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»Wenn Sie mir bitte folgen wollen«, sagte er wie ein Butler auf der Bühne, der seine zehn Pfund pro Abend verdient, und trat beiseite, um sie einzulassen.

Sie erschrak. Das stand nicht im Text. Weder in Khalils noch in Helgas, noch in sonst jemandes. Was passierte, wenn Minkel die Tasche vor ihren Augen aufschloss?

»Oh, das geht nicht. Ich muss zu meinem Platz im Auditorium. Ich habe noch keine Eintrittskarte. Bitte

Doch der bürgermeisterliche Mann hatte auch seine Befehle und seine Ängste, denn als sie die Aktenmappe auf ihn zuschob, zuckte er davor zurück, als wäre es das höllische Feuer. Die Tür ging zu, sie standen auf einem Korridor mit isolierten Röhren an der Decke. Sie erinnerten sie kurz an die Röhren an der Decke im Olympischen Dorf. Ihr widerstrebender Begleiter ging vor ihr her. Sie roch Öl und hörte das gedämpfte Wummern eines Brenners; sie spürte eine Hitzewelle im Gesicht und dachte daran, ohnmächtig zu werden oder sich zu übergeben. Der Griff der Aktentasche schwitzte Blut aus, sie fühlte, wie ihr der warme Schleim zwischen den Fingern hindurchrann. Sie erreichten eine Tür, auf der stand Vorstand. Der bürgermeisterliche Mann klopfte an und rief: »Oberhauser! Schnell!« Und während er das tat, warf sie einen verzweifelten Blick hinter sich und sah zwei blonde Jungen in Lederjacken auf dem Korridor hinter ihr. Sie trugen Maschinenpistolen. Himmelherrgott, was ist das? Die Tür ging auf, Oberhauser trat als erster ein und rasch zur Seite, als wollte er nichts mit ihr zu tun haben. Sie stand zwischen den Filmkulissen für Das Ende einer Reise, und die Hinterbühne war mit Sandsäcken geschützt; große Ballen Füllmaterial schützten die Decke und wurden von Maschendraht festgehalten. Sandsackwälle bildeten von der Tür an einen Zickzackgang. In der Bühnenmitte stand ein niedriger Tisch und darauf ein Tablett mit Getränken. Daneben, auf einem niedrigen Sessel, saß Minkel wie eine Wachsfigur und starrte sie direkt an. Ihm gegenüber seine Frau und neben ihm eine pummelige Deutsche mit Pelzstola - wohl die Frau von Oberhauser, wie Charlie annahm.

So viel zu den Hauptpersonen; in den Kulissen drängte sich zwischen den Sandsäcken in zwei deutlich getrennte Gruppen aufgeteilt der Rest der Einheit; ihre Sprecher standen Schulter an Schulter in der Mitte. Die Heimmannschaft wurde von Kurtz angeführt; zu seiner Linken stand ein geiler Mann mittleren Alters mit schwachem Gesicht - wie Charlie Alexis rasch und verächtlich einschätzte. Neben Alexis standen seine Häscher, die ihr die feindseligen Gesichter zugewandt hatten. Ihnen gegenüber einige Angehörige der Familie, die sie bereits kannte, dazu Fremde, und ihre dunklen jüdischen Gesichter im Gegensatz zu ihren deutschen Gegenstücken war einer jener Eindrücke, die ihr als dramatische Situation in Erinnerung bleiben sollten, solange sie lebte. Kurtz, der Zirkusdirektor, hatte den Finger an die Lippen gelegt und die linke Hand erhoben, um einen Blick auf die Uhr zu werfen.

Sie wollte schon sagen: »Wo ist er?«, doch dann, mit einem Aufwallen von Freude und Zorn, sah sie ihn wie immer abseits von den anderen stehen, der sorgenbeladene einsame Regisseur bei der Premiere. Lebhaft kam er auf sie zu, stellte sich ein wenig seitlich von ihr hin und ließ ihr einen Weg zu Minkel frei. »Sag ihm deinen Text, Charlie«, wies er sie ruhig an. »Sag, was du sagen würdest, und tu so, als ob alle, die nicht am Tisch sitzen, nicht da wären« - und alles, was sie brauchte, war das Klack der Klappe vor ihrem Gesicht.

