an. Sie stieß ihren Mann leicht an. Nachdem ihm endlich bewusst war, dass man ihn von nahem musterte, hob Minkel langsam das ehrwürdige Haupt und wandte es ihr zu. Charlie räusperte sich, tat schüchtern, was ihr nicht schwerfiel. Jetzt.
»Professor Minkel?« fragte sie.
Er hatte bekümmerte graue Augen und sah womöglich noch verlegener aus, als es Charlie war. Es war plötzlich, als ob es darum ging, einem schlechten Schauspieler zu helfen.
»Ja, ich bin Professor Minkel«, räumte er ein, als sei er sich nicht ganz sicher. »Ja, der bin ich. Warum?« Dass sein Auftritt so ausgesprochen schlecht war, verlieh ihr Kraft.
Sie holte tief Atem.
»Herr Professor, ich bin Imogen Baastrup aus Johannesburg, und ich habe an der Witwatersrand-Universität Soziologie studiert«, stieß sie, ohne Luft zu holen, hervor. Ihr Akzent war weniger südafrikanisch als australisch; ihr Benehmen unangenehm, aber entschlossen. »Ich hatte letztes Jahr das unerhörte Glück, Ihren Jubiläumsvortrag über Rechte der Minderheiten in rassistischen Gesellschaften zu hören. Ein großartiger Vortrag war das. Er hat mein Leben verändert, wirklich. Ich wollte Ihnen ja schreiben, hab’s dann aber nie geschafft. Würde es Ihnen was ausmachen, bitte, wenn ich Ihnen die Hand drückte?«
Sie musste sie sich praktisch nehmen. Töricht starrte er seine Frau an, doch sie hatte mehr Talent und schenkte Charlie zumindest ein Lächeln. Auf dieses ›Stichwort‹ von ihr lächelte auch Minkel. Wenn Charlie schwitzte, war das nichts im Vergleich zu Minkeclass="underline" es war, als ob sie die Hand in einen Öltopf steckte.
»Bleiben Sie länger hier, Herr Professor? Was haben Sie hier vor? Sagen Sie bloß nicht, Sie halten wieder einen Vortrag.« Im Hintergrund, von ihr nur verschwommen wahrgenommen, erkundigte sich Rossino bei der Dame an der Rezeption, ob ein Signor Boccaccio aus Mailand bereits eingetroffen sei.
Wieder kam Frau Minkel zu Hilfe. »Mein Mann macht eine Rundreise durch Europa«, erklärte sie. »Wir machen Ferien, halten ein paar Vorträge, besuchen Freunde. Wir freuen uns sehr darauf.« Auf diese Weise ermutigt, schaffte sogar Minkel selbst es, endlich etwas zu sagen. »Und was bringt Sie nach Freiburg - Miss Baastrup?« erkundigte er sich mit dem dicksten deutschen Akzent, den sie je außerhalb des Theaters erlebt hatte.
»Ach, ich dachte, ich sollte mir erst einmal ein bisschen die Welt ansehen, ehe ich mich entscheide, was ich eigentlich anfangen will«, sagte Charlie.
Hol mich raus, Himmel, hol mich hier raus. Die Dame an der Rezeption bedauerte, sie habe keine Reservierung für einen Signor Boccaccio vorliegen. Im Übrigen sei das Hotel auch belegt. Die andere Hälfte der Empfangsdame reichte Frau Minkel den Zimmerschlüssel. Irgendwie bedankte Charlie sich nochmals für den wirklich anregenden und lehrreichen Vortrag und bedankte Minkel sich für ihre freundlichen Worte; Rossino, der sich bei der Dame an der Rezeption bedankt hatte, ging flott auf das Hauptportal zu; Minkels Aktentasche hatte er zum größten Teil unter einem eleganten schwarzen Regenmantel verborgen, den er über dem Arm trug. Mit einem letzten schüchternen Dankesausbruch und unter Entschuldigungen ging Charlie hinter ihm her und bemühte sich sehr, keinerlei Eile erkennen zu lassen. Als sie die Glastüren erreichte, kam sie gerade rechtzeitig, um wie im Spiegel zu sehen, wie die Minkels sich hilflos umblickten und versuchten, sich zu erinnern, wer sie wann und wo zuletzt gehabt hatte.
