»Zwei Minuten«, rief Kurtz warnend hinter ihnen her. Sie waren wieder draußen auf dem Korridor bei den beiden blonden Jungen mit den Maschinenpistolen.
»Wo bist du mit ihm zusammengetroffen?« fragte Joseph mit leiser, eiliger Stimme.
»In einem Hotel Eden. Eine Art Puff am Rande der Stadt. Neben einer Drogerie. Er hat einen roten Coca-Cola-Wagen. FR Strich BT was weiß ich, fünf. Und einen Ford-Caravan. Nur, die Nummer hab’ ich nicht mitgekriegt.«
»Mach deine Tasche auf.« Sie tat es. Schnell, so wie er sprach. Er nahm ihren kleinen Radiowecker heraus und vertauschte ihn gegen einen genauso aussehenden, den er aus seiner Tasche holte.
»Es ist nicht derselbe Trick wie bei dem anderen«, warnte er sie rasch. »Er empfängt nur auf einem Sender. Er gibt auch noch die Zeit an, nur wecken kann er nicht. Dafür hat er einen Sender, der uns verrät, wo du bist.« »Wann?« fragte sie verständnislos.
»Was sollst du nach Khalils Befehlen jetzt machen?« »Ich soll die Straße runtergehen, immer weiter - Jose, wann kommst du? - um Himmels willen!«
Sein Gesicht zeigte einen verhärmten und verzweifelten Ernst, doch keine Zugeständnisse.
»Hör zu, Charlie. Hörst du zu?«
»Ja, Jose, ich höre.«
»Wenn du auf den Lautstärkeregler an deinem Radiowecker drückst - nicht drehen, sondern drücken -, wissen wir, dass er schläft. Verstehst du?«
»Er wird aber nicht einfach so schlafen.«
»Was soll das heißen? Wieso weißt du, wie er schläft?«
»Er ist wie du, nicht so wie die anderen, er ist Tag und Nacht wach. Er ist... Jose, ich kann nicht zurück. Bitte, zwing mich nicht.« Flehentlich sah sie ihm ins Gesicht, wartete immer noch darauf, dass er nachgab, doch sein Gesicht hatte sich ihr völlig verschlossen.
»Er will, dass ich mit ihm schlafe, Himmelherrgott! Er will eine Hochzeitsnacht, Jose! Rührt sich da bei dir nichts? Er fängt dort mit mir an, wo Michel aufgehört hat. Er hat ihn nicht gemocht. Er will mit ihm abrechnen. Muss ich immer noch gehen?« Sie klammerte sich so ungestüm an ihn, dass er Schwierigkeiten hatte, ihren Griff zu lösen. Den Kopf gesenkt und gegen seine Brust gedrückt, stand sie da, wollte, dass er sie wieder beschützte. Statt dessen schob er ihr die Hände unter die Arme und richtete sie auf; wieder sah sie sein Gesicht, völlig verschlossen, das ihr sagte, Liebe sei nichts für sie beide. Weder für sie noch für ihn und schon gar nicht für Khalil. Er brachte sie auf den Weg, sie schüttelte ihn ab und ging allein. Er machte noch einen Schritt hinter ihr her, blieb dann jedoch stehen. Sie blickte zurück und hasste ihn; sie machte die Augen zu und wieder auf und stieß einen tiefen Seufzer aus.
Ich bin tot.
Sie trat hinaus auf die Straße, reckte sich und marschierte flott wie ein Soldat und genauso blind eine schmale Straße hinunter, an einem schäbigen Nachtklub vorüber, der beleuchtete Bilder von Mädchen um die Dreißig mit wenig beeindruckenden Brüsten zur Schau stellte. Das sollte ich tun, dachte sie. Sie erreichte eine Hauptstraße, erinnerte sich an das, was sie als Fußgängerin gelernt hatte, blickte nach links und sah einen mittelalterlichen Torturm und geschmackvoll darauf einen Schriftzug für McDonald’s Hamburger. Die Ampel wurde für sie grün, sie ging weiter und sah hohe schwarze Berge, die das Ende der Straße versperrten, und dahinter einen blassen, wolkenverhangenen Himmel, an dem es unruhig zuckte. Sie blickte sich um und sah, dass der Münsterturm ihr folgte.
Sie bog nach rechts ab und ging so langsam wie nie zuvor in ihrem Leben eine dicht belaubte Straße mit herrschaftlichen Villen hinunter. Jetzt zählte sie für sich selbst. Zahlen. Jetzt sagte sie Verse auf. Jose geht in die Stadt. Jetzt dachte sie wieder daran, was im Vorlesungsgebäude geschehen war, doch ohne Kurtz, ohne Joseph und ohne die mörderischen Techniker von zwei unversöhnlichen Parteien. Vor ihr schob Rossino schweigend sein Motorrad aus einer Toreinfahrt heraus. Sie ging auf ihn zu, er reichte ihr einen Helm und eine Lederjacke, und als sie anfing, sich anzuziehen, bewog sie irgend etwas, sich umzudrehen und in die Richtung zurückzublicken, aus der sie kam. Sie sah ein träges orangefarbenes Aufglühen über die feuchten Pflastersteine auf sich zukommen wie den Strahl der untergehenden Sonne und stellte fest, wie lange der Eindruck davon im Auge blieb, nachdem es schon längst verschwunden war. Dann endlich hörte sie den Laut, den sie völlig benommen erwartet hatte: einen fernen, zugleich vertrauten dumpfen Ton, als ob tief in ihr etwas gerissen wäre, das nicht mehr zusammenzunähen war; das genaue und bleibende Ende der Liebe. Hm, Joseph, ja. Leb wohl!
