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»Er heißt Franz. Sag ihm, du bist Margaret. Viel Glück!«

Der Abend war feucht und still. Die Straßenlaternen der Altstadt hingen wie eingesperrte weiße Monde in ihren Eisenfassungen. Sie hatte sich von Franz an der Ecke absetzen lassen, denn sie wollte vor ihrem Auftritt die paar Schritte über die Brücke zu Fuß zurücklegen. Sie wollte das pausbäckig-gerötete Aussehen von jemand haben, der von draußen hereinkommt, sie wollte die Frische der Kälte auf dem Gesicht und den Hass im Hinterkopf. Sie befand sich in einer Gasse zwischen niedrigen Bauzäunen, die sich um sie schlossen wie ein armseliger Tunnel. Sie kam an einer Kunstgalerie vorüber, die voll war von Selbstporträts eines blonden, nicht sehr sympathischen jungen Mannes mit Brille, dann an einer zweiten Kunstgalerie daneben, in denen idealisierte Landschaften gezeigt wurden, die der junge Mann nie betreten würde. Wandschmierereien schrieen sie an, doch sie konnte kein Wort verstehen, bis sie plötzlich las: »Fuck America!« Danke für die Übersetzung, dachte sie. Dann war sie wieder im Freien, stieg die mit Sand bestreuten Betonstufen empor, doch sie waren vom Schnee immer noch sehr glatt. Sie kam oben an und sah die Glastüren der Universitätsbibliothek zu ihrer Linken. Im Studentencafe brannte immer noch Licht. Rachel und ein Junge saßen gespannt am Fenster. Sie passierte den ersten marmornen Totempfahl, sie ging über die Fußgängerbrücke hoch über dem Fahrdamm, um die andere Straßenseite zu erreichen. Schon ragte das Vorlesungsgebäude vor ihr auf; Scheinwerfer verwandelten den erdbeerfarbenen Sandstein in flammendes Karmesinrot. Autos fuhren vor; die ersten Zuhörer trafen ein, stiegen die vier Stufen zum Vordereingang empor, blieben stehen, um Hände zu schütteln und sich gegenseitig zu versichern, wie unvergleichlich prominent man doch sei. Ein paar Sicherheitsbeamte untersuchten mechanisch Damenhandtaschen. Sie ging weiter. Die Wahrheit wird euch frei machen. Sie passierte den zweiten Totempfahl und ging auf die nach unten führende Treppe zu. Die Aktenmappe baumelte an ihrer rechten Hand, und sie spürte, wie sie ihre Schenkel streifte. Eine heulende Polizeisirene bewirkte, dass sich ihre Schultermuskeln vor Schreck verkrampften; trotzdem ging sie weiter. Zwei Polizeimotorräder mit blitzendem Blaulicht fuhren vor einem schimmernden schwarzen Mercedes mit Stander her. Für gewöhnlich wandte sie, wenn große Wagen vorüberfuhren, das Gesicht ab, um den darin Sitzenden nicht die Genugtuung zu geben, dass man sie ansehe, doch heute abend war das etwas anderes. Heute abend konnte sie den Kopf hoch tragen; sie hatte die Antwort ja in der Hand. Sie starrte sie daher an und wurde belohnt durch den Anblick eines geröteten, übergewichtigen Mannes in schwarzem Anzug und silberner Krawatte; und einer missmutig dreinblickenden Gattin mit dreifachem Kinn und Nerzplaid. Für große Lügen brauchen wir selbstverständlich ein großes Publikum , fiel ihr ein. Eine Kamera blitzte, das hochgestellte Paar stieg - von mindestens drei Vorübergehenden bewundert - zu den Glastüren hinauf. Bald, ihr Schweine, dachte sie, bald!

Unten an der Treppe wendest du dich nach rechts. Das tat sie und ging weiter, bis sie die Ecke erreichte. Paß auf, dass du nicht in den Fluss fällst, hatte Helga gesagt und war sich dabei besonders witzig vorgekommen. Khalils Bomben sind nicht wasserdicht, Charlie, und du auch nicht. Sie bog nach links ab und ging seitlich an dem Gebäude entlang, über einen Bürgersteig mit Kopfsteinpflaster, auf dem kein Schnee liegen geblieben war. Der Fußweg verbreiterte sich, wurde zu einem Hof, und in der Mitte dieses Hofes, neben einer Gruppe von Blumenkübeln aus Beton, stand ein Mannschaftswagen der Polizei. Davor standen zwei uniformierte Beamte und taten voreinander groß, hoben die Reitstiefel und lachten, um jeden finster anzublicken, der es wagte, sie dabei zu beobachten. Sie war keine fünfzehn Meter von der Seitentür entfernt und begann die Ruhe zu spüren, auf die sie wartete - jenes Gefühl fast von Erleichterung, das sie überkam, sobald sie die Bühne betrat und ihre anderen Identitäten in der Garderobe zurückließ. Sie war Imogen aus Südafrika, ein Mädchen, das an Mut mitbrachte, was ihr an Anmut fehlte, und sich beeilte, einem großen Freiheitshelden beizustehen. Sie war peinlich berührt -Scheiße, es war ihr zum Sterben peinlich -, aber entweder sie tat jetzt das Richtige, oder sie verpatzte es. Sie hatte den Seiteneingang erreicht. Er war verschlossen. Sie drückte die Klinke herunter, doch nichts bewegte sich. Verdutztes Zittern. Sie legte die Handfläche gegen die Füllung und drückte, doch die Tür gab nicht nach. Sie trat zurück und starrte die Tür an, dann sah sie sich hilfesuchend um. Inzwischen hatten die beiden Polizisten aufgehört, miteinander zu schön zu tun und fassten sie argwöhnisch ins Auge, doch keiner von ihnen machte einen Schritt.

