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Am selben Abend rief Frankie an - Kurtz musste ihr aus Bosheit die Nummer gegeben haben. Das Telefon war Frankies Instrument. Mochten andere Geige, Harfe oder Schofar spielen - für Frankie war es jedes Mal das Telefon.

Becker hörte ihr eine ganze Weile zu: ihrem Weinen, worin sie unvergleichlich war, ihren Schmeicheleien und ihren Schwüren. »Ich werde sein, was immer du willst«, sagte sie. »Sag’s mir nur, und ich bin es!«

Doch jemand erfinden, das war das letzte, was Becker wollte. Nicht lange nach diesem Telefongespräch kamen Kurtz und der Psychiater zu dem Schluss, dass es an der Zeit sei, Charlie wieder ins Wasser zu werfen.

Die Tournee lief unter dem Titel »Ein Strauß Lustspiele«, und das Theater diente wie andere, in denen sie bereits gespielt hatte, als Treffpunkt für Frauengruppen und Spielschule und in Wahlzeiten ohne Zweifel auch als Wahllokal. Es war ein erbärmliches Stück und ein mieses Theater und kam am unteren Ende ihres Niedergangs. Das Theater hatte ein Blechdach und einen Holzfußboden, und wenn sie mit den Füßen aufstampfte, kamen ganze Staubwolken aus den Ritzen. Sie hatte damit angefangen, nur noch tragische Rollen zu übernehmen, denn nach einem nervösen Blick auf sie war Ned Quilley davon ausgegangen, dass sie nur Tragödien wolle; Charlie selbst war es aus nur ihr bekannten Gründen genauso gegangen. Doch sie kam rasch dahinter, dass ernste Rollen, falls sie ihr überhaupt etwas bedeuteten, zuviel für sie waren. Sie schrie oder weinte an den unpassendsten Stellen, und ein paar Mal war es sogar vorgekommen, dass sie einen Abgang hatte vortäuschen müssen, um sich wieder in den Griff zu bekommen.

Häufiger war es jedoch die Bedeutungslosigkeit, die ihr zu schaffen machte; sie hatte einfach keine Lust und - was schlimmer war - kein Verständnis mehr für das, was in der westlichen Mittelschicht als Schmerz galt. So kam es schließlich, dass die Komödie doch die geeignetere Maske für sie war, und durch diese Maske hatte sie zugesehen, wie ihre Wochen abwechselnd zwischen Sheridan und Priestley und dem allermodernsten Genie vergangen waren, dessen Darbietung im Programmheft als ein mit widerborstigem Witz angereichertes Souffle bezeichnet wurde. Sie hatten es in York gespielt, Nottingham aber Gott sei Dank ausgelassen; sie hatten es in Leeds und Bradford, Huddersfield und Derby gespielt; und Charlie wartete immer noch darauf, dass das Souffle aufging oder der Witz übersprang; wahrscheinlich lag jedoch die Schuld bei ihr selbst, denn in ihrer Vorstellung leierte sie ihren Text runter wie ein trunkener Boxer, der entweder böse Schläge einstecken oder für immer zu Boden gehen muss.

Hatte sie keine Proben, hing sie herum wie ein Patient im Wartezimmer des Arztes, rauchte und las Illustrierte. Doch als der Vorhang heute abend wieder aufging, trat anstelle der Nervosität eine gefährliche Trägheit, und am liebsten wäre sie eingeschlafen. Sie hörte ihre Stimme die ganze Tonleiter hinauf- und hinuntergehen, spürte, wie ihr Arm dorthin griff, ihr Fuß jenen Schritt machte; sie machte eine Pause an einer Stelle, an der es für gewöhnlich einen todsicheren Lacher gab, rief jedoch statt dessen eine verständnislose Stille hervor. Gleichzeitig traten ihr Bilder aus dem verbotenen Album vor Augen, von dem Gefängnis in Sidon und der Schlange wartender Mütter an der Mauer; von Fatmeh; vom nächtlichen Schulungszimmer im Lager, in dem sie die Schlagworte für die Demonstration auf T-Shirts bügelte; vom Luftschutzbunker und den stoischen Gesichtern, die sie ansahen und sich fragten, ob sie vielleicht Schuld daran habe. Und von Khalils behandschuhter Hand, wie sie mit dem eigenen Blut rohe Klauenzeichen an die Wand malte.

