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»Wie kam es dazu?« wollte sie wissen. »Waren es Mäuse? Wie kam es dazu, Khalil? Wach auf!« Es dauerte lange, ehe er antwortete. »Eines Tage, in Beirut, war ich wie Salim ein bisschen dumm. Ich sitze im Büro, die Post kommt, ich hab’s eilig, ich erwarte ein bestimmtes Paket, ich mach’s auf. Das war ein Fehler.«

»Ja, und? Was ist passiert? Du hast es aufgemacht, und das Ding explodierte. War es so? Explodierte, und die Finger waren futsch. Ist das bei deinem Gesicht auch so gewesen?«

»Als ich im Krankenhaus wieder zu mir kam, war Salim da. Weißt du was? Er hat sich darüber gefreut, dass ich so dumm gewesen war. ›Ehe du das nächste Mal ein Paket aufmachst, zeig es mir, oder guck dir erst den Poststempel an‹ , sagte er. ›Wenn es aus Tel Aviv kommt, schick’s besser zurück an den Absender‹.«

»Warum bastelst du denn deine Bomben selbst? Wo du doch nur eine Hand hast?«

Die Antwort lag in seinem Schweigen. In der dämmerigen Stille seines Gesichts, wie er es ihr mit offenem, alles andere als lächelndem Kämpferblick zugewandt hatte. Die Antwort lag in allem, was sie seit jener Nacht gesehen, da sie sich dem Theater der Wirklichkeit verschrieben hatte. Für Palästina, lautete sie. Für Israel, für Gott. Für mein heiliges Schicksal. Um den Hunden anzutun, was sie mir zuvor angetan haben. Um das Unrecht wiedergutzumachen. Mit Unrecht. Bis alle Gerechten in tausend Stücke zerrissen sind und es der Gerechtigkeit freisteht, sich aus den Trümmern zu erheben und durch die menschenleeren Straßen zu gehen. Plötzlich verlangte er nach ihr und erwartete, dass sie sich ihm nicht länger widersetzte.

»Liebling«, flüsterte sie. »Khalil. Oh, Himmel. Oh, Liebling. Bitte!«

Und was Huren sonst so sagen.

Es wurde bereits Tag, doch sie wollte ihn nicht schlafen lassen. Im bleichen Frühlicht erfasste sie eine wache Benommenheit. Küsse und Liebkosungen - sie setzte jedes ihr bekannte Mittel ein, damit er sich nicht von ihr abwandte und seine Leidenschaft weiterbrannte. Du bist mein Bester, flüsterte sie ihm zu; dabei vergebe ich nie erste Preise. Mein stärkster, mein mutigster, mein klügster Liebhaber aller Zeiten. Ach, Khalil, Khalil, Himmel, ach, bitte! Besser als Salim? fragte er. Geduldiger als Salim, zärtlicher und dankbarer. Besser als Joseph, der mich dir auf silbernem Teller geschickt hat.

»Was ist denn?« sagte sie, als er sich plötzlich von ihr losmachte. »Hab’ ich dir weh getan?«

Statt einer Antwort streckte er die heile Hand aus und drückte ihr mit gebieterischer Geste leicht die Lippen zusammen. Dann richtete er sich vorsichtig auf dem Ellbogen auf. Sie lauschte zusammen mit ihm. Das Rauschen eines Wasservogels, der vom See auffliegt. Das Geschrei von Gänsen. Das Krähen eines stolzen Hahns, das Geläut einer Glocke. Die Entfernung verkürzt durch das unter einer Schneedecke liegende Land. Sie spürte, wie die Matratze neben ihr sich hob.

»Keine Kühe«, sagte er leise vom Fenster her. Immer noch nackt, aber die Pistole am Halfter über der Schulter, stand er seitlich neben dem Fenster. Und für den Bruchteil einer Sekunde meinte sie in der übergroßen Anspannung Josephs Spiegelbild zu sehen, der ihm - vom elektrischen Feuer rot angestrahlt und nur durch den dünnen Vorhang von ihm getrennt - gegenüberstand.

»Was siehst du?« flüsterte sie endlich, unfähig, die Spannung noch länger zu ertragen.

»Keine Kühe. Und keine Fischer. Und keine Fahrräder. Ich sehe viel zuwenig.«

Seine Stimme war straff vor Tatendrang. Seine Sachen lagen neben dem Bett, wo sie sie in ihrer Raserei hingeworfen hatte. Er streifte die dunkle Hose und das weiße Hemd über und schnallte sich die Pistole unter die Achsel.

»Keine Autos, keine Lichter, die vorüberhuschen«, sagte er gelassen. »Kein einziger Arbeiter auf dem Weg zur Arbeit. Und keine Kühe.«

»Die sind zum Melken.« Er schüttelte den Kopf. »Zum Melken gehen sie erst in zwei Stunden.«

»Es liegt am Schnee. Sie halten sie im Stall.«

Etwas an ihrer Stimme ließ ihn aufhorchen; dass er plötzlich hellwach war, schärfte sein Bewusstsein ihr gegenüber. »Warum entschuldigst du sie?«

»Tu’ ich doch gar nicht. Ich versuch’ dich nur….«

»Warum suchst du nach Entschuldigungen für das Fehlen jeglichen Lebens um dieses Haus herum?«

»Um deine Angst zu beschwichtigen. Um dich zu beruhigen.« Ein Gedanke wurde immer mächtiger in ihm - ein schrecklicher Gedanke. Er konnte ihn in ihrem Gesicht lesen, und in ihrer Nacktheit; und sie spürte ihrerseits, wie sein Argwohn lebendig wurde.

