»Für wen arbeitest du, Charlie? Für die Deutschen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Für die Zionisten?«
Er nahm ihr Schweigen für ein Ja.
»Bist du Jüdin?«
»Nein.«
»Glaubst du an Israel? Was bist du?«
»Nichts«, sagte sie.
»Bist du Christin? Siehst du in ihnen die Begründer eurer großen Religion?«
Wieder schüttelte sie den Kopf.
»Ist es des Geldes wegen? Haben sie dich bestochen? Dich erpresst?« Sie wollte schreien. Sie ballte die Fäuste und füllte die Lungen, doch das Chaos erstickte sie, und sie schluchzte statt dessen. »Um Leben zu retten. Um beteiligt zu sein. Um etwas zu sein. Ich habe ihn geliebt.«
»Hast du meinen Bruder verraten?«
Der Krampf in ihrer Kehle löste sich, ihre Stimme hatte nun etwas unendlich Eintöniges. »Ich habe ihn nie gekannt. Habe nie im Leben ein Wort mit ihm gesprochen. Sie haben ihn mir gezeigt, ehe sie ihn umbrachten, alles andere ist reine Erfindung. Unsere Liebesgeschichte, meine Bekehrung - alles. Nicht einmal die Briefe habe ich geschrieben - das haben sie getan. Und den Brief an dich auch. Den über mich. Ich habe mich in den Mann verliebt, der sich um mich gekümmert hat. Das ist alles.«
Langsam, ohne Aggression, streckte er die linke Hand aus und berührte ihre Wange, offenbar, um sich zu vergewissern, dass sie wirklich war. Dann betrachtete er seine Fingerspitzen, sah wieder sie an und verglich irgendwie beides miteinander.
»Und du bist Engländerin, gehörst zu demselben Volk, das mein Land weggegeben hat«, erklärte er ruhig, als könnte er das, was er mit eigenen Augen sah, nicht recht fassen.
Er hob den Kopf, und während er das tat, sah sie, wie sein Gesicht sich missbilligend abwandte und dann unter der Wucht dessen, womit auch immer Joseph geschossen hatte, aufloderte. Charlie hatte er beigebracht stehenzubleiben, wenn sie den Abzug durchgedrückt hatte, Joseph jedoch tat das nicht. Er traute seinen Kugeln nicht, dass sie ihre Aufgabe erfüllten, sondern rannte hinter ihnen her, versuchte, sie ins Ziel zu treiben. Wie ein gewöhnlicher Eindringling schoss er durch die Tür, doch statt anzuhalten, stürzte er vorwärts und feuerte. Und drückte mit weit ausgestrecktem Arm ab, als gälte es, die Entfernung noch mehr zu verringern. Sie sah Khalils Gesicht bersten, sah, wie er sich um sich selbst drehte, die Arme zur Wand ausstreckte, als wollte er sie um Hilfe anflehen. Infolgedessen trafen ihn die Kugeln im Rücken und ruinierten sein weißes Hemd. Seine Hände - eine aus Leder, die andere echt -drückten sich flach an die Wand, und sein zerfetzter Körper rutschte herunter, bis er sich duckte wie ein Rugby-Spieler und verzweifelt versuchte, sie zu durchbrechen. Doch da war Joseph bereits nahe genug, um die Füße unter ihm wegzustoßen und seine letzte Reise zu Boden zu beschleunigen. Hinter Joseph kam Litvak, den sie als Mike kannte und von dem sie, wie ihr in diesem Moment aufging, immer angenommen hatte, dass er ein ungesundes Wesen habe. Als Joseph zurücktrat, kniete Mike sich hin und schoss Khalil eine letzte wohlgezielte Kugel in den Hinterkopf, was völlig unnötig gewesen sein musste. Nach Mike kam etwa die Hälfte aller Scharfrichter der Welt in schwarzer Froschmann-Ausrüstung, und ihnen folgten Marty und das deutsche Wiesel und zweitausend Bahrenträger und Krankenwagenfahrer und Ärzte und Frauen ohne jedes Lächeln, die sie hielten, sie von Erbrochenem befreiten, sie auf den Korridor hinausführten und in Gottes frische Luft, obwohl der klebrige warme Blutgeruch ihr Nase und Rachen verstopfte. Ein Krankenwagen fuhr rückwärts auf den Eingang zu. Flaschen mit Blut befanden sich darin, und die Wolldecken waren gleichfalls rot, so dass sie sich zuerst weigerte einzusteigen. Sie musste sich sogar sehr gewehrt und regelrecht um sich geschlagen haben, denn eine der Frauen, die sie festhielten, ließ unversehens los und versetzte ihr eine schallende Ohrfeige. Sie war plötzlich taub, so dass sie ihr eigenes Schreien nur undeutlich hören konnte, doch hauptsächlich ging es ihr darum, sich das Kleid vom Leib zu reißen, einerseits, weil sie eine Hure war, andererseits, weil so viel von Khalils Blut daran klebte. Doch das Kleid war ihr noch weniger vertraut als gestern abend, und so war ihr unerfindlich, ob