Die Garderobe war gemeinschaftlich, doch Charlie suchte sie in der Pause nicht auf. Statt dessen stand sie draußen vorm Bühneneingang im Freien, rauchte und zitterte und starrte die neblige Straße hinunter und überlegte, ob sie einfach fortgehen und immer weiter gehen sollte, bis sie hinfiel und von irgendeinem Auto überfahren wurde. Sie riefen ihren Namen, und sie hörte, wie Türen zuschlugen und Füße liefen; doch es schien das Problem der anderen zu sein, nicht ihres, sollten sie sich damit befassen. Nur ein letztes - ein allerletztes - Gefühl von Verantwortung brachte sie dazu, die Tür aufzumachen und wieder hineinzugehen. »Charlie, um Himmels willen? Charlie, verdammt noch mal, was ist denn los?«

Der Vorhang ging auf, und sie stand wieder auf der Bühne. Allein. Langer Monolog, während Hilda am Schreibtisch ihres Mannes sitzt und einen Brief an ihren Geliebten verfasst: an Michel, an Joseph. Eine Kerze brannte daneben, und gleich würde sie bei der Suche nach einem weiteren Blatt Papier die Schreibtischschublade aufreißen und - »Oh, nein!« - den nicht abgeschickten Brief ihres Mannes an seine Geliebte finden. Sie fing an zu schreiben, und sie war in dem Motel in Nottingham; sie starrte in die Kerzenflamme und sah Josephs Gesicht, wie es sie über den Tisch in der Taverne bei Delphi anblinzelte. Sie sah noch einmal hin, und da war es Khalil, der mit ihr in dem Haus im Schwarzwald an dem rustikalen Tisch aß. Sie sprach ihren Text, und wunderbarerweise war es nicht der von Joseph oder von Tayeh oder von Khalil, sondern der von Hilda. Sie zog die Schreibtischschublade auf, steckte eine Hand hinein, verpasste einen Takt und zog völlig verwirrt ein mit der Hand beschriebenes Blatt hervor, hob es in die Höhe und drehte sich um, um dem Publikum zu zeigen, wie es aussah. Sie stand auf und trat mit dem Ausdruck wachsenden Unglaubens bis vorn an den Bühnenrand und fing an, laut vorzulesen - so ein geistreicher Brief, so voll reizender Anspielungen. Gleich würde John, ihr Mann, im Morgenrock von links auftreten, auf den Schreibtisch zugehen und ihren eigenen unvollendeten Brief an ihren Liebhaber vorlesen. In einer Minute würde es einen noch witzigeren Querschnitt aus ihren beiden Briefen geben, die Zuschauer würden sich ausschütten vor Lachen, bis sie nicht mehr konnten und geradezu in Ekstase gerieten, wenn die beiden verratenen Liebhaber, einer von der Untreue des anderen angeregt, einander wollüstig in die Arme fielen. Sie hörte ihren Mann eintreten, was für sie das Zeichen war, die Stimme zu erheben: Empörung tritt an die Stelle der Neugier, als Hilda weiterliest. Sie packte den Brief mit beiden Händen, drehte sich um, machte zwei Schritte nach vorn links, um nicht John zu verdecken.

Und da sah sie ihn - nicht John, sondern Joseph, ganz deutlich, er saß dort, wo Michel immer gesessen hatte: erste Reihe Mitte, und starrte mit dem gleichen schrecklich ernsten Interesse zu ihr hinauf.

Im ersten Augenblick war sie wirklich überhaupt nicht überrascht; die Trennwand zwischen ihrer inneren und ihrer äußeren Welt war schon zu ihren besten Zeiten eine ziemlich klapprige Angelegenheit gewesen und hatte neuerdings praktisch aufgehört zu existieren. Er ist also gekommen, dachte sie. Wurde aber auch Zeit. Orchideen, Jose? Keine Orchideen? Und keinen roten Blazer? Goldmedaillon? Schuhe von Gucci? Vielleicht hätte ich doch in die Garderobe gehen sollen. Und dein Briefchen lesen. Dann hätt’ ich gewusst, dass du kommst, oder? Und hätt’ einen Kuchen gebacken. Sie hatte aufgehört, laut vorzulesen, denn es hatte ja wirklich keinen Sinn mehr, überhaupt noch zu spielen, auch wenn der Souffleur ihr ungeniert den Text zuzischelte und der Direktor hinter ihm stand und mit den Armen fuchtelte wie jemand, der einen Schwarm Bienen abwehrt; irgendwie konnte sie beide sehen, obwohl sie ausschließlich Joseph anstarrte. Vielleicht bildete sie sich die beiden auch nur ein, weil Joseph endlich so wirklich geworden war. Hinter ihr hatte Ehemann John ohne jede Überzeugung angefangen, irgendeinen Text zu erfinden, um ihr aus der Patsche zu helfen. Du brauchst einen Joseph, wollte sie ihm stolz sagen; unser Jose hier schreibt dir einen Text für jede Gelegenheit.

Zwischen ihnen war eine Wand aus Licht - nicht so sehr eine Wand, eher eine optische Trennung. Da sie zu ihren Tränen noch hinzukam, wurde ihre Sicht von ihm immer mehr beeinträchtigt, so dass sie schon den Verdacht hatte, er sei doch nur eine Fata Morgana. Aus den Kulissen riefen sie ihr zu, sie solle abtreten; Ehemann John war bereits hinuntergestapft -klonk, klonk - und hatte sie als Vorspiel freundlich, aber fest beim Ellbogen gefasst, ehe er sie dem Souffleur-Kasten übergab. Sie nahm an, dass sie gleich den Vorhang für sie fallen ließen und dieser kleinen Nutte - wie hieß sie doch noch gleich, ihre Ersatzspielerin - die Chance ihres Lebens gäben.