Sie versuchte, den Blick von ihm abzuwenden. Seine Beredsamkeit war zu groß, das war zuviel; sollte er sie doch an jemand anders ausprobieren.
»Wer, verdammt noch mal, sind Sie, um sagen zu können, wer unschuldig ist?« hielt sie ihm wieder entgegen und wappnete sich gegen die Flut seiner Überredungskünste. »Sie meinen, weil wir Israelis sind, Charlie?«
»Ich meine Sie«, erwiderte sie und umschiffte die gefährliche Klippe.
»Ich würde Ihre Frage lieber ein bisschen umdrehen und sagen, dass unserer Ansicht nach jemand schon sehr viel Schuld auf sich geladen haben muss, ehe er es verdient zu sterben.«
»Wie zum Beispiel? Wer verdient zu sterben? Die armen Schweine, die ihr auf der Westbank umlegt? Oder die ihr im Libanon bombardiert?« Wie um alles auf der Welt waren sie nur dazu gekommen, vom Tod zu reden? fragte sie sich, noch während sie die verrückte Frage stellte. Hatte sie damit angefangen? Oder er? Egal. Er war schon dabei, seine Antwort abzuwägen.
»Nur diejenigen, die mit allem brechen, was Menschen verbindet«, erklärte Kurtz, unbeirrt mit Nachdruck. «Die verdienen den Tod.« Eigensinnig rannte sie weiter gegen ihn an. »Gibt es solche Juden?«
»Juden - selbstverständlich. Und natürlich auch Israelis, nur gehören wir nicht dazu, und Gott sei Dank sind es auch nicht sie, mit denen wir uns heute herumschlagen müssen.« Er besaß die Autorität, so zu reden. Er gab die Antworten, nach denen Kinder verlangen. Er besaß den Hintergrund, und alle im Raum wussten das, Charlie eingeschlossen: dass er nämlich ein Mann war, der nur von Dingen redete, die er selbst erfahren hatte. Wenn er Fragen stellte, wusste man, dass er selbst verhört worden war. Wenn er Befehle erteilte, wusste man, dass er den Befehlen anderer gehorcht hatte. Wenn er vom Tod sprach, war klar, dass ihm der Tod oft begegnet war, dass er ihn gestreift hatte und ihm jederzeit wieder begegnen konnte. Und wenn er ihr wie jetzt eine Warnung zukommen ließ, hatte er offensichtlich eine Ahnung, wovon er sprach: »Verwechseln Sie unser Stück nicht mit Unterhaltung, Charlie«, sagte er ernst zu ihr. »Es geht hier nicht um irgendeinen verwunschenen Wald. Wenn die Lichter auf der Bühne ausgehen, herrscht auf der Straße draußen dunkle Nacht. Wenn die Schauspieler lachen, werden sie glücklich sein, und wenn sie weinen, dann haben sie aller Wahrscheinlichkeit nach wirklich einen schmerzlichen Verlust erlitten, der ihnen das Herz bricht. Und wenn sie verwundet werden - und das wird geschehen, Charlie -, werden sie bestimmt nicht in der Lage sein, sobald der Vorhang gefallen ist, aufzuspringen und zum letzten Bus nach Hause zu laufen. Hier wird nicht zimperlich vor den scheußlicheren Szenen weggelaufen oder krankgefeiert. Dieses Stück besteht nur aus Höhepunkten, die den ganzen Einsatz erfordern. Wenn Ihnen das gefällt, wenn Sie meinen, damit fertig zu werden - und davon sind wir überzeugt -, dann hören Sie uns bis zu Ende an. Sonst machen wir mit dem Vorsprechen lieber gleich Schluss.« An dieser Stelle mischte sich Shimon Litvak heiser in seiner gedehnt europäischbostonischen Sprechweise ein, und das war wie ein von weit her kommendes, kaum wahrnehmbares Signal in einer transatlantischen Radiosendung. »Charlie ist in ihrem Leben noch vor nichts davongelaufen, Marty«, wandte er im Ton eines Jüngers ein, der seinem Herrn und Meister nachdrücklich etwas versichern will. »Das glauben wir nicht nur, das wissen wir. Das geht aus all ihren Unterlagen hervor.«
Halb hätten sie es geschafft, berichtete Kurtz später Misha Gavron, während einer der seltenen Feuerpausen in ihrer Beziehung, über diesen Punkt des Vorgehens: eine Frau, die einwilligt zuzuhören, ist eine Frau, die einwilligt, sagte er, und Gavron, die Krähe, senkte den Kopf und sträubte die schwarzen Nackenhaare über dem Kragen, als er fast lächelte.
