»Mein Pony.«
»Haben sie das auch mitgenommen?« »Hab’ ich Ihnen doch schon gesagt.« »Zusammen mit den Möbeln? Im selben Möbelwagen?« »Nein, in einem anderen Laster. Seien Sie doch nicht albern.«
»Es waren also zwei Autos da. Beide zur selben Zeit? Oder einer nach dem anderen.«
»Das weiß ich nicht mehr.«
»Wo hielt sich Ihr Vater denn während dieser ganzen Zeit auf? Im Arbeitszimmer? Stand er am Fenster, und sah er nach, wie alles verschwand? Wie hält ein Mann sich - wenn die Schande so über ihn hereinbricht?«
»Er war im Garten.«
»Und tat dort was?«
»Er betrachtete die Rosen. Starrte sie an. Und wiederholte immer wieder, die dürfen sie nicht wegbringen. Was auch geschähe. Immer und immer wieder hat er das gesagt: ›Wenn sie meine Rosen mitnehmen, bring’ ich mich um.‹ «
»Und Ihre Mutter,«
»Mum war in der Küche und kochte. An was anderes konnte sie nicht denken.«
»Gas- oder Elektroherd?«
»Elektroherd.«
»Ja, habe ich mich da verhört? Hatten Sie nicht gesagt, das Elektrizitätswerk hätte den Strom abgestellt?« »Sie hatten ihn wieder angeschlossen.« »Und den Herd haben sie nicht abmontiert und mitgenommen?«
»Den mussten sie dalassen. Es gibt da eine gesetzliche Vorschrift: den Herd, einen Tisch und einen Stuhl für jeden, der im Haus wohnt.«
»Und Messer und Gabel?«
»Ein Besteck für jede Person.«
»Warum haben sie denn nicht einfach das Haus beschlagnahmt? Und Sie alle auf die Straße gesetzt?«
»Weil es auf Mutters Namen eingetragen war. Darauf hatte sie schon verjähren bestanden - dass das gemacht wurde.«
»Kluge Frau. Immerhin passierte das Ganze in Ihrem Elternhaus. Und wo, sagten Sie, hatte Ihre Internatsleiterin vom Bankrott Ihres Vaters gelesen?«
Fast hätte sie die Frage nicht mitbekommen. Für einen Moment verschwammen die Bilder vor ihrem geistigen Auge, doch dann nahmen sie wieder feste Umrisse an und lieferten ihr die Wörter, die sie brauchte: ihre Mutter mit fliederfarbenem Kopftuch über den Herd gebeugt, hektisch dabei, Arme Ritter zuzubereiten, ein Lieblingsgericht der Familie. Ihr Vater, in einem doppelreihigen Blazer, wie er grau im Gesicht und wortlos die Rosen betrachtete. Die Internatsleiterin, die Hände auf dem Rücken, wie sie ihren in Tweed gehüllten Körper vor dem nicht angezündeten Kamin in ihrem beeindruckenden Wohnzimmer wärmte. »In der London Gazette«, erwiderte Charlie stumpf. »Wo über alle Pleiten berichtet wird.«
»Hatte die Anstaltsleiterin die Gazette abonniert?«
»Vermutlich.«
Kurtz nickte ausdauernd und bedächtig, nahm dann einen Bleistift und schrieb das eine Wort vermutlich auf einen vor ihm liegenden Block, und zwar so, dass Charlie es lesen konnte. »So, und nach dem Bankrott kamen dann die Anklagen wegen Betrug. Richtig so? Wollen Sie uns nicht von der Verhandlung berichten?« »Ich habe Ihnen doch schon gesagt: Vater wollte nicht zulassen, dass wir dabei waren. Erst wollte er selbst seine Verteidigung übernehmen - den Helden spielen. Wir sollten vorn auf der ersten Bank sitzen und ihm Beifall klatschen. Als sie ihm dann aber die Beweise vorlegten, überlegte er es sich anders.«
»Wie lautete denn die Anklage?«
»Dass er seine Kunden betrogen hätte.«
»Und wie viel hat er bekommen?«
»Achtzehn Monate, ein Teil der Zeit wurde ihm erlassen. Das hab’ ich Ihnen doch schon erzählt, Marty. Habe ich doch schon alles gesagt. Was soll das?«
»Haben Sie ihn jemals im Gefängnis besucht?«
»Das hat er nicht erlaubt. Er wollte nicht, dass wir seine Schande sähen.«
»Seine Schande«, wiederholte Kurtz nachdenklich. »Seine Schande. Sein Sturz. Das ist Ihnen wirklich unter die Haut gegangen, was?«
»Würde ich Ihnen besser gefallen, wenn es das nicht getan hätte?«
»Nein, Charlie, ich glaube nicht.« Wieder machte er eine kleine Pause. »Nun ja, das hätten wir. Sie blieben also zu Hause. Gaben das Internat auf, verzichteten auf eine ordentliche Ausbildung ihres ausgezeichneten, sich gerade entwickelnden Geistes, kümmerten sich um Ihre Mutter, warteten auf die Entlassung Ihres Vaters. Stimmt’s?«
»Stimmt.«
»Und sind nicht ein einziges Mal ins Gefängnis gegangen?«
»Himmel!« flüsterte sie hoffnungslos. »Warum drehen Sie mir so das Messer im Bauch rum?«
»Sind nicht einmal in die Nähe gekommen?« »Nein!«
Sie hielt die Tränen mit einem Mut zurück, den sie bestimmt bewunderten. ›Wie hat sie nur damit fertig werden können?‹ mussten sie sich fragen. Sowohl damals wie jetzt? Warum stocherte er nur so unbarmherzig in ihren alten Wunden herum? Das Schweigen war wie eine Pause zwischen zwei Schreien. Man hörte nur das schabende Geräusch von Litvaks Kugelschreiber, der über die Seiten des Notizbuchs flog.
