Die ersten Fragen, die Kurtz stellte, waren mit Vorbedacht zusammenhanglos und harmlos. Es war, dachte Charlie, als ob er im Geiste ein leeres Antragsformular für die Ausstellung eines Passes vor sich hätte und Charlie, ohne dass sie sie sehen konnte, die Kästchen dann ausfüllte. Vollständiger Name Ihrer Mutter, Charlie. Geburtstag und -ort Ihres Vaters, falls Sie’s wissen, Charlie. Beruf des Großvaters; nein, Charlie, väterlicherseits. Folgte aus unerfindlichen Gründen die Frage nach der letzten bekannten Adresse einer Tante mütterlicherseits, wiederum gefolgt von der Frage nach irgendeinem geheimnisvollen Detail im Werdegang ihres Vaters. Keine einzige von diesen Fragen zu Anfang hatte auch nur das geringste mit ihr zu tun, und das wollte Kurtz auch gar nicht. Charlie war wie das verbotene Thema, dem er geflissentlich aus dem Wege ging. Der Zweck dieses ganzen einleitenden fröhlichen Trommelfeuers bestand nicht darin, irgendwelche Information aus ihr herauszuholen, sondern darin, die instinktive Gehorsamkeit, jene ›Ja, Herr Lehrer, nein, Herr Lehrer‹ -Haltung der Schule in ihr zu wecken, von der abhing, was sich später zwischen ihnen abspielen würde; und Charlie ihrerseits, bei der zunehmend die Schauspielerin angesprochen wurde, spielte, gehorchte und reagierte immer willfähriger. Hatte sie das nicht für Regisseure und Produzenten hundertmal getan - den Stoff harmloser Konversation benutzt, um ihnen ein Beispiel für die ganze Bandbreite ihres Könnens zu geben? Um so mehr Grund, das jetzt unter Kurtz’ hypnotischer Ermutigung auch zu tun.
»Heidi?« wiederholte Kurtz echogleich. »Heidi? Das ist aber ein verdammt komischer Name für eine ältere englische Schwester, finden Sie nicht auch?«
»Nein, für Heidi nicht«, erwiderte sie strahlend und konnte einen spontanen Lacher von den jungen Zuhörern auf der anderen Seite der Beleuchtung für sich verbuchen. Heidi, weil ihre Eltern ihre Hochzeitsreise in die Schweiz gemacht hätten, wie sie erklärte - wo Heidi empfangen worden sei. »Inmitten von Edelweiß«, fügte sie aufseufzend hinzu. »In der Missionars-Stellung.«
»Aber warum denn Charmian?« fragte Marty, nachdem sich das Gelächter gelegt hatte.
Charlie hob die Stimme, um die sämige Sprechweise ihrer Scheiß-Mutter wiederzugeben: »Auf den Namen Charmian verfielen wir in der Absicht, einer reichen entfernten Verwandten dieses Namens zu schmeicheln.«
»Und hat es sich bezahlt gemacht?« fragte Kurtz und neigte den Kopf, um etwas mitzubekommen, was Litvak versuchte ihm zuzuflüstern.
»Bis jetzt noch nicht«, erklärte Charlie ausgelassen, aber immer noch im köstlichen Tonfall ihrer Mutter. »Vater hat das Zeitliche gesegnet, wissen Sie, aber Cousine Charmian muss ihm leider noch nachfolgen.«
Nur über diese und viele ähnliche harmlose Umwege näherten sie sich schrittweise dem Thema Charlie selbst.
»Waage«, murmelte Kurtz voller Genugtuung, als er ihr Geburtsdatum hinschrieb. Gewissenhaft, aber ohne sich lange damit aufzuhalten, trieb er sie durch ihre frühe Kindheit - Pensionate, Häuser, Namen früherer Freunde und Ponys -, und Charlie antwortete ihm auf ihre Weise, ausführlich, manchmal humorvoll und immer bereitwillig, wobei ihr glänzendes Gedächtnis von der steten Glut seiner Aufmerksamkeit und ihrem wachsenden Bedürfnis, mit ihm zurechtzukommen, erhellt wurde. Von den Schulen und von der Kindheit war es ein natürlicher Schritt - bei dem Kurtz freilich größte Zurückhaltung zeigte - zur schmerzlichen Geschichte vom Ruin ihres Vaters, die Charlie mit stillen, aber um so rührenderen Einzelheiten vor ihnen ausbreitete, von dem schrecklichen Augenblick an, da ihr die Nachricht brutal beigebracht worden war, bis zum Trauma des Prozesses, der Verurteilung und der Einkerkerung. Ab und zu, das stimmte, geriet sie ein wenig ins Stocken; es kam auch vor, dass ihr Blick sich prüfend auf ihre Hände senkte, die so hübsch und ausdrucksvoll in dem von oben herabfallenden Licht spielten; dann kam ihr wohl eine tapfere, leicht selbstironische Bemerkung über die Lippen, die alles fortblies.
