»Ich möchte bloß, dass Sie die verdammten armen Araber in Ruhe lassen«, parierte sie abermals. »Schön. Und wie genau sollen wir das tun?«
»Hört auf, ihre Flüchtlingslager zu bombardieren. Sie von ihrem Land zu vertreiben, ihre Dörfer niederzuwalzen und sie zu foltern.«
»Haben Sie sich jemals eine Karte des Nahen Ostens angesehen?«
»Selbstverständlich habe ich das.«
»Und als Sie sich die Karte ansahen, haben Sie da jemals den Wunsch verspürt, dass die Araber uns in Ruhe lassen sollten?« sagte Kurtz so gefährlich fröhlich wie zuvor. Zu ihrer Verwirrung und Angst kam jetzt auch noch schlichte Verlegenheit, wie Kurtz wohl beabsichtigt hatte. So mit der nackten Wirklichkeit konfrontiert, kamen ihr ihre Antworten patzig vor, als säße sie wieder in der Schule. Sie kam sich vor wie eine Törin, die den Weisen predigt.
»Ich will doch bloß, dass Frieden herrscht«, sagte sie einfältig, obwohl das genau genommen stimmte. Sie habe, wenn es gestattet sei, die redliche Vorstellung von einem Palästina, das wie durch Zauberhand jenen zurückgegeben werden solle, die daraus vertrieben worden waren, um mächtigeren europäischen Statthaltern Platz zu machen.
»Wenn Sie das so sehen, warum sehen Sie sich dann die Karte nicht noch mal an und fragen sich, was Israel will«, riet Kurtz ihr zufrieden und hielt inne, als wolle er eine Schweigeminute zum Gedenken an jene einlegen, die heute abend nicht in unserer Mitte sein können. Dieses Schweigen wurde immer ungewöhnlicher, je länger es andauerte, denn es war Charlie selbst, die half, es zu wahren. Charlie, die vor Minuten noch Zeter und Mordio geschrieen und Gott und die Welt angerufen hatte, hatte plötzlich nichts mehr hinzuzufügen. So war es denn auch Kurtz und nicht Charlie, der schließlich den Zauber mit etwas brach, das sich wie eine vorbereitete Presseerklärung anhörte.
»Charlie, wir sind nicht hier, um auf Ihren politischen Einstellungen herumzuhacken. Sie werden es uns zu diesem frühen Zeitpunkt zwar nicht abnehmen - wie sollten Sie auch! -, aber ihre politischen Einstellungen gefallen uns. In jeder Beziehung. Mit allen guten Absichten und auch mit allen Widersprüchen. Wir respektieren sie, und wir brauchen sie; wir lachen durchaus nicht darüber, und ich hoffe aufrichtig, wir kommen zu gegebener Zeit dazu, offen und mit Gewinn darüber zu diskutieren. Was wir ansprechen wollen, das ist die natürliche Menschlichkeit in Ihnen - das ist alles. Wir wollen Ihr gutes, besorgtes menschliches Herz ansprechen. Ihre Gefühle. Ihren Gerechtigkeitssinn. Wir haben nicht vor, irgend etwas von Ihnen zu erwarten, was sich nicht mit Ihren starken und anständigen ethischen Anliegen vereinbaren lässt. Ihre streitbaren politischen Ansichten - die Namen, die Sie Ihren Überzeugungen geben - nun, die möchten wir im Moment mal hintanstellen. Aber
Ihre Überzeugungen als solche - je verwirrter sie sind, je irrationaler und je frustrierter-, Charlie, die achten wir vorbehaltlos. Unter dieser Voraussetzung werden Sie doch wohl noch ein bisschen bei uns bleiben und sich anhören, was wir Ihnen zu sagen haben.«
Und abermals verbarg Charlie ihre Antwort unter einer neuen Attacke: »Wenn Joseph Israeli ist«, wollte sie wissen, »wieso, zum Teufel, kommt er dann dazu, in einem großen arabischen Schlitten durch die Gegend zu kutschieren?«
Kurtz’ Gesicht zersprang in jenes tiefeingekerbte, runzlige Lächeln, das Quilley auf so dramatische Weise sein Alter verraten hatte. »Den haben wir geklaut, Charlie«, erwiderte er frohgemut, und diesem Eingeständnis folgte augenblicklich eine zweite Runde Gelächter der jungen Leute, in das Charlie halb einzustimmen versucht war. »Und als nächstes, Charlie, möchten Sie natürlich wissen«, sagte er - und gab damit nebenher zu verstehen, dass er das Palästinenserproblem zumindest vorläufig sicher zurückgestellt sehen wollte, wie er eben schon gesagt hatte -, »was Sie hier in unserer Mitte tun und warum man Sie auf eine solche umständliche und wenig gentlemanhafte Weise hierhergeschleppt hat. Ich will es Ihnen sagen. Der Grund, warum wir das getan haben, Charlie, ist, dass wir Ihnen eine Stelle anbieten möchten. Eine Stelle als Schauspielerin.«
