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»Soll ich dir noch mal danken?« fragte sie.

Schweigend sah er sie einen Augenblick länger an. Dann hob er den Arm und warf im Mondlicht einen Blick auf seine goldene Uhr.

»Ich meine, da uns ohnehin schon zu wenig Zeit bleibt, sollte ich dir ein paar von den Tempeln hier zeigen. Gestattest du, dass ich dich langweile?«

In der außerordentlichen Distanz, die sich zwischen ihnen aufgetan hatte, verließ er sich darauf, dass sie ihn in seinem Keuschheitsgelübde unterstützte.

»Jose, ich möchte sie alle kennenlernen«, erklärte sie, hakte sich bei ihm unter und schob mit ihm ab wie mit einer Trophäe. »Wer hat ihn gebaut, wie viel hat er gekostet, was hat man hier angebetet, und hat es was genützt? Du darfst mich langweilen, bis dass das Leben uns scheidet.«

Sie wäre nie drauf gekommen, dass er etwa nicht alle Antworten kenne, und sie irrte sich nicht. Er hielt ihr einen Vortrag, und sie hörte ihm zu; gelassen führte er sie von Tempel zu Tempel, sie folgte ihm, hielt seinen Arm und dachte: Ich werde deine Schwester sein, deine Schülerin, was du willst. Ich werde dir Stecken und Stab sein und sagen, das warst ganz allein du, ich werde mich hinlegen und sagen, das war ganz allein ich, ich werde dir dieses Lächeln austreiben, und wenn es mich das Leben kostet.

»Nein, Charlie«, sagte er ernst, »die Propyläen sind keine Göttin, sondern der Eingang zu einem Heiligtum. Das Wort kommt von propylon; die Griechen gebrauchten den Plural aus Achtung vor heiligen Stätten.« »Das hast du doch alles nur für uns auswendig gelernt, nicht wahr, Jose?«

»Selbstverständlich. Alles für dich. Warum nicht?«

»Ich könnte das. Ein Gehirn wie einen Schwamm, das hab’ ich. Du würdest dich wundern. Ein Blick in die Bücher, und ich wäre im Handumdrehen deine Expertin.«

Er blieb stehen, sie mit ihm

»Dann wiederhol es mir«, sagte er.

Zuerst glaubte sie ihm nicht, sie argwöhnte, er wolle sie auf den Arm nehmen. Doch dann packte sie ihn an den Armen, drehte ihn mit einem Ruck um und machte den gesamten Rundgang noch einmal mit ihm und wiederholte ihm alles, was er gesagt hatte.

»Na, bestanden?« Sie waren wieder ans Ende gelangt. »Bekomme ich den zweiten Preis?«

Sie wartete wieder auf eine seiner berühmten Drei-MinutenWarnungen: »Es ist nicht der Schrein der Agrippa, sondern ihr Denkmal. Bis auf diesen kleinen Fehler, würde ich sagen, hast du alles vollkommen wortgetreu wiederholt. Herzlichen Glückwunsch.«

Im selben Au genblick hörte sie von weit unten ein Auto hupen, drei gezielte Signale, und sie wusste, dass dieses Hupen für ihn bestimmt war, denn er hob sofort den Kopf, nahm es in sich auf wie ein witterndes Wild, bevor er noch einmal einen Blick auf die Uhr warf. Die Kutsche hat sich in einen Kürbis zurückverwandelt, dachte sie; Zeit, dass brave Kinder zu Bett gehen und einander sagen, was, zum Teufel, sie eigentlich getrieben haben.

Sie waren bereits beim Abstieg, als Joseph stehen blieb und einen Blick auf das melancholische Dionysos-Theater warf, ein nur vom Mond und ein paar verirrten fernen Lichtern erhelltes ausgehöhltes Rund. Ein Abschiedsblick, dachte sie verwirrt, als sie ihn so regungslos als schwarze Silhouette vor den Lichtern der Stadt stehen sah. »Irgendwo habe ich gelesen, dass ein echtes Drama niemals nur eine persönliche Aussage sein kann«, meinte er. »Romane, Gedichte ja. Aber nicht ein Drama. Ein Drama muss immer einen Bezug zur Wirklichkeit haben. Ein Drama muss etwas nützen. Glaubst du das auch?«

»In der Lehranstalt für höhere Töchter von Burton-on-Trent?« entgegnete sie lachend. »Wenn sie in einer Sonntags-Matinee für alte Leute die Helena von Troja spielen?«

»Ich meine das ernst. Sag mir, wie du darüber denkst.« »Übers Theater?« »Über seinen Nutzen.«

Durch seinen Ernst geriet sie aus der Fassung. Es hing zu viel von ihrer Antwort ab.