»Ist da was, womit du was anfangen kannst, Mike?« wandte Kurtz sich an Litvak, ohne den Blick von ihr zu wenden.
»Durchaus«, hauchte Litvak, während sein Kugelschreiber weiter übers Papier huschte. »Das beweist Mumm, da passt eines zum anderen, daraus lässt sich was machen. Ich möchte bloß wissen, ob sie nicht irgendwo eine zu Herzen gehende Anekdote über diese Gefängnissache hat. Oder vielleicht besser noch darüber, wie er wieder rausgekommen ist - über die letzten Monate - warum nicht?«
»Charlie?« sagte Kurtz knapp und gab Litvaks Frage weiter.
Charlie bemühte sich sichtlich, darüber nachzudenken, bis ihr dann ein Einfall kam. »Nun ja, da war diese Sache mit den Türen«, sagte sie zweifelnd.
»Mit den Türen?« fragte Litvak. »Was für Türen?«
»Warum erzählen Sie’s uns nicht?« ermunterte Kurtz sie.
Eine Pause, während Charlie eine Hand hob und sich vorsichtig mit Daumen und Zeigefinger über dem Nasenbein zwickte und dadurch tiefsten Kummer und eine leichte Migräne andeutete. Sie hatte die Geschichte schon oft erzählt, aber nie so gut wie jetzt. »Wir erwarteten ihn erst in einem Monat - er rief auch nicht an, wie sollte er auch? Wir waren umgezogen und lebten von der Wohlfahrt. Er kreuzte einfach auf, sah schlanker und jünger aus. Haare geschnitten. ›Hallo, Chas, ich bin entlassen.‹ Drüc kte mich an sich. Mum war oben, hatte viel zuviel Angst, um runterzukommen. Er war vollkommen unverändert. Bis auf die Sache mit den Türen. Die konnte er nicht aufmachen. Ging auf sie zu, blieb stehen, stand in Hab-Acht-Stellung da, den Kopf gesenkt, und wartete darauf, dass der Aufseher ihm aufschloss.« »Und der Aufseher - das war sie«, ließ Litvak sich leise neben Kurtz vernehmen. »Seine eigene Tochter. Donnerwetter!«
»Als es das erstemal passierte, konnte ich es nicht glauben. Ich schrie ihn an: ›Mach doch die Scheiß-Tür auf!‹ Aber seine Hand weigerte sich buchstäblich.«
Litvak schrieb wie ein Besessener. Kurtz hingegen war weniger begeistert. Er hatte die Nase wieder in die Unterlagen gesteckt, und sein Gesicht ließ erkennen, dass er ernste Vorbehalte hatte. »Charlie - ich habe hier ein Interview, das Sie mal gegeben haben - der Ipswich Gazette, stimmt’s? -, und darin erzählen Sie irgendeine Geschichte, wie Ihre Mutter und Sie gemeinsam eine Anhöhe vorm Gefängnis hinaufgestiegen sind, um zu winken, damit Ihr Vater Sie von seinem Zellenfenster aus sehen konnte. Aber nach dem, was Sie uns gerade eben erzählt haben, sind Sie nicht ein einziges Mal auch nur in die Nähe des Gefängnisses gekommen«