Das traf sie völlig unvorbereitet, und sein mildes Lächeln verriet, dass er sich darüber im klaren war. Er hatte ganz langsam und mit Bedacht gesprochen, gleichsam als gebe er im Fernsehen die Lottozahlen bekannt: »Die größte Rolle, die Sie bisher in Ihrem Leben gespielt haben, die schwierigste, zweifellos die gefährlichste und zweifellos auch die wichtigste Rolle. Damit meine ich nicht das Geld. Geld können Sie haben, so viel Sie wollen, kein Problem, sagen Sie nur, was Ihnen vorschwebt.« Ein kräftiger Unterarm fegte alle finanziellen Überlegungen beiseite. »Die Rolle, für die wir Sie vorgesehen haben, ist eine Kombination all Ihre Talente, Charlie, sowohl der rein menschlichen als auch der schauspielerischen. Ihre Schlagfertigkeit. Ihr ausgezeichnetes Gedächtnis. Ihre Intelligenz. Ihr Mut. Aber auch jene ganz besondere menschliche Qualität, von der ich bereits gesprochen habe. Ihre Herzensgüte. Wir haben Sie ausgewählt, Charlie. Wir haben Sie für eine Rolle vorgesehen. Dabei haben wir uns auf einem weiten Feld umgesehen, unter vielen Kandidaten aus vielen Ländern. Aber unsere Wahl ist auf Sie gefallen, und das ist der Grund, warum Sie hier sind. Unter Ihren Fans. Jeder hier im Raum hat Sie bei Ihrer Arbeit gesehen, jeder bewundert Sie. Damit klar ist, in was für einer Atmosphäre Sie hier sitzen. Von unserer Seite aus besteht keinerlei Feindseligkeit. Nur Zuneigung, Bewunderung und Hoffnung. Hören Sie uns bis zu Ende an. Wir möchten Sie haben. Wir brauchen Sie. Und draußen sind Menschen, die Sie womöglich noch mehr brauchen als wir.« Seine Stimme hatte ein Gefühl der Leere hinterlassen. Sie kannte Schauspieler - nur wenige freilich -, deren Stimme genau dies fertig brachte. Sie war da, durch ihre unerbittliche Güte wurde sie zur Sucht, und wenn sie aufhörte, so wie jetzt, ließ sie einen wie gestrandet zurück. Erst bekommt Al seine große Rolle, dachte sie instinktiv voll Stolz, und jetzt ich. Wie irrsinnig ihre Situation war, war ihr durchaus klar, trotzdem schaffte sie nur, sich ein aufgeregtes Grinsen zu verkneifen, das ihre Wangen zucken ließ und versuchte, hervorzubrechen.
»So also nehmen Sie Ihre Rollenbesetzungen vor, ja?« sagte sie und bemühte sich wieder um einen skeptischen Ton. »Ihnen erst eins über die Rübe geben und sie dann in Handschellen abführen? So machen Sie das wohl immer, was?«
»Charlie, wir würden niemals behaupten, dass es sich um Theater im üblichen Sinn handelt«, ging Kurtz unbeirrt darauf ein und überließ erneut ihr die Initiative.
»Eine Rolle worin dann zumindest?« sagte sie und kämpfte immer noch gegen das Grinsen an. »Nennen Sie’s Theater.« Ihr fiel ein, was Joseph gesagt hatte, als er plötzlich so ganz ernst geworden war und abgehackt vom Theater des Wirklichen gesprochen hatte. »Es geht also um ein Stück«, meinte sie. »Warum sagen Sie das denn nicht klipp und klar.«
»In gewissem Sinn ist es ein Stück«, pflichtete Kurtz ihr bei. »Und von wem stammt es?«
»Die Handlung bestimmen wir, Joseph schreibt den Dialog. Unter tatkräftiger Mithilfe von Ihnen.«
»Und wer sind die Zuschauer?« Mit einer Geste wies sie auf die Schatten. »Diese reizenden Vögel hier?«
Der feierliche Ernst bei Kurtz kam genauso überraschend und ehrfurchtsheischend wie die Güte. Seine Arbeiterhände fanden einander auf dem Tisch, sein Kopf neigte sich darüber, und nicht einmal der entschlossenste Skeptiker hätte abgestritten, dass das etwas sehr Überzeugendes hatte. »Charlie, da draußen gibt’s Leute, die niemals das Vergnügen haben werden, das Stück aufgeführt zu sehen, ja, die nicht einmal wissen, dass es überhaupt gespielt wird, aber die Ihnen trotzdem ihr Leben lang dankbar sein werden. Unschuldige Menschen. Genau die, die Ihnen immer am Herzen gelegen haben, für die Sie versucht haben einzutreten, für die Sie auf die Straße gegangen sind und denen Sie haben helfen wollen. Bei allem, was von jetzt an geschieht, müssen Sie sich das immer vor Augen halten, sonst werden Sie uns verlieren und zweifellos auch sich selbst verlieren, das ist gar keine Frage.«