Halb, vielleicht - und dennoch, angesichts der Zeit, die noch vor ihnen lag, hatten sie kaum einen Anfang gemacht. Zwar duldete Kurtz keine Weitschweifigkeit, doch wollte er die Sache auch nicht überstürzen. Er legte größten Wert auf bedächtiges Vorgehen, darauf, ihre Frustration zu schüren, dass sie in ihrer Ungeduld vorpreschte und ihnen vorausgaloppierte wie ein Leithengst. Keiner verstand besser als Kurtz, was es in einer schwerfällig dahintrottenden Welt bedeutete, ein quecksilbriges Wesen zu haben oder Charlies Rastlosigkeit auszunutzen. Nur wenige Minuten nach ihrem Eintreffen - sie war noch völlig verängstigt gewesen - war sie ihm schon ans Herz gewachsen: ein Vater für Josephs Geliebte. Nach wenigen weiteren Minuten hatte er ihr die Lösung für all die durcheinander geratenen Bestandteile des bisherigen Lebens geboten. Er hatte an die Schauspielerin in ihr appelliert, an die Märtyrerin und die Abenteuerin; er hatte der Tochter geschmeichelt und die Kandidatin angestachelt. Er hatte ihr frühzeitig einen flüchtigen Blick auf die neue Familie geboten, der sie sich vielleicht anschloss, und hatte gewusst, dass sie wie die meisten Rebellen im tiefsten Inneren nur nach etwas Ausschau hielt, dem sie sich besser anpassen konnte. Vor allem aber hatte er sie dadurch, dass er ihr all dies zuteil werden ließ, reich gemacht: und das war, wie schon Charlie selbst jedem gepredigt hatte, der es hören wollte, der Anfang von Unterwürfigkeit.
»Also, Charlie, was wir vorschlagen«, sagte Kurtz mit langsamerer und freundlicherer Stimme, »was wir vorschlagen, ist ein open-end-Vorsprechen, bei dem wir Sie bitten, uns sehr freimütig und aufrichtig eine ganze Reihe von Fragen zu beantworten, auch wenn Sie, was den Zweck dieser Fragen betrifft, vorläufig leider noch im dunkeln tappen müssen.«
Er hielt inne, doch sie sagte nichts; mittlerweile hatte ihr Schweigen etwas von taktischer Unterwerfung.
»Wir bitten Sie, alles ganz wertfrei zu sehen, niemals zu versuchen, auf unsere Seite des Netzes herüberzukommen, niemals den Versuch zu unternehmen, uns in irgendeiner Weise zu gefallen oder entgegenzukommen. Viele Dinge, die Sie in Ihrem Leben als negativ betrachten, würden wir sicherlich anders sehen. Versuchen Sie nicht, uns das Denken abzunehmen.« Der kurz hinabschnellende Unterarm bekräftigte diese freundschaftliche Warnung. »Frage. Was geschieht - jetzt oder später -, was geschieht, falls einer von uns abspringen möchte? Charlie, lassen Sie mich versuchen, Ihnen diese Frage zu beantworten.«
»Tun Sie das, Marty«, riet sie ihm, pflanzte die Ellbogen auf den Tisch, barg das Kinn in den Händen und sah ihn lächelnd mit einem Ausdruck an, der benommene Ungläubigkeit ausdrücken sollte.
»Danke, Charlie. Also hören Sie bitte genau zu. Je nachdem, in genau welchem Augenblick Sie oder wir aussteigen möchten, und je nachdem, wie viel Sie zu diesem Zeitpunkt wissen und wie wir Sie einschätzen, werden wir eine von zwei Möglichkeiten wählen. Möglichkeit Nummer eins: Wir nehmen Ihnen ein feierliches Versprechen ab, geben Ihnen Geld und schicken Sie zurück nach England. Händeschütteln, gegenseitiges Vertrauen, gute Freunde und eine gewisse Wachsamkeit unsererseits, um sicherzugehen, dass Sie Ihre Abmachung einhalten. Können Sie mir folgen?« Sie senkte den Blick auf den Tisch, teils, um seinem durchdringenden Blick zu entgehen, und teils, um sich ihre wachsende Erregung nicht anmerken zu lassen. Dann war noch etwas, womit Kurtz rechnete und was die meisten Geheimdienstprofis nur allzu rasch vergessen: dass für die Außenstehenden die Geheimdienstwelt als solche schon einen gewissen Reiz besitzt. Sie dreht sich nur um ihre Achse und kann schon so die schwach Verankerten in ihre Mitte ziehen.