»Warum willst du meine Angst beschwichtigen? Warum hast du um mich mehr Angst als um dich?« »Hab’ ich ja gar nicht.«

»Hinter dir sind sie doch her. Warum kannst du mich so lieben? Warum redest du davon, meine Angst zu beschwichtigen? Warum denkst du nicht an deine eigene Sicherheit? Was hast du auf dem Gewissen?«

»Nichts. Es hat mir keinen Spaß gemacht, Minkel zu töten. Ich will raus aus der ganzen Sache. Khalil?«

»Hat Tayeh doch recht? Ist mein Bruder deinetwegen gestorben? Antworte mir, bitte!« Er ließ nicht locker, blieb aber ganz, ganz ruhig. »Ich will eine Antwort.«

Ihr ganzer Körper flehte um Gnade. Die Hitze in ihrem Gesicht war schrecklich. Sie würde für alle Ewigkeit brennen.

»Khalil - komm wieder ins Bett«, flüsterte sie. »Lieb mich! Komm zurück!«

Warum blieb er so gelassen, wenn sie das ganze Haus umstellt hatten? Wie brachte er es fertig, sie so anzustarren, während sich die Schlinge um ihn jede Sekunde enger zusammenzog? »Wie spät ist es?« fragte er und starrte sie immer noch an.

»Charlie?«

»Fünf. Halb sechs. Was spielt das für eine Rolle?«

»Wo ist deine Uhr? Dein kleiner Radiowecker? Ich muss wissen, wie spät es ist, bitte!«

»Ich weiß nicht. Im Badezimmer.«

»Bleib, wo du bist, bitte. Sonst töte ich dich vielleicht. Wir werden sehen.«

Er holte ihn und reichte ihn ihr auf dem Bett. »Mach ihn bitte für mich auf«, sagte er und sah zu, als sie sich mit dem Verschluss abmühte.

»Also wie spät ist es, bitte, Charlie?« fragte er wieder mit einer schrecklichen Unbeschwertheit. »Bitte, sag mir, wie spät es nach deiner Uhr genau ist.«

»Zehn vor sechs. Später, als ich dachte.«

Er entriss ihr den Wecker und sah selbst auf das Zifferblatt. Digital, vierundzwanzig Stunden. Er drehte das Radio an, das plärrende Musik von sich gab, ehe er es wieder abstellte. Er hielt es ans Ohr und wog es dann nachdenklich in der Hand. »Seit du mich gestern abend verlassen hast, hattest du nicht viel Zeit für dich, denke ich. Stimmt das? Eigentlich überhaupt keine.«

»Keine.«

»Wie hast du dann neue Batterien für das Radio kaufen können?«

»Hab’ ich ja gar nicht.«

»Und wieso funktioniert es dann?«

»Das brauchte ich gar nicht - sie waren ja noch nicht alle - es geht jahrelang mit einem Satz - es gibt heute besonders langlebige...« Ihr fiel nichts mehr ein. Aus und vorbei, für alle Zeiten, jetzt und immerdar; denn inzwischen war ihr der Augenblick oben auf dem Berg wieder eingefallen, als er neben dem Coca-Cola-Wagen gestanden hatte, um sie zu durchsuchen; und der Augenblick, da er die Batterien in die Tasche steckte, ehe er den Wecker wieder in ihre Tasche zurückgetan und diese hinten in den Wagen geworfen hatte.

Er hatte alles Interesse an ihr verloren. Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Radiowecker. »Bring mir bitte das kleine hübsche Radio neben dem Bett, Charlie, bitte. Lass uns ein kleines Experiment machen. Ein interessantes technisches Experiment, das mit einem Hochfrequenzsender zu tun hat.«

Sie flüsterte: »Kann ich was anziehen?« Sie zog ihr Kleid über und brachte ihm das Radio vom Nachttisch, ein modernes Gerät in schwarzem Kunststoff mit einem Lautsprecher, der wie die Wählscheibe eines Telefons aussah. Khalil stellte Wecker und Radio nebeneinander, drehte das Radio an und ging die einzelnen Kanäle durch, bis es plötzlich einen klagenden Schmerzenslaut von sich gab, wie eine Luftschutzsirene heulte. Dann nahm er den Wecker, schob die an Scharnieren hängende Klappe der Batteriekammer mit dem Daumen zurück, schüttelte die Batterien auf den Boden, wie er es gestern abend wohl gemacht haben musste. Der Heulton verstummte augenblicklich. Wie ein Kind, das ein erfolgreiches Experiment durchgeführt hat, hob Khalil den Kopf und gab vor zu lächeln. Sie bemühte sich, ihn nicht anzusehen, brachte es jedoch nicht fertig.