»Nun, ich finde auch«, sagte sie unbeholfen, »das Theater sollte etwas nützen. Es sollte die Menschen dazu bringen, Anteil zu nehmen und mitzufühlen. Es sollte - nun ja, das Bewusstsein der Menschen wecken.«

»Also wirklich sein? Bist du sicher?«

»Sicher bin ich sicher.«

»Nun denn«, sagte er, als ob sie ihm in dem Fall keinen Vorwurf machen dürfe.

»Nun denn«, wiederholte sie fröhlich wie ein Echo.

Wir sind wahnsinnig, zu diesem Schluss kam sie. Sind belfernde, meldepflichtige Irre, alle beide. Der Polizist grüßte sie auf ihrem Weg zurück zur Erde.

Zuerst dachte sie, er wollte ihr einen üblen Streich spielen. Bis auf den Mercedes war die Straße leer, und der Mercedes stand ganz allein darauf. Auf einer Bank nicht weit davon entfernt saß ein knutschendes Pärchen; sonst war weit und breit kein Mensch zu sehen. Der Wagen war dunkel, aber nicht schwarz. Er war dicht neben dem Grasstreifen geparkt und das Nummernschild vorn nicht zu sehen. Solange sie Auto fahren konnte, hatte sie etwas für Mercedes übrig gehabt; seiner Kompaktheit nach musste es sich um eine Sonderanfertigung handeln und mit den Antennen und Chromleisten um irgendjemands Spezialspielzeug mit sämtlichen Extras. Er hatte sie untergehakt, und erst, als sie fast neben der Fahrertür standen, ging ihr auf, dass er sich anschickte, die Tür zu öffnen. Sie sah, wie er den Schlüssel ins Schloss steckte und sämtliche vier Verriegelungen gleichzeitig hochgingen, und ehe sie sich versah, führte er sie um den Wagen herum zur Beifahrertür, und sie fragte ihn, was, zum Teufel, denn eigentlich vorgehe.

»Gefällt er dir nicht?« fragte er mit einer unwirklichen Leichtfertigkeit, die sie augenblicklich misstrauisch machte. »Soll ich einen anderen kommen lassen? Ich dachte, du hättest eine Schwäche für schöne Autos.«

»Soll das heißen, dass es ein Leihwagen ist?«

»Nicht das, was du darunter verstehst. Aber jemand hat ihn uns für unsere Reise geliehen.«

Er hielt ihr den Schlag auf. Sie stieg nicht ein. »Wer hat ihn dir geliehen?« »Ein gütiger Freund.« »Wie heißt er?«

»Charlie, nun sei doch nicht albern. Herbert. Karl. Was bedeutet schon ein Name? Würdest du die egalitären Unbequemlichkeiten eines griechischen Fiats vorziehen?«

»Wo ist mein Gepäck?«

»Im Kofferraum. Dimitri hat es dort auf meine Anweisung hin verstaut. Möchtest du nachsehen und dich überzeugen?«

»Ich fahre nicht mit dem Ding, das ist verrückt.« Sie stieg trotzdem ein, und im Nu saß er neben ihr und ließ den Motor an. Er trug Autohandschuhe aus schwarzem Leder mit Luftlöchern auf dem Handrücken. Er musste sie in der Tasche gehabt und beim Einsteigen übergestreift haben. Das Gold um seine Handgelenke stach leuchtend von ihnen ab. Er fuhr schnell und gewandt. Auch das mochte sie nicht - so fuhr man nicht die Autos seiner Freunde. Ihre Tür war versperrt. Er hatte sie alle wieder mit dem zentralen Verriegelungsschalter gesichert. Er hatte das Radio angemacht; es spielte wehmütige griechische Musik. »Und wie mach’ ich das Scheißfenster auf?« fragte sie. Er drückte auf einen Knopf, und der warme Nachtwind fuhr über sie dahin und brachte den Duft von Harz mit. Doch er ließ das Fenster nur ein paar Fingerbreit herunter.

»So was machen wir öfter, nicht wahr?« fragte sie laut. »Eine von unseren kleinen Extravaganzen, ja? Damen mit doppelter Schallgeschwindigkeit an unbekannte Ziele bringen?«

Keine Antwort. Er schaute angestrengt geradeaus. Wer ist er? Bei meiner Treu - wie ihre Scheiß-Mutter sagen würde -, wer ist er? Das Wageninnere füllte sich mit Licht. Sie fuhr herum und sah durch die Heckscheibe knapp hundert Meter hinter ihnen zwei Scheinwerfer, die weder näher kamen noch zurückfielen.