»Es wäre für uns ja alles nicht so schlimm gewesen, wenn wir zur Arbeiterklasse gehört hätten«, sagte sie einmal mit einem klugen und hoffnungslosen Lächeln. »Dann bekommt man eben seine Entlassung, man ist überflüssig, die Kräfte des Kapitals stellen sich einem in den Weg - so ist das Leben nun mal, das ist die Wirklichkeit, man weiß, woran man ist. Aber wir gehörten nun mal nicht zur Arbeiterklasse. Wir waren wir. Immer auf der Seite der Gewinner. Und plötzlich standen wir dann auf der Seite der Verlierer.« »Schlimm«, sagte Kurtz ernst und schüttelte den mächtigen Kopf. Er ging noch einmal zurück und bohrte nach den soliden Fakten: Zeit und Ort, an dem der Prozess stattgefunden hat, Charlie; die genaue Länge der Haftstrafe, Charlie; die Namen der Rechtsanwälte, falls sie sich an die erinnere. Das tat sie zwar nicht, doch wo immer sie konnte, gab sie ihm Auskunft, und Litvak notierte ihre Antworten ordnungsgemäß, so dass Kurtz seine ganze wohlwollende Aufmerksamkeit ihr zuwenden konnte. Alles Lachen hatte sich mittlerweile vollständig gelegt. Es war, als ob der Ton ausgefallen wäre, bis auf ihren und Martys. Kein Knarren, kein Husten, nirgendwoher ein unfreundliches Füßescharren. Noch nie in ihrem ganzen Leben, so kam es Charlie vor, hatte sie ein so aufmerksames und aufgeschlossenes Publikum gehabt. Sie haben Verständnis, dachte sie. Sie wissen, was es heißt, ein Nomadenleben zu führen; auf die eigenen Mittel zurückgeworfen zu sein, wenn die Karten gegen einen sind. Einmal gingen auf einen leisen Befehl von Joseph hin die Lichter aus, und sie warteten gemeinsam und lautlos wie bei einem Fliegerangriff in der undurchdringlichen Dunkelheit. Charlie genauso wie die anderen, bis Joseph Entwarnung gab und Kurtz seine geduldigen Fragen wiederaufnahm. Hatte Joseph wirklich etwas gehört, oder war das ihre Art, ihr zu verstehen zu geben, dass sie dazugehörte? Die Wirkung auf Charlie war in jedem Fall dieselbe; während dieser wenigen spannungsgeladenen Augenblicke war sie ihre Mitverschworene, die nicht daran dachte, sich in Sicherheit zu bringen.
Bei anderer Gelegenheit, als sie vorübergehend den Blick von Kurtz losriss, sah sie die jungen Leute auf ihrem Posten dösen: Raoul aus Schweden, den strohblonden Kopf auf die Brust gesunken und die Sohle eines dicken Laufschuhs flach gegen die Wand gedrückt; Rose aus Südafrika, gegen die Doppeltür gelehnt, die Sprinterinnenbeine von sich gestreckt und die langen Arme vor der Brust verschränkt; und Rachel, das Mädchen aus dem Norden Englands, das Gesicht von den fittichgleichen Strähnen ihrer schwarzen Haare eingerahmt, die Augen halb geschlossen, gleichwohl mit ihrem sanften sinnlichen, in Erinnerungen schwelgenden Lächeln. Doch der geringste von außen kommende Laut machte sie augenblicklich hellwach.
»Unter welcher Überschrift ließe sich das Ganze nun zusammenfassen, Charlie?« fragte Kurtz freundlich. »Ich meine, die ganze erste Zeit Ihres Lebens bis zu dem, was wir den Sündenfall nennen könnten...«
»Das Zeitalter der Unschuld, Marty?« schlug sie, von dem Wunsch zu helfen beseelt, vor. »Genau. Ihr Zeitalter der Unschuld. Wie würden Sie es charakterisieren?«
»Es war die Hölle.«
»Möchten Sie ein paar Gründe nennen, warum?« »Ich hab’s in den Vororten verbracht, im Establishment - reicht das nicht?«
»Nein, das reicht nicht.«
»Ach, Marty - Sie sind so...« Ihre erschlaffende Stimme. Der Ton inniger Verzweiflung. Kraftlose Gesten der Hände. Wie sollte sie das jemals erklären? »Für Sie ist das nichts Schlimmes, Sie sind Jude, begreifen Sie? Sie haben diese phantastischen Traditionen, die Sicherheit. Selbst wenn Sie verfolgt werden, wissen Sie noch, wer Sie sind und warum alles so ist.«