»Himmel!« sagte Litvak und sah Kurtz an, dessen Befragung jetzt volltönend wurde wie ein rührseliges Gerichtsverhör. »Ned, Sie haben eben gerade angedeutet, dass Charlie vielleicht doch ein wenig von ihren radikalen Ansichten abgekommen ist. Wollten Sie das sagen?«
»Ja, ich denke schon. Falls ihre Überzeugungen überhaupt jemals radikal gewesen sind. Das ist zwar nur ein Eindruck, aber meine Marjory meint das auch, ist sich dessen sogar sicher…« »Hat Charlie Ihnen solch einen Sinneswandel anvertraut, Ned?« fiel Kurtz ihm ziemlich scharf ins Wort.
»Ich glaube, wenn sie mal eine echte Chance bekommt wie diese...«
Kurtz ließ ihn nicht zu Ende sprechen. »Oder Ihrer Frau?«
»Hm, nein, nicht ausdrücklich.«
»Gibt es noch jemand, dem sie sich vielleicht anvertraut hätte? Etwa diesem Anarchisten-Freund, mit dem sie geht?«
»O nein, er wäre der letzte, der so was erfahren würde.« »Ned, gibt es außer Ihnen jemand - bitte, denken Sie genau nach: eine Freundin oder einen Freund, vielleicht eine ältere Person, einen Freund der Familie - jemand, dem Charlie einen solchen Sinneswandel anvertrauen würde? Eine Abwendung vom Radikalismus? Ned?«
»Nicht, dass ich wüsste - nein. Nein, mir fällt wirklich keiner ein. Sie ist in vieler Hinsicht verschlossen. Verschlossener, als man meinen möchte.«
Und dann geschah etwas ganz Erstaunliches. Ned lieferte Marjory später eine genaue Beschreibung dieses Vorgangs. Um dem unangenehmen und - für Neds Begriffe - geradezu bühnenreifen Kreuzfeuer der Blicke, dem er sich von beiden Augenpaaren ausgesetzt sah, zu entkommen, hatte Ned mit seinem Glas gespielt, hineingeguckt und den Marc de Champagne herumgewirbelt. Als er jetzt spürte, dass Kurtz die Sache offenbar nicht weiterverfolgte, sah er auf und bekam gerade noch den Ausdruck offenkundiger Erleichterung auf Kurtz’ Gesicht mit, die dieser Litvak gerade mitteilen wollte: Kurtz freute sich unverhohlen darüber, dass Charlie ihren Überzeugungen nicht untreu geworden war - oder, wenn sie es doch getan hatte, es jedenfalls keiner Menschenseele anvertraut hatte. Er schaute noch einmal genauer hin, doch da war der Ausdruck schon verschwunden. Nicht einmal Marjory konnte ihn hinterher davon abbringen, dass er vorher dagewesen war. Litvak, der Juniorpartner des großen Juristen, übernahm das Kreuzverhör, knapper in den Formulierungen, gleichsam als sollte der Fall endlich abgeschlossen werden. »Mr. Quilley, Sir, sammeln Sie in Ihrem Büro Material über Ihre einzelnen Klienten? Unterlagen?«
»Nun, Mrs. Ellis tut das, da bin ich sicher«, sagte Ned. »Irgendwo.«
»Und nimmt Mrs. Ellis diese Aufgabe schon seit längerer Zeit wahr, Sir?«
»Mein Gott, ja. Sie war schon zu meines Vaters Zeiten da.«
»Und was ist das für Material, das sie sammelt? Gagenabrechnungen - Spesen - Kommissionen, die abgezogen werden - solche Sachen? Handelt es sich bei diesen Unterlagen um reine trockene Geschäftsunterlagen?«
»Du liebe Güte, nein, sie sammelt alles und hält alles fest. Geburtstage, welche Blumen sie mögen, welche Restaurants. Einmal haben wir sogar einen alten Ballschuh darunter gefunden. Wie die Kinder heißen. Ob sie einen Hund haben. Presseausschnitte. Wirklich alles Mögliche.«
»Auch persönliche Briefe?«
»Ja, selbstverständlich.«
»Handschriftliches von ihr? Die Briefe, die sie Ihnen im Laufe der Jahre geschrieben hat?«
Kurtz war das peinlich; seine slawischen Augenbrauen, die sich gequält über dem Nasenrücken zusammenschoben, verrieten es. »Karman, ich finde, Mr. Quilley hat uns schon genug von seiner Zeit geopfert und uns von seinen Erfahrungen profitieren lassen«, sagte er schroff zu Litvak. »Falls wir noch weitere Informationen brauchen, wird Mr. Quilley sie uns bestimmt nachliefern. Besser noch: Falls Charlie bereit ist, sich mit uns über diesen Punkt auseinanderzusetzen, können wir sie direkt von ihr bekommen. Ned, es war wunderbar, Sie kennenzulernen; ich werde das nie vergessen. Vielen Dank, Sir.«
Doch so leicht sollte Litvak sich nicht abhängen lassen. Er besaß den Eigensinn des jungen Mannes: »Mr. Quilley hat doch keine Geheimnisse vor uns«, rief er aus. »Himmel, Mr. Gold, ich frage doch nur, was ohnehin die ganze Welt weiß und was unsere Visa-Leute in Null Komma nichts mit ihrem Computer rausfinden. Uns eilt es doch damit, das wissen Sie doch. Falls es Unterlagen gibt, eigenhändige Briefe von ihr, in denen sie es mit ihren eigenen Worten erklärt, mildernde Umstände, möglicherweise einen Sinneswandel - warum lassen wir sie uns dann nicht von Mr. Quilley zeigen? Sofern er dazu bereit ist. Wenn nicht - nun, das wäre etwas anderes«, fügte er mit einer unangenehmen Anspielung hinzu.
