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»Michel wäre stolz auf dich«, sagte er freundlich und betrachtete sie einen Moment im Innenlicht. Sie wollte etwas sagen, brach aber wieder in Weinen aus. Er reichte ihr ein Taschentuch; sie hielt es in beiden Händen, drehte es sich um die Finger, und die Tränen rannen und rannen. Sie fuhren den bewaldeten Hang hinunter. »Was ist geschehen?« fragte sie im Flüsterton. »Du hast einen großen Sieg für uns errungen. Minkel starb beim Öffnen der Aktentasche. Wie es heißt, sollen andere Freunde des Zionismus schwer verwundet sein. Sie zählen noch.« Er sagte es mit wilder Genugtuung. »Sie sprechen von einer Ungeheuerlichkeit. Von Schock. Kaltblütigem Mord. Sie sollten sich eines Tages mal Rashidiyeh ansehen. Ich lade die ganze Universität ein. Sie sollten in den Bunkern hocken und beim Rauskommen mit dem Maschinengewehr niedergemäht werden. Man sollte ihnen die Knochen im Leib zerbrechen und sie zusehen lassen, wie ihre Kinder gefoltert werden. Morgen wird die ganze Welt lesen, dass die Palästinenser nicht die armen Schwarzen von Zion werden.«

Die Heizung war stark, aber immer noch nicht stark genug. Sie zog seinen Mantel enger um sich. Die Revers waren aus Samt, und sie roch, wie neu er war.

»Möchtest du mir erzählen, wie es gegangen ist?« fragte er. Sie schüttelte den Kopf. Die Sitze waren kuschelig und weich, der Motor summte leise. Sie lauschte auf das Geräusch anderer Autos, hörte jedoch nichts. Sie blickte in den Spiegel. Nichts hinter ihnen, nichts vor ihnen. Wann denn endlich wieder? Sie fing Khalils dunklen Blick auf, er starrte sie an.

»Keine Angst. Wir kümmern uns um dich. Das verspreche ich. Ich bin froh, dass du traurig bist. Andere, die haben gelacht und triumphiert, nachdem sie getötet hatten. Haben sich betrunken und sich die Kleider zerrissen wie die Tiere. All das habe ich erlebt. Aber du - du weinst. Das ist sehr gut.« Das Haus lag an einem See, und der See in einem steil abfallenden Tal. Khalil fuhr zweimal vorüber, ehe er in die Einfahrt einbog, und seine Augen, die die Straße absuchten, waren wie Josephs Augen: dunkel, wachsam, alles sehend. Es war ein moderner Bungalow, der zweite Wohnsitz eines reichen Mannes: weißgeschlämmte Mauern, maurische Fenster und ein sanft geneigtes Dach - rot dort, wo der Schnee heruntergerutscht war. Die Garage war ans Wohnhaus angebaut. Er fuhr hinein, und die Türen schlossen sich. Er stellte den Motor ab und zog eine automatische Pistole mit langem Lauf aus der Jackentasche. Khalil, der einhändige Schütze. Sie blieb im Auto, starrte auf die Rodelschlitten und das Feuerholz, das an der Rückwand aufgestapelt war. Er machte ihr den Wagenschlag auf. »Geh hinter mir her. Drei Meter Abstand, nicht näher.« Eine Stahltür führte auf einen Gang. Sie wartete, folgte ihm dann. Die Wohnzimmerlampen waren schon an, Holzscheite brannten auf dem Kaminrost. Ein mit Ponyfell bespanntes Sofa. Die Einrichtung rustikal, doch elegant. Ein Tisch mit dicker Holzplatte, für zwei gedeckt. In einem Eiskübel auf schmiedeeisernem Ständer eine Flasche Wodka.

»Bleib hier«, sagte er.

Die Handtasche mit beiden Händen gepackt, stand sie in der Mitte des Raums, während er von Zimmer zu Zimmer ging, und zwar so leise, dass das einzige, was sie hörte, das Offnen und Schließen von Schränken war. Sie begann wieder heftig zu zittern. Er kehrte ins Wohnzimmer zurück, legte die Pistole weg, kniete sich vorm Kamin hin und machte sich daran, die Scheite so aufzubauen, dass das Feuer hell loderte. Um die Raubtiere fernzuhalten, dachte sie, als sie ihm zusah. Und die Schafe zu schützen. Das Feuer prasselte, und sie setzte sich auf das Sofa davor. Er drehte den Fernseher an: Es gab einen alten Schwarzweißfilm vom Wirtshaus auf dem Berg. Den Ton drehte er nicht an. Er stellte sich vor sie.

»Möchtest du einen Wodka?« fragte er höflich. »Ich trinke nicht, aber du sollst dir keinen Zwang antun.«

Sie wollte einen haben, und so schenkte er ihr ein, viel zuviel. »Möchtest du rauchen?«

Er reichte ihr ein ledernes Etui und zündete ihr die Zigarette an. Es wurde heller im Zimmer; flugs wanderte ihr Blick zum Fernseher und starrte geradewegs in die aufgeregten, äußerst ausdrucksvollen Züge des wieselhaften kleinen Deutschen, den sie vor noch nicht einer Stunde an Martys Seite gesehen hatte. Er war neben einem Polizeiwagen postiert. Hinter ihm konnte sie ein Stück Trottoir und den Seiteneingang des Vorlesungsgebäudes sehen, beides war mit fluoreszierendem Band abgesperrt. Mannschaftswagen der Polizei, Feuerwehrautos und Krankenwagen fuhren geschäftig in den abgesperrten Bereich hinein und wieder heraus. Terror ist Theater, dachte sie. Der Hintergrund änderte sich, eine grüne Zeltplane, die aufgespannt war, um das Wetter abzuhalten, während die Suche weiterging. Khalil drehte den Ton auf, und sie hörte das Heulen der Krankenwagen hinter der glatten, schönmodulierten Stimme von Alexis.

