»Sie reden mir ins Gewissen wie die Engländer!« hatte Gavron, die Krähe, ihn während einer ihrer häufigen Auseinandersetzungen angeschrieen. »Sehen Sie sich doch mal an, was die alles auf dem Kerbholz haben!«
»Dann sollten wir vielleicht auch die Engländer bombardieren«, meinte Kurtz mit einem wütenden Lächeln.
Doch dass das Thema Engländer aufgekommen war, konnte inzwischen kein Zufall mehr sein; denn ironischerweise hatte Kurtz ausgerechnet auf England ein Auge geworfen, um sich zu retten.
Kapitel 3
Joseph und Charlie wurden einander auf der Insel Mykonos förmlich vorgestellt, an einem Strand mit zwei Tavernen, bei einem späten Mittagessen in der zweiten Augusthälfte und etwa um die Zeit, wenn die griechische Sonne am erbarmungslosesten herab brennt. Oder im Rahmen bedeutenderer politischer Ereignisse: vier Wochen nachdem israelische Flugzeuge das überfüllte Palästinenserviertel von Beirut bombardiert hatten, um, wie es hinterher hieß, die palästinensische Führung zu zerschlagen, obwohl sich keine Anführer unter den mehreren hundert Toten befanden - es sei denn, es handelte sich um die Anführer von morgen, denn es waren viele Kinder darunter.
»Charlie, sag Joseph guten Tag«, sagte jemand aufgeregt, und damit war es geschehen.
Dennoch benahmen sich beide, als ob die Vorstellung gar nicht stattgefunden hätte: sie, indem sie ihr revolutionäres Stirnrunzeln aufsetzte und wie ein englisches Schulmädchen die Hand zu einem zugleich verworfen und hochanständig anmutenden Händeschütteln ausstreckte, und er, indem er sie seltsamerweise ohne besondere Absicht mit einem gelassenen und abschätzenden Blick bedachte.
»Tag, Charlie.« So war eigentlich er es und nicht Charlie, der guten Tag sagte.
Ihr fiel auf, dass er die affektierte Art von Offizieren hatte, unmittelbar vorm Sprechen die Lippen zu spitzen. Seine Stimme klang ausländisch und sehr beherrscht und hatte etwas entmutigend Sanftes - Charlie war sich mehr all dessen bewusst, was vorenthalten als was gegeben wurde. Seine Haltung ihr gegenüber war also das Gegenteil von Aggressivität. Eigentlich hieß sie Charmian, war jedoch allen unter dem Namen ›Charlie‹ oder auch die ›Rote Charlie‹ bekannt, eine Anspielung auf ihre Haarfarbe wie auch auf ihre irgendwie verrückten radikalen Einstellungen, die ihre Art waren, die Menschheit zu lieben und mit den Ungerechtigkeiten in der Welt zurechtzukommen. Sie war die Außenseiterin in einer Gruppe von lebenslustigen jungen englischen Schauspielern, die alle demselben Ensemble angehörten, in einem baufälligen Bauernhaus schliefen, das einen Kilometer weiter landeinwärts lag, und die wie eine buntscheckige, eng zusammengehörende Familie, die nie auseinanderbrach, zum Strand herunterkamen. Wie sie zu dem Bauernhaus, ja, wie sie überhaupt auf die Insel gekommen waren, das war für sie alle ein Wunder, obwohl Wunder für sie als Schauspieler keineswegs überraschend waren. Ihr Wohltäter war eine große Londoner Firma, die wie aus heiterem Himmel auf die Idee gekommen war, den gütigen Engel für ihre Wanderbühne zu spielen. Nachdem ihre Tournee durch die Provinz zu Ende gewesen war, hatte der aus einem halben Dutzend Leuten bestehende Kern des Ensembles zu seinem Erstaunen festgestellt, dass man sie auf Kosten des Unternehmens Urlaub machen und sich erholen ließ. Eine Chartermaschine hatte sie nach Griechenland verfrachtet, das Bauernhaus hatte zum Empfang bereitgestanden, und die Frage des Taschengeldes war durch eine bescheidene Verlängerung ihrer Verträge geregelt worden. Zu freundlich, zu großzügig, zu plötzlich und zu lange her. Nur ein Pack von Faschistenschweinen - das war einhellig ihre freudige Meinung gewesen, als sie die Einladungen erhalten hatten - konnte so entwaffnend menschenfreundlich handeln. Danach hatten sie vergessen, wie sie hierhergekommen waren, bis der eine oder andere von ihnen verschlafen das Glas hob, verdrossen und halbherzig den Namen des Unternehmens murmelte und einen Toast ausbrachte.