»Karman, ich bin ganz sicher, dass Ned nichts dagegen hat«, erklärte Kurtz streng, als ob es darum gar nicht ginge. Und schüttelte den Kopf, als werde er sich nie daran gewöhnen, wie aufdringlich die jungen Leute heutzutage waren.
Der Regen hatte aufgehört. Sie nahmen den kleinen Quilley in die Mitte und passten ihren eigenen flotten Gang seinen unsicheren Schritten an. Er war doch ziemlich angesäuselt, war bekümmert und litt unter dem Gefühl, nicht mehr ganz nüchtern zu sein, das auch Feuchtigkeit und Abgase auf der Straße nicht vertreiben wollten. Was, zum Teufel, wollen sie? fragte er sich immer wieder. Eben noch bieten sie an, Charlie die Sterne vom Himmel zu holen, um gleich darauf Bedenken wegen ihrer albernen politischen Einstellung zu haben. Und jetzt wollten sie auch noch aus Gründen, an die er sich nicht mehr erinnerte, Einsicht in ihre Unterlagen haben, die eigentlich gar keine richtigen Unterlagen waren, sondern ein kunterbuntes Durcheinander zufällig aufgehobener Dinge, für das eine Angestellte zuständig war, die eigentlich längst hätte pensioniert werden müssen. Mrs. Longmore, die Empfangsdame, beobachtete ihre Ankunft, und ihrem missbilligenden Blick entnahm Ned sofort, dass er beim Lunch des Guten zuviel getan hatte. Sollte sie ihm doch den Buckel runterrutschen! Kurtz bestand darauf, dass er vor ihnen die Treppe hinaufging.
Während sie ihm praktisch die Pistole an die Schläfe hielten, rief er von seinem Schreibtisch aus Mrs. Ellis an und bat sie, Charlies Unterlagen ins Wartezimmer zu bringen und sie dort zu lassen. »Sollen wir bei Ihnen klopfen, wenn wir durch sind, Mr. Quilley?« fragte Litvak wie jemand, der im Begriff steht, ein Kind auf die Welt zu bringen.
Als letztes sah er von ihnen, wie sie im Wartezimmer an dem Trommeltisch aus Rosenholz saßen, umgeben von etwa sechs von Mrs. Ellis’ ziemlich abgegriffenen braunen Kartons, die aussahen, als hätte man sie aus der Zeit der deutschen Bombenangriffe herübergerettet. Die beiden Amerikaner wirkten wie zwei Steuerfahnder, die über die gleichen verdächtigen Zahlenreihen gebeugt dahockten und Bleistift und Papier neben sich liegen hatten; Gold, der Breitschultrige, hatte sogar das Jackett ausgezogen und seine verbeulte Uhr neben sich gelegt, als ob er bei seinen tückischen Rechnungen die Zeit stoppte. Danach musste Quilley eingenickt sein. Als er um fünf aus dem Schlaf hochfuhr, war der Warteraum leer. Und als er nach Mrs. Longmore klingelte, erwiderte diese spitz, seine Gäste hätten ihn nicht stören wollen.
Ned erzählte es Marjory nicht sofort. »Ach die«, sagte er, als sie ihn noch am selben Abend danach fragte. »Nur ein Gespann langweiliger Programmgestalter, die auf dem Weg nach München hier Zwischenstation gemacht haben. Jedenfalls nichts, worüber man sich Sorgen zu machen brauchte.« »Juden?«
»Ja - hm, wohl Juden, wie ich annehme. Doch, bestimmt.« Marjory nickte, als hätte sie das die ganze Zeit über gewusst. »Aber ich muss schon sagen, wirklich nette«, sagte Ned ein wenig hoffnungslos.
Marjory betreute in ihrer Freizeit Gefangene in den Gefängnissen, und auf Neds Flunkereien fiel sie schon lange nicht mehr herein. Aber sie wartete ihre Zeit ab. Bill Lochheim war Neds Vertreter in New York, sein einziger amerikanischer Freund. Am nächsten Nachmittag rief Ned ihn an. Zwar hatte Loch nichts von ihnen gehört, rief aber pflichtschuldigst zurück und berichtete, was Ned bereits wusste: die Agentur GK sei neu in der Branche, solle finanziell auf soliden Füßen stehen, doch seien diese unabhängigen Agenten ein ausgesprochner Störfaktor auf dem Markt. Der Ton, in dem Loch sprach, gefiel Quilley nicht. Es klang, als sei er von jemand angespitzt worden - nicht von Quilley, der nie in seinem Leben jemand angespitzt hatte, sondern von jemand anders, einem dritten, bei dem er sich informiert hatte.