Kurtz beachtete ihn nicht. »Man hat mir berichtet, die Berger und Charlie seien gerade zu einem eleganten Friseur«, sagte er. »Sieht so aus, als ob sie sich vor dem großen Ereignis noch schön machen ließen.« Er blieb vor ihnen stehen.
»Rossinos Taxi hat gerade den Bahnhofsplatz erreicht«, berichtete Litvak verzweifelt. »Jetzt bezahlt er.«
Kurtz sah Becker an. Sein Blick verriet Achtung, sogar Zartgefühl. Er war ein alter Trainer, dessen Lieblingssportler endlich Höchstform zeigt.
»Heute hat Gadi gewonnen, Shimon«, sagte er, den Blick immer noch auf Becker. »Pfeif deine Jungs zurück. Sag ihnen, sie soll’n sich bis heut’ abend ausruh’n.«
Ein Telefon klingelte, und wieder war es Kurtz, der abnahm. Es war Professor Minkel, der den vierten Nervenzusammenbruch während dieser Operation hatte. Kurtz hörte ihm geduldig bis zum Ende zu, dann sprach er lange und beschwichtigend mit seiner Frau.
»Es ist ein wirklich schöner Tag«, sagte er und unterdrückte seine Verzweiflung, als er auflegte. »Alle amüsieren sich köstlich.« Er setzte seine blaue Mütze auf und machte sich auf, um sich mit Alexis zu treffen und gemeinsam mit ihm den Hörsaal zu inspizieren. Es war die schlimmste und längste Warterei, die sie je hatte durchstehen müssen; eine Premiere, die alle Premieren beendete. Schlimmer noch: Sie konnte nichts allein unternehmen, denn Helga hatte Charlie zu ihrem Schützling und ihrer Lieblingsnichte gemacht und ließ sie nicht aus den Augen. Vom Friseur, wo Helga - noch unter der Trockenhaube -den ersten Anruf entgegengenommen hatte, fuhren sie in ein Damenbekleidungsgeschäft, wo Helga Charlie ein Paar pelzgefütterte Stiefel sowie Seidenhandschuhe wegen der Fingerabdrücke kaufte. Von dort zum Münster, wo Helga Charlie anmaßend eine Lektion in Geschichte erteilte, und dann unter viel Gekicher und Andeutungen weiter auf einen kleinen Platz, wo sie sie unbedingt mit einem gewissen Berthold Schwarz bekannt machen wollte - »sexiger als Berthold geht’s nicht, Charlie - du verliebst dich bestimmt unsterblich in ihn.« Berthold Schwarz entpuppte sich als ein Standbild.
»Ist er nicht phantastisch, Charlie? Möchtest du nicht auch, dass wir wenigstens einmal den Rock hochheben könnten? Weißt du, was er ist, unser Berthold? Er war Franziskaner, ein berühmter Alchimist, der Erfinder des Schießpulvers. Er liebte Gott so sehr, dass er all seinen Geschöpfen beibrachte, sich gegenseitig in die Luft zu jagen. Daher haben die guten Bürger ihm ein Denkmal gesetzt. Natürlich.«
Sie packte Charlies Arm und zog sie aufgeregt an sich. »Weißt du, was wir nach heute abend machen?« flüsterte sie ihr zu. »Wir kommen noch einmal hierher zurück, bringen Berthold ein paar Blumen und legen sie zu seinen Füßen nieder. Ja? Ja, Charlie?«
Der Turm des Münsters ging Charlie allmählich auf die Nerven; ein unruhiges, gezacktes Wahrzeichen, immer schwarz, das jedes Mal vor ihr auftauchte, wenn sie um eine Ecke bog oder eine neue Straße betrat.
Zum Mittagessen gingen sie in ein elegantes Restaurant, wo Helga Charlie badischen Wein spendierte, der, wie sie sagte, auf dem vulkanischen Boden des Kaiserstuhls gewachsen sei -ein Vulkan, Charlie, stell dir vor! -, und von jetzt an war alles, was sie aßen oder tranken oder sahen, Anlass für ermüdende und witzige Erläuterungen. Als sie bei der Schwarzwälder Kirschtorte waren - »Heute sind wir ganz bürgerlich« -, wurde Helga wieder ans Telefon gerufen und erklärte bei ihrer Rückkehr, sie müssten jetzt zur Universität, sonst würden sie nie alles schaffen. Sie stiegen daher in eine Fußgängerunterführung mit florierenden kleinen Geschäften hinab und kamen vor einem gewichtigen Gebäude aus erdbeerfarbenem Sandstein, Säulen und einer gewölbten Fassade mit goldener Inschrift darüber, die Helga selbstverständlich gleich übersetzen musste, wieder an die Oberfläche.
»Schau, eine hübsche Botschaft für dich, Charlie. Hör zu: ›Die Wahrheit wird euch frei machen.‹ Sie zitieren Karl Marx für dich, ist das nicht herrlich und aufmerksam?«
»Ich dachte, es stammte von Noël Coward«, sagte Charlie und sah, wie Zorn über Helgas übererregtes Gesicht huschte.
