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Kurtz musste das bekümmert einräumen.

»Aber für uns - die Kinder aus den reichen englischen Vororten - kann man das vergessen. Wir hatten keine Traditionen, keinen Glauben, kein Selbstbewusstsein, gar nichts.«

»Aber Sie haben uns doch gesagt, Ihre Mutter sei katholisch gewesen.«

»Weihnachten und Ostern. Die reine Heuchelei. Wir leben schließlich in der nachchristlichen Zeit, Marty. Hat Ihnen das noch nie jemand gesagt? Wenn der Glaube schwindet, hinterlässt er ein Vakuum. In dem leben wir.«

Während sie dies sagte, bemerkte sie, dass Litvak seine glühenden Augen auf sie gerichtet hatte, und bekam eine erste Ahnung von seinem rabbinischen Zorn.

»Gingen Sie nicht zur Beichte?« fragte Kurtz.

»Das können Sie sich abschminken. Mum hatte nichts zu beichten. Dann besteht ja gerade ihre ganze Schwierigkeit. Kein Spaß, keine Sünde, gar nichts. Nichts weiter als Apathie und Angst. Angst vorm Leben, Angst vorm Tod, Angst vor den Nachbarn - Angst. Irgendwo draußen gab es Menschen, die echt lebten. Bloß wir nicht. Nicht in Rickmansworth. Nichts zu machen. Ich meine, Himmel - für Kinder -, ich meine Kastrationsgerede

»Und Sie - keine Angst?«

»Nur davor, so zu sein wie Mum.«

»Und was ist mit der Vorstellung, die wir alle haben - vom alten England, das von seiner traditionellen Lebensweise durchdrungen ist?«

»Das können Sie vergessen.«

Kurtz lächelte und schüttelte sein weises Haupt, als wollte er sagen, man lernt doch immer noch was dazu.

»Und da haben Sie, sobald Sie die Möglichkeit dazu hatten, Ihr Elternhaus verlassen und Zuflucht auf der Bühne und in der radikalen Politik gesucht«, fasste er zufrieden noch einmal alles zusammen. »Sie wurden zu einer politischen Exilantin auf der Bühne. Das habe ich irgendwo gelesen, in einem Interview, das Sie gegeben haben. Hat mir gefallen. Machen Sie jetzt von da aus weiter.«

Sie war wieder dabei, ihren Block vollzukritzeln - noch mehr Psychosymbole. »Ach, es gab aber auch schon davor Möglichkeiten auszubrechen«, sagte sie.

»Wie zum Beispiel?«

»Nun, Sex, wissen Sie«, sagte Charlie unbekümmert. »Ich meine, wir haben das Thema Sex als wesentliche Grundlage der Revolte überhaupt noch nicht berührt, oder? Und Drogen.«

»Wir haben das Thema Revolte noch nicht berührt«, sagte Kurtz.

»Nun, lassen Sie sich das von mir gesagt sein, Marty…«

Und das Sonderbare geschah: vielleicht der Beweis dafür, wie ein vollkommenes Publikum das Beste aus einer Schauspielerin herauszuholen und sie auf spontane, unerwartete Weise womöglich noch zu steigern vermag. Sie war im Begriff gewesen, ihnen ihre Standardnummer für die Nicht-Emanzipierten vorzuspielen. Dass die Entdeckung des eigenen Ichs ein wesentliches Vorspiel war, um sich mit der radikalen Bewegung zu identifizieren. Dass, wenn die Geschichte der neuen Revolution geschrieben werde, es sich herausstellen würde, dass ihre eigentlichen Wurzeln in den Wohnzimmern der Mittelschicht lägen, wo die repressive Toleranz ihre natürliche Heimat habe. Doch dann hörte sie sich zu ihrer eigenen Überraschung für Kurtz - oder war es für Joseph? - laut ihre vielen frühen Liebhaber sowie all die dummen Gründe aufzählen, die sie sich ausgedacht hatte, um mit ihnen ins Bett zu gehen. »Mir ist das unfasslich, Marty«, betonte sie und öffnete abermals entwaffnend die Hände. Ob sie das mit den Händen übertrieb? Sie fürchtete, das könnte durchaus sein, und so legte sie sie in den Schoß. »Selbst heute noch. Ich wollte sie gar nicht, ich mochte sie gar nicht, ich ließ sie einfach.« Die Männer, die sie sich aus Überdruss genommen hatte, egal was, nur um die schale Luft von Rickmansworth in Bewegung zu bringen, Marty. Aus Neugier. Männer, um sich ihre eigene Macht zu beweisen, Männer, um sich an anderen Männern - oder Frauen - zu rächen, an ihrer Schwester, an ihrer Scheiß-Mutter. Männer nur aus Höflichkeit, weil sie sich einfach nicht mehr gegen ihre Hartnäckigkeit habe wehren können, Marty. Die Rollen-Besetzungs-Couchen -Himmel, Marty, Sie haben ja keine Ahnung! Männer, um die Spannung abzubauen, Männer, um Spannung aufzubauen. Männer, um etwas von ihnen zu lernen - ihre politischen Aufkleber, dazu da, um ihr im Bett zu erklären, was aus Büchern herauszuholen sie nie schaffte. Die Fünf-Minuten-Lüste, die ihr in den Händen zerbrachen wie Töpferwaren und sie einsamer zurückließen denn je. Pleiten, Pleiten, jeder einzelne von ihnen, Marty - zumindest wollte sie ihn das glauben machen. »Aber sie haben mich frei gemacht, verstehen Sie das nicht? Ich habe meinen Körper auf meine Weise eingesetzt. Selbst wenn es nicht die richtige Weise war. Das war nun mal meine Show