»Was sagt er?« fragte sie.

»Er leitet die Untersuchung. Warte. Ich sage es dir gleich!«

Alexis verschwand, statt dessen eine Studioaufnahme des völlig unversehrten Oberhausers.

»Das ist der Trottel, der mir die Tür aufgemacht hat«, sagte sie. Khalil hob die Hand und gebot ihr damit Schweigen. Sie hörte zu und begriff mit einer unbeteiligten Neugier, dass er eine Personenbeschreibung von ihr abgab. Sie bekam das Wort Südafrika mit, verstand etwas von braunem Haar; sah, wie er die Hand hob, um ihre Brille zu beschreiben; die Kamera schwenkte zu einem zitternden Finger, der auf eine ähnliche Brille zeigte wie die, die Tayeh ihr gegeben hatte.

Nach Oberhauser kam der erste Eindruck eines Zeichners von der Verdächtigen, die so aussah wie kein Mensch auf Erden, höchstens wie die alte Reklame für ein flüssiges Abführmittel, die vor zehn Jahren groß auf Bahnhöfen plakatiert worden war. Danach kam einer der beiden Polizeibeamten, die mit ihr gesprochen hatten; auch er gab verschämt seine Beschreibung der Täterin ab. Khalil schaltete den Apparat ab, drehte sich um und stand wieder vor ihr.

»Du erlaubst?« fragte er scheu. Sie nahm ihre Handtasche und legte sie auf die andere Seite, damit er sich hinsetzen konnte. Summte es? Oder piepste es? War es ein Mikrophon? Was zum Teufel machte es?

Khalil sprach sehr deutlich - der erfahrene Praktiker, der seine Diagnose stellt.

»Du bist ein bisschen in Gefahr«, sagte er. »Mr. Oberhauser erinnert sich an dich, seine Frau auch, und die Polizisten und ein paar Leute im Hotel. Deine Größe, deine Figur, dein Englisch, dein schauspielerisches Talent. Außerdem war da leider eine Engländerin, die einen Teil deiner Unterhaltung mit Minkel mit angehört hat und meinte, du seiest keineswegs Südafrikanerin, sondern Engländerin. Deine Personenbeschreibung ist nach London gegangen, und wir wissen, dass die Engländer dich bereits seit längerem in Verdacht haben. Die ganze Gegend hier ist in höchster Alarmbereitschaft: Straßensperren, Stichproben, alle treten sich gegenseitig auf die Füße. Aber mach dir keine Sorgen.« Er nahm ihre Hand und hielt sie fest. »Ich werde dich mit meinem Leben beschützen. Heute nacht sind wir sicher. Morgen werden wir dich nach Berlin schmuggeln und nach Hause schicken.«

»Nach Hause«, sagte sie.

»Du bist eine von uns. Du bist unsere Schwester. Fatmeh sagt, du bist unsere Schwester. Du hast kein Zuhause, aber du gehörst zu einer großen Familie. Wir können dir eine neue Identität verschaffen, oder du gehst zu Fatmeh und bleibst bei ihr, solange du willst. Obwohl du nie wieder kämpfst, werden wir uns um dich kümmern. Wegen Michel. Wegen dem, was du für uns getan hast.«

Seine Redlichkeit war erschreckend. Ihre Hand ruhte noch in der seinen, seine Berührung war kraftvoll und beruhigend. Seine Augen leuchteten vor Besitzerstolz auf. Sie stand auf, nahm ihre Tasche und verließ das Zimmer. Ein Doppelbett, der Heizofen voll aufgedreht, egal, was es kostet. Ein Bücherbord mit Bestsellern von Nirgendwo: Ich bin okay, du bist okay. Freude am Sex. Das Bad lag dahinter: fichtenholzgetäfelt, Sauna nebenan. Sie nahm den Radiowecker heraus und betrachtete ihn, und es war ihr alter, bis auf den letzten Kratzer: höchstens ein bisschen schwerer, gewichtiger in der Hand. Warte, bis er schläft. Bis ich schlafe. Sie sah sich an. So schlecht hatte der Zeichner sie gar nicht mal getroffen. Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land. Erst schrubbte sie sich Hände und Nägel, dann - einer Regung des Augenblicks nachgebend - zog sie sich ganz aus und duschte lange, wie um sich der Wärme des Vertrauens noch ein wenig länger zu entziehen. Sie sprühte sich mit Körperlotion ein, bediente sich aus dem Spiegelschrank über dem Waschbecken. Ihre Augen interessierten sie; sie erinnerten sie an Fatima, die Schwedin im Ausbildungslager - sie hatten beide dieselbe zornige innere Leere derer, die gelernt hatten, auf die Risiken des Mitleids zu verzichten. Genau der gleiche Selbsthass. Als sie zurückkehrte, war er dabei, das Essen aufzutragen. Kalter Braten, Käse, eine Flasche Wein. Kerzen waren bereits angezündet. Im besten europäischen Stil zog er den Stuhl für sie zurück. Sie nahm Platz; er setzte sich ihr gegenüber und fing sofort an zu essen - mit derselben natürlichen Hingabe, mit der er alles tat. Er hatte getötet, und jetzt aß er; was könnte richtiger sein? Meine verrückteste Mahlzeit, dachte sie. Die schlimmste und verrückteste, die ich je erlebt habe. Wenn jetzt ein Geiger an unseren Tisch käme, würde ich ihn bitten, Moon River zu spielen.