Ein Steinweg führte um das Gebäude herum. Ein älterer Polizist patrouillierte davor und nahm die beiden jungen Frauen ohne besondere Neugier in Augenschein: sie sperrten Mund und Nase auf und zeigten sich gegenseitig etwas - Touristen bis in die Fingerspitzen. Vier Stufen führten zum Haupteingang hinauf. Innen sah man durch dunkle Glastüren die Lampen einer großen Halle blinken. Der Seiteneingang wurde von Statuen von Homer und Aristoteles bewacht. Hier hielten sich Helga und Charlie am längsten auf, bewunderten die Skulpturen und die pompöse Architektur, während sie insgeheim Entfernungen und Zugangsmöglichkeiten maßen. Ein gelbes Plakat verkündete Minkels Vortrag heute abend.
»Du hast Angst, Charlie«, flüsterte Helga, wartete gar nicht erst eine Antwort ab, sondern fuhr fort: »Hör zu, nach dem heutigen Morgen wirst du endgültig triumphieren. Du bist vollkommen. Du wirst zeigen, was Wahrheit und was Lüge ist, du wirst ihnen zeigen, was Freiheit ist. Bei großen Lügen brauchen wir eine große Tat, logisch. Eine große Tat, ein großes Publikum, eine große Sache. Komm!« Eine moderne Fußgängerbrücke führte über den zweispurigen Fahrdamm hinweg. Makabre Totempfähle aus Stein wachten an beiden Enden. Von der Brücke aus gingen sie durch die Universitätsbibliothek in ein Studentencafe, das wie eine Betonwiege über dem Fahrdamm hing. Während sie ihren Kaffee tranken, konnten sie durch die Glaswände Professoren und Studenten den Hörsaal betreten und verlassen sehen. Wieder wartete Helga auf einen Anruf. Er kam, und als sie zurückkehrte, fand sie in Charlies Gesichtsausdruck etwas, das sie ärgerte.
»Was ist denn mit dir los?« zischte sie. »Hat dich plötzlich das Mitleid mit Minkels bezaubernden zionistischen Überzeugungen gepackt? So edel, so hehr? Hör zu, er ist schlimmer als Hitler, ein Wolf im Schafspelz. Komm, trink einen Schnaps, das wird dir wieder Mut machen.«
Das Feuer des Schnapses brannte noch in ihr, als sie den leeren Park erreichten. Der Teich war mit Eis bedeckt, frühes Dunkel senkte sich herab; die Abendluft prickelte von winzigen gefrorenen Wasserteilchen. Sehr laut schlug eine alte Glocke die Stunde. Eine zweite Glocke - kleiner und höher - bimmelte hinterher. Das grüne Cape fest Um sich gezogen, stieß Helga sofort einen Freudenruf aus. »Ach, Charlie, horch! Hörst du dieses kleine Glöckchen? Es ist aus Silber. Und weißt du auch, warum? Ich werd’s dir erzählen. Ein Reisender zu Pferd verirrte sich eines Nachts. Räuber waren unterwegs, es war schlechtes Wetter, und er war so froh, Freiburg zu sehen, dass er dem Münster eine silberne Glocke stiftete. Jetzt läutet sie jeden Abend. Ist das nicht bezaubernd?«
Charlie nickte, versuchte zu lächeln, doch es gelang ihr nicht. Helga umschlang sie mit ihrem kräftigen Arm und hüllte sie in die Falten ihres Capes. »Charlie - hör zu! - soll ich dir noch eine Standpauke halten?«
Sie schüttelte den Kopf.
Helga hielt Charlie immer noch an die Brust gedrückt, als sie einen Blick auf die Uhr warf und dann den Weg hinunter ins Halbdunkel schaute. »Und noch was zu diesem Park. Weißt du, was ich meine?« Ich weiß nur, dass es der zweitschlimmste Ort auf Erden ist. Und ich vergebe nie erste Preise.
»Dann will ich dir noch eine Geschichte darüber erzählen. Ja? Im Krieg war hier ein Ganter.«
»Was ist das, ein Ganter?«
»Eine männliche Gans. Ein Gänserich. Und dieser Ganter war eine Luftschutz-Sirene. Wenn die Bomber kamen, war er der erste, der sie hörte, und wenn er schnatterte, gingen die Leute gleich in den Keller, ohne erst den offiziellen Alarm abzuwarten. Der Ganter starb, doch nach dem Krieg waren die Bürger so dankbar, dass sie ihm ein Denkmal errichteten. Da hast du Freiburg, wie es leibt und lebt. Ein Denkmal für ihren Bombenmönch, das andere für den Warner vor den Bombenangriffen. Sind sie nicht verrückt, diese Freiburger?« Helga wurde plötzlich ganz steif, warf abermals einen Blick auf die Uhr und spähte ins trübe Dunkel. »Da ist er«, sagte sie dann ganz ruhig und drehte sich um, um Lebewohl zu sagen.