Seine Hand kam ihrer nahe, sie spürte, wie die Härchen ihre Haut berührten. Sie wollte sagen: »Ich liebe dich - wie geht es dir?« doch es galt, einen anderen Text zu sprechen, und so holte sie tief Atem und sagte ihn stattdessen auf, denn das war schließlich die Basis ihrer Beziehung. »Herr Professor, es ist etwas Furchtbares passiert«, begann sie, und ihre Worte überstürzten sich fast. »Die dummen Leute im Hotel haben Ihre Aktenmappe mit meinem Gepäck in mein Zimmer hinaufgeschafft. Sie haben wohl gesehen, wie ich mit Ihnen sprach, nehme ich an, und da war mein Gepäck, und da war Ihr Gepäck, und irgendwie hat dieser dumme Junge wohl gedacht, es sei meine Aktentasche…« Sie wandte sich Joseph zu , um ihm zu verstehen zu geben, dass sie jetzt nicht weiterwisse. »Gib dem Professor die Aktenmappe«, befahl er. Minkel stand auf. Er sah hölzern aus und schien in Gedanken ganz woanders, wie jemand, der eine lange Haftstrafe verkündet bekommt. Frau Minkel bemühte sich betont zu lächeln. Charlies Knie waren wie gelähmt, doch da sie Josephs Hand am Ellbogen spürte, schaffte sie es, vorzuwanken, ihm die Tasche hinzuhalten und noch ein paar Verse zu sagen.

»Nur hab’ ich sie erst vor einer halben Stunde entdeckt. Sie hatten sie nämlich in meinen Schrank gestellt, und meine Kleider hingen alle darüber. Aber als ich sie dann sah und die Karte daran las, bin ich fast wahnsinnig geworden…«

Minkel hätte die Tasche auch entgegengenommen, doch gerade als sie sie ihm übergab, zauberten andere Hände sie in einen großen schwarzen Kasten hinein, der auf der Erde stand und aus dem sich dicke Kabel schlängelten. Plötzlich schienen sie alle Angst vor ihr zu haben und kauerten sich hinter die Sandsäcke. Josephs starke Arme zogen sie hinter ihnen her, seine Hand drückte ihr Gesicht nach unten, bis sie auf ihre eigene Taille blickte. Doch vorher sah sie noch einen Tiefseetaucher in einem schweren Bombenanzug auf die Kiste zuwatscheln. Er trug einen Helm mit einer Sichtscheibe aus dickem Panzerglas und darunter eine Mundmaske wie ein Chirurg, damit das Glas von innen nicht beschlug. Ein gedämpfter Befehl gebot Ruhe; Joseph hatte sie an sich gezogen und erdrückte sie fast mit seinem Körper. Ein weiterer Befehl signalisierte allgemeines Aufatmen; Köpfe tauchten wieder auf, doch er hielt sie immer noch nach unten gedrückt. Sie hörte das Geräusch von Schritten, die sich in ordentlicher Eile entfernten, und als er sie endlich freigab, sah sie, wie Litvak mit etwas vorwärts stürmte, das offensichtlich seine eigene Bombe war, eine sehr viel eindeutigere Angelegenheit als die von Khalil, mit heraushängenden Drähten, die noch nicht angeschlossen waren. Mit Entschiedenheit führte Joseph sie inzwischen wieder zurück in die Mitte des Raums.

»Fahr mit deinen Erklärungen fort«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Du warst gerade dabei zu beschreiben, wie du den Anhänger gelesen hast. Von da aus weiter. Was hast du getan?« Tief Luft holen. Weiter im Text.

»Als ich dann an der Rezeption nachfragte, sagte man mir, Sie wären für den Abend ausgegangen, Sie hielten diesen Vortrag in der Universität, und da bin ich einfach in ein Taxi gesprungen - ich meine, ich weiß nicht, ob Sie mir verzeihen können. Hören Sie, ich muss los. Viel Glück, Herr Professor. Und viel Erfolg bei Ihrem Vortrag.«

Auf ein Nicken von Kurtz hin hatte Minkel einen Schlüsselbund aus der Tasche geholt und tat so, als wählte er einen ganz bestimmten Schlüssel aus, dabei hatte er gar keine Aktenmappe, mit der er hätte spielen können. Doch Charlie war unter Josephs drängender Leitung bereits auf dem Weg zur Tür; halb ging sie, halb trug er sie mit dem Arm, den er ihr um die Hüfte gelegt hatte. Ich tu’s nicht, Jose, ich kann es nicht. Ich hab’ all meinen Mut verbraucht, so wie du es gesagt hast. Lass mich jetzt nicht gehen, Jose, bitte nicht. Hinter ihr hörte sie gedämpfte Befehle und das Geräusch hastiger Schritte, als alle den Rückzug anzutreten schienen.