Charlie war nicht das hübscheste von den Mädchen, ganz und gar nicht, obwohl ihre Sinnlichkeit ebenso durchschimmerte wie ihr unverbesserlicher guter Wille, den sie bei aller Radikalität nie ganz verhehlen konnte. Lucy war zwar dumm, sah aber hinreißend aus, während Charlie nach den üblichen Normen eher hausbacken wirkte: moche, mit langer kräftiger Nase und nicht mehr ganz taufrischem Gesicht, das im einen Augenblick kindlich und im nächsten so alt und verhärmt aussehen konnte, dass man sich unwillkürlich fragte, was für böse Erfahrungen sie in ihrem bisherigen Leben gemacht haben mochte und was noch aus ihr werden sollte. Manchmal war sie das Findelkind der Gruppe, manchmal ihre Mutter, diejenige, die das Geld zählte und wusste, wo das Mückenschutzmittel oder Heftpflaster für aufgeschnittene Füße lag. In dieser wie in all ihren anderen Rollen war sie unter ihnen die mit dem weitesten Herzen, überhaupt die fähigste. Gelegentlich war sie aber auch ihr gutes Gewissen, schrie sie an wegen irgendeines echten oder eingebildeten Verbrechens wie Chauvi-Verhalten, Sexismus oder westliche Gleichgültigkeit. Das Recht dazu war ihr durch ihre Herkunft gegeben, denn Charlie war die einzige von ihnen, die aus einem guten Stall kam, wie sie gern sagten: Internat und Tochter eines Börsenmaklers, selbst wenn der arme Mann - wie sie nie müde wurde, ihnen zu erzählen - seine Tage hinter Gittern beendet hatte, weil er Kunden betrogen hatte. Aber die Herkunft bricht immer wieder durch, egal, was geschieht. Und schließlich war sie auch unbestritten ihre Hauptdarstellerin. Wenn es Abend wurde und die Familie sich in ihren Strohhüten und bauschenden Strandkleidern kleine Stücke vorspielte, war es Charlie - sofern sie Lust hatte mitzumachen -, die das am besten machte. Wenn sie beschlossen, sich gegenseitig etwas vorzusingen, war es Charlie, die ein bisschen zu gut für ihre Stimmen Gitarre spielte; Charlie, die die Protestlieder kannte und sie in einem zornigen, männlichen Stil vortrug. Bei anderen Gelegenheiten räkelten sie sich in mürrischem Zusammensein, rauchten Haschisch und tranken Retsina, der halbe Liter für dreißig Drachmen. Alle bis auf Charlie, die dann ein wenig abseits von ihnen lag wie jemand, der schon vor langer Zeit so viel gehascht und getrunken hatte, wie er brauchte. »Wartet nur, bis meine Revolution kommt«, pflegte sie sie dann mit schläfriger Stimme zu warnen. »Ich scheuch’ euch Kindsköpfe allesamt noch vorm Frühstück raus zum Rübenziehen.« Dann taten sie so, als bekämen sie es mit der Angst, und fragten: »Wo soll’s denn losgehen, Chas? Wo rollt der erste Kopf?« -»In Rickmansworth«, antwortete sie dann unweigerlich und hackte damit auf ihrer sturmbewegten Kindheit in dem vornehmen Vorort herum. »Dann fahren wir all ihre Scheiß-Jaguars in ihre Scheiß-Swimmingpools.« Daraufhin stießen sie wieder klagende Angstlaute aus, obwohl sie genau wussten, dass Charlie selbst eine Schwäche für schnelle Autos hatte.