Kurtz nickte weise, und Litvak neben ihm ließ den Kugelschreiber übers Papier huschen. Doch insgeheim stellte sie sich vor, wie Joseph hinter ihr saß. Sah ihn vor sich, wie er von seinen Blättern aufblickte, den kräftigen Zeigefinger an die Wange legte und das ganz persönlich für ihn bestimmte Geschenk ihrer erstaunlichen Offenheit entgegennahm. Fang mich auf, gab sie ihm zu verstehen; gib mir, was die anderen mir nie haben geben können. Dann verfiel sie in Schweigen, und ihr fröstelte dabei. Warum hatte sie das getan? Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie diese Rolle gespielt, nicht einmal für sich selbst. Die Zeitlosigkeit der nächtlichen Stunde verfehlte ihre Wirkung auf sie nicht. Die Beleuchtung, das Zimmer oben, das Gefühl, auf Reisen zu sein, im Zug mit Fremden zu sprechen. Sie wollte schlafen. Sie hatte genug getan. Entweder sie gaben ihr die Rolle, oder aber sie schickten sie nach Hause, oder beides.

Doch Kurtz tat nichts dergleichen. Noch nicht. Vielmehr kündete er eine kurze Pause an, nahm seine Uhr, schnallte sie sich mit dem khakifarbenen Armband ans Handgelenk. Dann schlurfte er aus dem Raum und nahm Litvak mit. Sie wartete auf die Schritte hinter sich, wenn auch Joseph den Raum verließ, doch es kamen keine. Und immer noch nicht. Sie wollte den Kopf drehen, wagte es jedoch nicht. Rose brachte ihr ein Glas gesüßten Tee, ohne Milch. Rachel hatte ein paar mit Zucker bestreute Kekse wie englische Butterplätzchen. Charlie nahm einen.

»Das hast du großartig gemacht«, gestand sie ihr atemlos. »Wie du ihnen das mit England unter die Nase gerieben hast. Ich hab’ einfach dagesessen, und es ist mir runtergegangen wie Öl, stimmt’s nicht, Rose?«

»Das kann man wohl sagen«, sagte Rose.

»Ich habe nur gesagt, wie mir zumute ist«, erklärte Charlie.

»Möchtest du mal aufs Klo, meine Liebe?« fragte Rachel.

»Nein, danke. Das tu’ ich nie zwischen zwei Akten.«

»Na schön«, sagte Rachel und zwinkerte verständnisvoll.

Charlie trank einen Schluck Tee und legte dabei einen Ellbogen auf die Lehne ihres Stuhls, um unauffällig einen Blick über die Schulter werfen zu können. Joseph war verschwunden und hatte seine Papiere mitgenommen. Der Raum, in den sie sich zurückgezogen hatte, war nicht so groß, wie das Zimmer, das sie verlassen hatten, aber genauso kahl. Ein paar Feldbetten und ein Fernschreiber bildeten die ganze Einrichtung; durch eine Doppeltür ging es ins Badezimmer. Becker und Litvak setzten sich einander gegenüber auf die Betten und vertieften sich in ihre Unterlagen; den Fernschreiber bediente ein sich betont gerade haltender junger Mann namens David. Gelegentlich ratterte der Apparat los und stieß wieder ein Blatt aus, das David ernst auf einen neben sich liegenden Stapel ablegte. Sonst war nichts weiter zu hören als das Rauschen von Wasser aus dem Bad, wo Kurtz sich mit nacktem Oberkörper am Waschbecken mit Wasser bespritzte wie ein Sportler zwischen zwei Wettkämpfen.

»Sie ist wirklich ein nettes Mädchen«, rief Kurtz, als Litvak umblätterte und am Rande etwas mit einem Filzstift anstrich. »Sie ist alles, was wir uns erhofft hatten. Intelligent, einfallsreich und unterbeschäftigt.«

»Sie lügt wie gedruckt«, sagte Litvak, der immer noch las. Dass seine Bemerkung nicht für Kurtz bestimmt war, merkte man an der Art, wie er den Körper vorstreckte, und der Überheblichkeit, mit der er das sagte.