Genau im selben Augenblick sprang Rossinos Maschine an und zerriss mit ihrem röhrenden, triumphierenden Gelächter die feuchte Nacht. Ich auch, dachte sie. Das ist der komischste Tag in meinem ganzen Leben.
Rossino fuhr langsam, hielt sich an kleine Straßen und folgte einer sorgsam ausgeklügelten Route.
Du fährst, ich folge. Vielleicht ist es an der Zeit, dass ich Italienerin werde.
Ein warmer Sprühregen hatte den größten Teil des Schnees wegschmelzen lassen, doch er fuhr vorsichtig mit Rücksicht auf die schlechte Beschaffenheit der Straße und auf seine wichtige Beifahrerin. Er schrie ihr etwas Freudiges zu und schien sich großartig zu amüsieren, doch sie war nicht daran interessiert, seine gute Laune zu teilen. Sie fuhren durch ein großes Tor hindurch, und sie rief: »Ist es hier?« Dabei hatte sie keine Ahnung, und es war ihr auch egal, was sie mit ›hier‹ gemeint haben könnte, aber das Tor führte zu einer ungeräumten Straße über Berge und Täler eines Privatwaldes, und sie durchquerten diese allein unter einem hüpfenden Mond, der doch sonst Josephs Privateigentum gewesen war. Sie blickte in die Tiefe und sah ein schlafendes Dorf, das in ein weißes Tuch gehüllt war; sie roch griechische Fichten und spürte, wie der Wind ihr die Tränen aus dem Gesicht blies. Sie hielt Rossinos zitternden, ihr fremden Körper an sich gedrückt und sagte zu ihm: Bediene dich, es ist nichts übrig geblieben.
Sie fuhren einen letzten Hügel hinunter, kamen zu einem anderen Tor hinaus und gelangten auf eine Straße, an der links und rechts nackte Lärchen wie die Bäume bei Familienferien in Frankreich standen. Wieder ging es bergauf, und als sie die Kuppe erreicht hatten, stellte Rossino den Motor ab und wollte einen Fußpfad hinunter, der in den Wald führte. Er machte eine Satteltasche auf und zog ein Bündel Kleider und eine Handtasche hervor und warf ihr alles zu. Er hielt eine Taschenlampe, in deren Lichtstrahl er sie beobachtete, während sie sich umzog, und einen Augenblick lang stand sie halbnackt vor ihm.
Wenn du mich willst, dann nimm mich: ich bin nicht gebunden und bin zu haben.
Sie war ohne Liebe und für sich ohne Wert. Sie war wieder dort, wo sie angefangen hatte, und die ganze Scheißwelt konnte sie vögeln. Sie schüttete ihre Siebensachen von einer Tasche in die andere, Puderdose, Tampons, ein paar Münzen, ihr Päckchen Marlboros. Und ihren billigen Radiowecker für die Proben - drück auf den Lautstärkeregler, Charlie, hörst du! Rossino nahm ihren alten Paß und gab ihr einen neuen, doch sie machte sich nicht einmal die Mühe herauszufinden, was für eine Staatsangehörigkeit sie jetzt hatte.
Bürgerin von Nirgendwo, geboren gestern.
Er sammelte ihre alten Kleider ein und stopfte sie zusammen mit ihrer alten Schultertasche und der Brille in die Satteltasche. Warte hier, aber blick auf die Straße, sagte er. Er wird zweimal mit einem roten Licht blinken. Er war kaum fünf Minuten fort, da sah sie es durch die Bäume blinken. Hurra, endlich ein Freund.
Kapitel 26
Khalil nahm ihren Arm und trug sie fast zu dem blitzenden neuen Wagen, denn sie weinte und zitterte so sehr am ganzen Körper, dass sie kaum laufen konnte. Nach der bescheidenen Kleidung eines Lastwagenfahrers schien er sich als unerschütterlicher deutscher Manager verkleidet zu haben: weicher schwarzer Mantel, Hemd und Krawatte, gepflegt zurückgekämmtes schwarzes Haar. Er machte ihren Wagenschlag auf, zog den Mantel aus und legte ihn fürsorglich um sie, als wäre sie ein krankes Tier. Sie hatte keine Ahnung, wie sie seiner Meinung nach sein sollte, doch ihr Zustand schien ihn nicht so sehr zu schockieren, sondern ihm eher Respekt abzuverlangen. Der Motor lief bereits. Er drehte die Heizung voll auf.