Nein, dachte Charlie. Helg, ich liebe dich, du kannst mich jeden Tag zum Frühstück haben, bloß zwing mich jetzt nicht, zu Khalil zu gehen.
Helga legte die Hände flach auf Charlies Wangen und küsste sie sanft auf die Lippen.
»Für Michel, ja?« Sie küsste sie nochmals, heftiger diesmal. »Für die Revolution und den Frieden und für Michel. Geh jetzt diesen Weg runter, da kommst du an ein Tor. Dort wartet ein grüner Ford. Setz dich hinten rein, direkt hinter den Fahrer.« Noch ein Kuss. »Ach, Charlie, hör zu, du bist einfach phantastisch. Wir werden immer Freundinnen sein.«
Charlie schickte sich an, den Weg hinunterzugehen, blieb stehen, warf einen Blick zurück. Steif und eigentümlich pflichtbewusst im Dämmerlicht, stand Helga da und sah ihr nach. Ihr grünes Lodencape hing ihr um die Schultern wie bei einem Polizisten. Helga winkte - ein königliches Hinundherwedeln ihrer großen Hand. Charlie, vom Münsterturm bewacht, winkte zurück. Der Fahrer trug eine Pelzmütze, die sein Gesicht halb verbarg; außerdem hatte er den Pelzkragen seines Mantels hochgestellt. Er drehte sich nicht um und grüßte sie nicht, und sie konnte sich von ihrem Platz aus kaum eine Vorstellung davon machen, wie er aussah; der Linie seiner Wangenknochen nach zu urteilen, musste er jung sein; außerdem hatte sie den Verdacht, dass er Araber war. Er fuhr langsam, zuerst durch den abendlichen Stadtverkehr, dann aufs Land hinaus, über gerade schmale Straßen, auf denen noch Schnee lag. Sie kamen an einem kleinen Bahnhof vorüber, näherten sich einem Bahnübergang und blieben stehen. Charlie hörte das warnende Bimmeln einer Glocke und sah den hohen rot-weiß gestrichenen Schlagbaum erst zittern, dann sich allmählich senken. Ihr Fahrer schaltete in den zweiten Gang und raste über die Geleise; unmittelbar nachdem sie in Sicherheit waren, war die Schranke geschlossen.
»Danke«, sagte sie und hörte ihn lachen - ein kehliges Perlen; zweifellos war er Araber. Er fuhr einen Berg hinauf und hielt den Wagen nochmals an, diesmal an einer Bushaltestelle. Er reichte ihr eine Münze.
»Nimm einen Fahrschein für zwei Mark und den nächsten Bus in diese Richtung«, sagte er.
Die jährliche Schnitzeljagd am Foundation Day, dachte sie; ein Hinweis führt zum nächsten, und der letzte Hinweis führt dich zum Preis, um den es geht.
Es war pechdunkel, und die ersten Sterne zeigten sich. Ein schneidender Landwind blies von den Bergen. Weiter unten an der Straße erkannte sie das Licht einer Tankstelle, doch Häuser waren nicht zu sehen. Sie wartete fünf Minuten, dann kam aufseufzend ein Bus neben ihr zum Stehen. Er war dreiviertel leer. Sie kaufte ihren Fahrschein und setzte sich in die Nähe der Tür, die Knie zusammen, die Augen nirgends. An den beiden nächsten Haltestellen stieg niemand zu; an der dritten sprang ein Junge in Lederjacke auf und setzte sich fröhlich neben sie: ihr amerikanischer Chauffeur von gestern abend. »Zwei Haltestellen weiter ist eine neue Kirche«, sagte er im Plauderton. »Steig aus, geh an der Kirche vorbei, die Straße runter, bleib auf dem rechten Bürgersteig. Dann kommst du zu einem parkenden roten Wagen, vom Rückspiegel hängt ein kleines Teufelchen herunter. Mach die Tür zum Beifahrersitz auf, setz dich rein und warte. Mehr brauchst du nicht zu tun.«
Der Bus hielt, sie stieg aus und marschierte los. Der Junge fuhr weiter. Die Straße war gerade und die Nacht außerordentlich dunkel. Vor sich, knapp fünfhundert Meter entfernt, erkannte sie einen verschwommenen roten Fleck unter einer Straßenlaterne. Keine Parkleuchten. Der Schnee knirschte unter ihren neuen Stiefeln, und das Geräusch verstärkte noch ihr Gefühl, völlig von ihrem Körper gelöst zu sein. Hallo, Füße, was macht ihr da unten? Marschieren, Mädchen, marschieren. Der Kastenwagen kam näher, und sie erkannte, dass es ein kleiner Coca-Cola-Lieferwagen war, der weit auf den Bürgersteig hinaufgefahren worden war. Fünfzig Schritt weiter unter der nächsten Laterne war ein winziges Cafe und hinter dem Cafe wieder nichts als die nackte Schneefläche und die schnurgerade verlaufende Straße ohne besondere Merkmale, die nach irgendwohin führte. Was mochte einen Menschen bewogen haben, hier ein Cafe aufzumachen? Das war ein Rätsel für ein anderes Leben.
