Tut mir leid, Jose, falsche Zeit, falscher Ort. Tut mir wirklich leid, Jose, war ein wunderschöner Traum, aber der Urlaub istzu Ende, Chas schwirrt ab, und so bin ich bloßgekommen, um mir mein Flugticket zu holen und dann Leine zu ziehen.
Vielleicht versuchte sie es aber auch auf die einfachere Tour und machte ihm weis, ihr sei eine Rolle angeboten worden. Sie kam sich in ihren abgetragenen Jeans und den ausgelatschten Stiefeln wie eine Schlampe vor, als sie sich zwischen den Straßentischen hindurchdrängelte, bis sie die Innentür erreicht hatte. Er ist ja bestimmt sowieso abgehauen, redete sie sich ein - wer wartet heutzutage schon zwei Stunden auf ein Mädchen, mit dem er ins Bett gehen will? - Flugticket bei der Rezeption nebenan. Vielleicht ist mir das eine Lehre, dachte sie - in stockfinsterer Nacht in Athen hinter mitteleuropäischen Strand-Beaus herzulaufen. Um alles noch schwieriger zu machen, hatte Lucy ihr gestern abend noch einige von ihren Scheiß-Pillen aufgedrängt, die sie erst recht high gemacht und dann hinterher ganz tief in ein schwarzes Loch hatten sacken lassen, aus dem herauszukommen sie sich noch immer abmühte. In der Regel nahm Charlie solche Sachen nicht, aber ihr Schwanken zwischen zwei Liebhabern, wie sie es sich selbst gegenüber inzwischen darstellte, hatte sie anfällig gemacht. Sie wollte gerade das Restaurant betreten, als zwei Griechen herausgestürmt kamen und über den abgerissenen Träger ihrer Schultertasche lachten. Sie stellte sich hin, beschimpfte sie wütend und nannte sie Sexistenschweine. Zornbebend schob sie die Tür mit dem Fuß auf und trat ein. Die Luft wurde kühl, das Stimmengewirr von draußen verstummte, sie stand in einem dämmerig beleuchteten holzgetäfelten Restaurant, und dort - in seinem eigenen bisschen Dunkel saß der heilige Joseph von der Insel, der unheimliche und wohlbekannte Urheber all ihrer Schuldgefühle und des Aufruhrs in ihr, einen griechischen Kaffee neben sich und ein aufgeschlagenes Taschenbuch vor sich.
Rühr mich bloß nicht an, warnte sie ihn bei sich, als er auf sie zukam. Nimm bloß keinen Zentimeter von mir für selbstverständlich. Ich bin müde und ausgehungert, könnte sein, dass ich beiße, und dem Sex hab’ ich für die nächsten zweihundert Jahre abgeschworen. Aber er nahm nur ihre Gitarre und ihre Schultertasche mit dem abgerissenen Riemen, sonst nichts. Und er gab ihr auch nur rasch und förmlich die Hand, wie man es auf der anderen Seite des Atlantiks macht. So fiel ihr nichts anderes ein, als zu sagen: »Du hast ja ein seidenes Hemd an!« Das stimmte, es war cremefarben, mit goldenen Manschettenknöpfen, so groß wie Kronenkorken. »Herrgott, Jose. Wie läufst du denn rum?« rief sie, als sie auch noch das übrige Metall an ihm in Augenschein nahm. »Goldarmband, goldene Uhr - kaum drehe ich dir den Rücken zu, reißt du eine reiche Gönnerin auf!« Das sprudelte alles in einem teils hysterischen, teils aggressiven Ton aus ihr heraus, vielleicht hatte sie instinktiv die Absicht, ihn wegen seines Aufzugs genauso verlegen zu machen, wie sie sich wegen des ihren fühlte. - Was hab’ ich denn erwartet, wie er rumläuft? fragte sie sich wütend. Vielleicht in seiner verdammten keuschen Badehose und mit seiner Feldflasche? Aber Joseph ließ ohnehin alles ungerührt über sich ergehen.
»Charlie. Hallo. Die Fähre hatte Verspätung. Du Ärmste! Aber lass nur. Hauptsache, du bist hier.« Das jedenfalls war Joseph, wie sie ihn kannte - kein Triumph, keinerlei Überraschung, nur eine ernste biblische Begrüßung und ein gebieterisches Nicken für den Kellner. »Willst du dich erst waschen oder erst einen Whisky? Die Damentoilette ist dort drüben.«
»Einen Whisky«, sagte sie und ließ sich auf einen Stuhl ihm gegenüber fallen.
Ein gutes Restaurant, das wusste sie sofort. Eines von denen, das die Griechen für sich behalten.
»Ach, und ehe ich’s vergesse.« Er griff hinter sich. Was vergesse? dachte sie, als sie ihn, das Kinn in die Hände gestützt, ansah. Komm schon, Jose. Du hast noch nie im Leben was vergessen. Joseph brachte unter der Bank eine wollene griechische Tasche von einem auffallend schmutzigen Rot zum Vorschein, die er ihr betont beiläufig reichte.