Charlie schlüpfte zwischen den parkenden Taxis hindurch und erreichte den Parkplatz des Hotels, wo Helga, die ein Lodencape mit Hornknöpfen trug, wartend in einem grünen Citroen saß. Charlie rutschte neben sie, Helga fuhr langsam zur Ausfahrt des Parkplatzes, gab ihren Schein ab und bezahlte. Als der Schlagbaum in die Höhe ging, fing Charlie an zu lachen, als ob der Schlagbaum ihr Lachen freigesetzt hätte. Sie verschluckte sich, steckte sich die Knöchel in den Mund, legte Helga den Kopf auf die Schulter und ergab sich hilfloser herrlicher Heiterkeit.
»Es war unglaublich, Helg! Du hättest mich sehen müssen -Himmel!« An der Kreuzung starrte der junge Verkehrspolizist die beiden erwachsenen Frauen, die sich vor Lachen ausschütteten, bis ihnen die Tränen kamen, verwirrt an. Helga kurbelte das Fenster herunter und warf ihm eine Kusshand zu.
In der Einsatzzentrale saß Litvak am Funkgerät; Becker und Kurtz standen hinter ihm. Litvak schien erschrocken über sich selbst, als habe es ihm die Sprache verschlagen; er war bleich. Er trug einen Kopfhörer mit nur einem Hörer und einem Mikro an einer gepolsterten Halterung.
»Rossino ist mit dem Taxi zum Bahnhof gefahren«, sagte Litvak. »Er hat die Aktenmappe bei sich und holt jetzt das Motorrad ab.«
»Ich will nicht, dass ihm jemand folgt«, sagte Becker hinter Litvaks Rücken zu Kurtz.
Litvak riss sich das Mikrofon herunter und führte sich auf, als könnte er seinen Ohren nicht trauen. »Nicht folgen? Wir haben sechs Leute um dieses Motorrad herum aufgebaut und Alexis vielleicht noch mal an die fünfzig. Wir haben einen Sender eingebaut und über die ganze Stadt Wagen verteilt. Wenn wir dem Motorrad folgen, folgen wir der Aktenmappe, und die Aktenmappe führt uns zu unserem Mann.« Er drehte sich zu Kurtz um und flehte ihn um Unterstützung an.
»Gadi?« sagte Kurtz.
»Er übergibt an Stafetten«, sagte Becker. »Das hat er immer getan. Das heißt, Rossino bringt es bis da und dahin, übergibt die Tasche an jemand anders, und dieser bringt sie wiederum zur nächsten Stafette. Bis heute nachmittag haben sie uns durch kleine Straßen, über offenes Land und durch leere Restaurants gehetzt. Und kein Beschatterteam der Welt übersteht das, ohne erkannt zu werden.«
»Und dein besonderes Interesse, Gadi?« fragte Kurtz weiter.
»Die Berger wird Charlie den ganzen Tag nicht von der Pelle rücken. Khalil wird die Berger in abgesprochenen Abständen und an bestimmten Orten anrufen. Sobald Khalil Lunte riecht, gibt er der Berger den Befehl, sie umzubringen. Falls er sich binnen zwei Stunden nicht meldet, oder drei, je nachdem, was abgemacht ist, legt sie sie sowieso um.«
Scheinbar unentschlossen, drehte Kurtz beiden Männern den Rücken zu und durchmaß den Raum. Dann wieder zurück. Und nochmals. Litvak ließ ihn nicht aus den Augen, als wäre er ein Wahnsinniger. Schließlich trat Kurtz an den Apparat, der ihn direkt mit Alexis verband, und sie hörten, wie er »Paul?« sagte, in jenem fragenden Ton, in dem man jemand um einen Gefallen bittet. Er sprach eine Weile ruhig, hörte zu, sprach wieder und legte dann auf. »Uns bleiben noch etwa neun Sekunden, bis er den Bahnhof erreicht«, sagte Litvak aufs äußerste erregt und lauschte in seinen Kopfhörer. »Sechs.«