Sie machte die Tür des Lieferwagens auf und stieg ein. Die Fahrerkabine war durch die Straßenlaterne draußen merkwürdig hell erleuchtet. Sie roch Zwiebeln und sah einen Karton voller Zwiebeln zwischen den Kästen mit leeren Flaschen stehen, die den Laderaum füllten. Ein Plastikteufelchen mit Dreizack baumelte vom Rückspiegel herunter. Sie erinnerte sich an ein ähnliches Maskottchen in dem Wagen in London, als Mario sie entführt hatte. Ein Haufen schmieriger Kassetten lag neben ihren Füßen. Es war der stillste Ort auf der ganzen Welt. Ein einzelnes Licht kam langsam zu ihr die Straße herauf. Als es auf ihrer Höhe war, sah sie einen jungen Priester auf einem Fahrrad. Als er vorüberradelte, wandte er ihr das Gesicht zu; er sah beleidigt aus, als ob sie seiner Keuschheit zu nahe getreten wäre. Wieder wartete sie. Ein großer Mann mit einer Schirmmütze auf dem Kopf trat aus dem Cafe, schnupperte, blickte dann die Straße hinauf und hinunter, als wäre er sich nicht sicher, wie spät es sei. Er kehrte nochmals ins Cafe zurück, kam wieder heraus und ging langsam auf sie zu, bis er neben ihr stand. Mit den Spitzen einer behandschuhten Hand klopfte er an Charlies Scheibe. Ein Lederhandschuh, hart und glänzend. Eine helle Taschenlampe strahlte sie an, so dass sie ihn überhaupt nicht sehen konnte. Der Strahl verweilte auf ihr, wanderte dann langsam durch das Wageninnere, kehrte zu ihr zurück, blendete sie in einem Auge. Sie hob die Hand, um die Helligkeit abzuwehren, und als sie sie wieder sinken ließ, folgte ihr der Lichtstrahl bis zu ihrem Schoß. Die Taschenlampe ging aus, ihre Tür ging auf, eine Hand schloss sich um ihr Handgelenk und zog sie aus dem Wagen. Äug’ in Auge stand sie ihm gegenüber, und er war um eine gute Spanne größer als sie, breit und stämmig. Doch sein Gesicht lag im schwarzen Schatten unter dem Schirm seiner Mütze, und den Kragen hatte er der Kälte wegen hochgestellt.
»Bleib ganz ruhig stehen«, sagte er.
Nachdem er ihr die Schultertasche abgenommen hatte, prüfte er erst deren Gewicht, dann machte er sie auf und sah hinein. Zum dritten Mal in letzter Zeit erregte ihr kleiner Radiowecker besondere Aufmerksamkeit. Er stellte ihn an. Das Radio spielte. Er stellte es ab, fummelte daran herum und ließ etwas in seine Tasche gleiten. Einen Moment hatte sie gedacht, er hätte beschlossen, das Radio für sich zu behalten. Doch das hatte er nicht, denn sie sah, wie er es wieder in die Tasche fallen ließ und die Tasche in den Wagen warf. Dann, wie ein Lehrer im Anstandsunterricht, der ihre Haltung korrigiert, legte er ihr die Spitzen seiner behandschuhten Hand an die Schultern und richtete sie auf. Die ganze Zeit über lag sein dunkler Blick auf ihrem Gesicht. Sein rechter Arm hing herunter, und mit der Handfläche der linken Hand tastete er leicht ihren Körper ab, erst Hals und Schultern, dann Schlüsselbein und Schulterblätter, betastete vor allem die Stellen, wo die Träger ihres BHs gewesen wären, wenn sie einen getragen hätte. Dann ihre Achselhöhlen und die Seiten bis hinunter zu den Hüften; ihre Brüste und den Bauch.
»Heute morgen im Hotel hast du das Armband am rechten Arm getragen. Heute Abend trägst du es am linken. Warum?« Sein Englisch klang ausländisch, gebildet und höflich; sein Akzent, soweit sie es beurteilen konnte, arabisch. Eine weiche, jedoch kräftige Stimme; die Stimme eines Redners.
»Ich trag’ es mal da und mal da.«