»Da wir beide zusammen in die Welt hinausziehen, ist hier dem Notgepäck. Dein Flugticket von Saloniki nach London ist darin, wenn du möchtest, kannst du immer noch umbuchen. Außerdem etwas Geld, damit du einkaufen, weglaufen oder es dir einfach anders überlegen kannst. War’s schwierig, deinen Freunden zu entkommen? Ich glaub’ schon. Wer macht Leuten gern was vor, vor allem denen, die man mag?«
Er redete, als kenne er sich mit Irreführungen aus, als praktiziere er so was täglich mit Bedauern.
»Kein Fallschirm«, beschwerte sie sich und spähte in die Tasche hinein. »Danke, Jose.« Das sagte sie noch ein zweites Mal. »Sehr passend. Vielen Dank.« Aber sie hatte das Gefühl, dass sie sich selbst nicht mehr glaubte. Mussten Lucys Pillen sein, dachte sie. Die Fahrt mit dem Schiff hat mich ganz durcheinander gebracht.
»Also, wie steht’s mit einem Hummer? Auf Mykonos hast du mir gesagt, Hummer wäre dein Leibgericht. Stimmt das auch? Der Koch hat für dich einen aufgehoben und wartet nur auf deinen Befehl, um ihn zu schlachten. Warum nicht?«
Das Kinn immer noch in die Handfläche gestützt, ließ Charlie ihren Humor die Oberhand gewinnen. Mit müdem Lächeln hob sie die andere Hand, ballte sie zur Faust und zeigte mit caesarischem Daumen nach unten, dass der Hummer des Todes sei.
»Sag ihnen, ich möchte, dass sie so wenig Gewalt wie möglich anwenden«, sagte sie. Dann ergriff sie eine seiner Hände und drückte sie zwischen ihren beiden, um sich für ihre trübsinnige Stimmung zu entschuldigen. Er lächelte und überließ ihr seine Hand, so dass sie damit spielen konnte. Es war eine schöne Hand mit schlanken, harten Fingern und sehr kräftigen Muskeln.
»Und den Wein, den du magst«, sagte Joseph. »Boutaris, weiß und kalt. Hast du das nicht immer gesagt?«
Ja, dachte sie und ließ seine Hand nicht aus den Augen, wie sie ihre einsame Reise zurück über den Tisch machte. Das habe ich immer gesagt. Vor zehn Jahren, als wir uns auf dieser komischen kleinen griechischen Insel trafen. »Und nach dem Essen möchte ich Mephisto für dich spielen, dich auf einen Berg hinaufführen und dir das zweitbeste Fleckchen auf der Welt zeigen. Einverstanden? Ein Ausflug zu den Mysterien?«
»Ich will aber das beste«, sagte sie und trank ihren Whisky.
»Und ich verleihe nie erste Preise«, erwiderte er seelenruhig.
Lass mich hier raus! dachte sie. Jag den Autor zum Teufel! Gib mir ein neues Drehbuch! Sie versuchte es mit einem Party-Gambit direkt aus Rickmansworth.
»So, was hast du denn in den letzten Tagen angestellt, Jose? Natürlich abgesehen davon, dass du dich nach mir verzehrt hast.« Er ging nicht direkt darauf ein, sondern fragte sie nach ihrer eigenen Warterei, nach der Fahrt und nach der Familie. Er lächelte, als sie von der Vorsehung in Gestalt des Hippies erzählte, der sie im Taxi mitgenommen und Jesus kein einziges Mal erwähnt hatte. Er erkundigte sich, ob sie etwas von Alastair gehört habe, und war höflich enttäuscht, als er erfuhr, dass das nicht der Fall sei. »Ach, der schreibt nie«, sagte sie mit einen unbekümmerten Lachen. Er fragte, was für eine Filmrolle er denn ihrer Meinung nach angeboten bekommen habe; sie vermutete, einen Spaghetti-Western, und er fand das lustig: diesen Ausdruck hatte er noch nie gehört und bestand darauf, dass sie ihm ihn erklärte. Als sie ihren Whisky ausgetrunken hatte, fand sie allmählich, dass sie vielleicht doch attraktiv für ihn war. Sie redete mit ihm über Al und war beeindruckt davon, wie sie mit eigenen Worten Raum für einen neuen Mann in ihrem Leben machte.
»Aber wie auch immer, ich hoffe nur, er hat wirklich Erfolg, das ist alles«, sagte sie und ließ durchblicken, dass Erfolg ihn für andere Enttäuschungen entschädigen könnte.
Doch noch während sie auf ihn zuging, überkam sie erneut das Gefühl, dass alles nicht stimmte. Dieses Gefühl hatte sie auch manchmal auf der Bühne, wenn eine Szene nicht lief: dass die Ereignisse zusammenhanglos und in hölzerner Folge abliefen, dass der Dialog zu dünn war, zu direkt. Jetzt, dachte sie. Sie kramte in ihrer Schultertasche, brachte ein Olivenholzkästchen zum Vorschein und reichte es ihm über den Tisch hinweg. Er nahm es, weil es ihm gereicht wurde, erkannte es jedoch nicht gleich als Geschenk. Es amüsierte sie, für einen Augenblick so etwas wie Angst, ja Argwohn in seinem Gesicht zu entdecken, als ob ein unerwarteter Umstand seine Pläne zu durchkreuzen drohe.