Vorhang auf! Los!

»Bitte, entschuldigen Sie«, rief sie ihnen zu. »Sprechen Sie Englisch?«

Sie bewegten sich immer noch nicht. Wenn jemand ein Stück gehen musste, dann sollte sie’s doch tun. Sie war schließlich nur ein Bürger, und dazu noch eine Frau.

»I said do you speak English? Englisch - sprechen Sie? Irgend jemand muss dies dem Professor geben. Sofort. Würden Sie bitte mal herkommen?«

Beide machten finstere Gesichter, doch nur einer kam zu ihr herüber. Langsam, auf seine Würde bedacht.

»Toilette nicht hier«, raunzte er sie an und wies mit einer Kopfbewegung die Straße hinauf, die sie gerade heruntergekommen war. »Ich will ja gar nicht zur Toilette. Ich möchte, dass Sie jemand finden, der diese Aktentasche Professor Minkel übergibt. Minkel«, wiederholte sie und hielt die Aktentasche in die Höhe.

Der Polizist war jung und machte sich nichts aus Jugend. Er nahm ihr die Aktentasche nicht ab, sondern ließ sie sie halten, während er am Schloss herumdrückte und sich überzeugte, dass es wirklich verschlossen war.

Junge, Junge, dachte sie. Da hast du grad eben Selbstmord begangen und funkelst mich trotzdem noch an. »Öffnen!« befahl er.

»Das kann ich nicht. Sie ist verschlossen.« Sie gab ihrer Stimme einen verzweifelten Klang. »Sie gehört dem Professor, verstehen Sie denn nicht? Soviel ich weiß, hat er die Unterlagen für seinen Vortrag darin. Die braucht er für heute abend.« Sie wandte sich von ihm ab und hämmerte laut gegen die Tür. »Professor Minkel? Ich bin’s, Imogen Baastrup von der Witwatersrand-Universität. O Gott.«

Der zweite Polizist war zu ihnen getreten. Er war älter und hatte dunkle Wangen. Charlie appellierte an seine größere Weisheit. »Well, do you speak English?« sagte sie, doch im selben Augenblick ging die Tür ein paar Zentimeter auf, und ein ziegenbockähnliches Männergesicht blickte sie höchst misstrauisch an. Er sagte etwas auf deutsch zu dem ihm näher stehenden Polizisten, und Charlie hörte das Wort Amerikanerin in seiner Antwort.

»Nein, ich bin keine Amerikanerin«, erwiderte sie, jetzt beinahe den Tränen nahe. »Ich bin Imogen Baastrup aus Südafrika und bringe Professor Minkel seine Aktentasche. Er hat sie verloren. Würden Sie bitte so freundlich sein und sie ihm sofort bringen? Ich bin überzeugt, er ist verzweifelt auf sie angewiesen. Please

Die Tür ging weit genug auf, um auch noch den Rest von ihm zu zeigen: ein korpulenter, bürgermeisterlich aussehender Mann von sechzig oder mehr Jahren in einem schwarzen Anzug. Er war sehr blass, und für Charlies heimliches Auge hatte auch er Angst.

»Sir, do you speak English, please? Do you?«

Er sprach nicht nur Englisch, er hatte sogar Eide darin geschworen. Denn er sagte: »I do«, so feierlich, dass er sich für den Rest seines Lebens deshalb nichts würde vormachen können. »Würden Sie dies dann Professor Minkel mit den besten Empfehlungen von Imogen Baastrup übergeben und ihm sagen, es täte ihr leid, aber das Hotel habe die Sachen blöderweise vertauscht, und dass ich mich sehr darauf freute, ihn heute abend zu hören…« Sie hielt die Aktenmappe hin, doch der bürgermeisterliche Mensch weigerte sich, sie anzunehmen. Er sah den Polizisten hinter ihr an und schien irgendeine undeutliche Zusicherung von ihm zu empfangen; er blickte wieder auf die Aktentasche, dann auf Charlie.