es Knöpfe oder einen Reißverschluss hatte; so beschloss sie, sich überhaupt nicht darum zu kümmern. Dann tauchten links und rechts von ihr Rachel und Rose auf, und jede packte einen Arm, genauso, wie sie es in der Villa in Athen gemacht hatten, als sie zum ersten Mal für ihr Engagement im Theater des Wirklichen vorgesprochen hatte. Aus Erfahrung wußte sie, dass jeder weitere Widerstand nutzlos war. Sie führten sie die Stufen zum Krankenwagen hinauf und setzten sich mit ihr, jede auf einer Seite, auf eins der Betten. Sie blickte hinunter und sah all die dummen Gesichter, die sie anstarrten - die harten kleinen Jungen mit den finsteren Heldengesichtern, Marty und Mike, Dimitri und Raoul und ein paar andere Freunde, von denen ihr einige noch nicht vorgestellt worden waren. Dann teilte sich die Menge, und Joseph erschien, hatte rücksichtsvoll die Pistole abgelegt, mit der er Khalil erschossen hatte, unglücklicherweise jedoch immer noch viel Blut an seinen Jeans und Laufschuhen, wie sie bemerkte. Er trat an die Treppe heran, sah zu ihr hinauf, und zuerst war es so, als ob sie in ihr eigenes Gesicht starrte, denn sie erkannte in ihm genau dieselben Dinge, die sie an sich so hasste. So kam es zu einem Rollentausch, bei dem sie seine Rolle als Killer und Zuhälter übernahm und er vermutlich die ihre als Lockvogel, Hure und Verräterin.
Bis plötzlich, als sie ihn weiter gebannt anstarrte, ein verbliebener Funke von Empörung ihr jene Identität zurückgab, die er ihr gestohlen hatte. Sie stand auf, und weder Rose noch Rachel waren schnell genug, sie daran zu hindern; gewaltig holte sie Atem und schleuderte ihm ein »Geh!« entgegen -zumindest für sie hörte es sich so an. Vielleicht war es auch ein »Nein!« Es war wirklich nicht wichtig.
Kapitel 27
Die Welt erfuhr von den direkten oder weniger direkten Folgen der Operation mehr, als ihr klar war; ganz gewiss jedenfalls mehr als Charlie. Die Welt erfuhr zum Beispiel - oder hätte es erfahren können, wenn sie sich die kleineren Nachrichten in den Auslandsseiten der angelsächsischen Presse genauer angesehen hätte -, dass ein mutmaßlicher palästinensischer Terrorist bei einem Schusswechsel mit einer westdeutschen Sondereinsatztruppe ums Leben gekommen war und seine weibliche Geisel, deren Name nicht genannt wurde, im Schockzustand, doch sonst unverletzt, in ein Krankenhaus gebracht worden war. In den deutschen Zeitungen erschienen unheimliche Versionen der Geschichte Wildwest im Schwarzwald -, aber die Berichte waren so bemerkenswert sicher und doch widersprüchlich, dass es schwierig war, ihnen überhaupt etwas zu entnehmen. Eine Verbindung mit dem misslungenen Freiburger Bombenattentat auf Professor Minkel - der ursprünglich als tot gemeldet worden, dann jedoch wunderbarerweise dennoch mit dem Leben davongekommen war - wurde von dem weltgewandten Dr. Alexis so geistreich abgestritten, dass jeder sie als gegeben annahm. Es sei ja auch durchaus in der Ordnung, schrieben die Klügeren unter den Leitartiklern, dass man uns nicht zuviel sagt.
Eine Folge kleinerer Zwischenfälle in der westlichen Welt rief hier und da Spekulationen über das Wirken der einen oder anderen arabischen Terroristenorganisation hervor, doch da es heutzutage so viele rivalisierende Gruppierungen gab, war es reiner Zufall, auf wen man mit dem Finger zeigte. Dass zum Beispiel Dr. Anton Mesterbein, der humanitäre Schweizer Anwalt, der sich stets für die Rechte von Minderheiten eingesetzt hatte und Sohn eines bedeutenden Finanziers war, am hellichten Tag sinnlos abgeknallt wurde, lastete man rundheraus einer extremen Falangistenorganisation an, die vor kurzem jenen Europäern »den Krieg erklärt« hatte, die offen Sympathie für eine »Besetzung« des Libanon durch die Palästinenser bekundeten. Die ungeheuerliche Tat geschah, als das Opfer - ungeschützt wie immer - gerade seine Villa verließ, um ins Büro zu fahren, und die Welt war zumindest den ersten Teil des Vormittags über tief erschüttert. Als der Herausgeber einer Züricher Zeitung einen mit »Freier Libanon« unterzeichneten Bekennerbrief erhielt und als authentisch erklärte, wurde ein jüngerer libanesischer Diplomat ersucht, das Land zu verlassen, was er einsichtigerweise auch tat.