Hier etwa begann von der Straße her das Hupen des Wagens oder Taxis. Lage etwa mittleres C., mehrere kurze helle Töne, drei ungefähr. Sie schüttelten sich die Hand, und sie gab ihm den Schlüssel. Dabei bemerkte der Arbeits-Attache zum erstenmal, dass sie weiße Baumwollhandschuhe trug, doch sei sie die Art Mädchen gewesen und der Tag stickig, wenn man einen schweren Koffer schleppt. Infolgedessen weder die Handschrift noch Fingerabdrücke auf dem Block, und auf Koffer und Schlüssel auch nicht. Die ganze Begegnung hatte, wie der arme Mann hinterher schätzte, fünf Minuten gedauert. Länger nicht, wegen des Fahrers. Der Arbeits-Attache hatte ihr nachgesehen, wie sie den Gartenweg hinunterging - eine hübsche Art zu gehen, sexy, ohne bewusst aufreizend zu sein. Er hatte die Tür geschlossen, gewissenhaft die Sicherheitskette wieder vorgelegt und dann den Koffer in Elkes Zimmer getragen, das im Erdgeschoß lag, und ihn auf das Fußende des Bettes gelegt, wobei er fürsorglich noch daran gedacht hatte, ihn flach hinzulegen, weil das besser für die Kleider und die Platten sei. Den Schlüssel hatte er obendrauf gelegt. Seine Frau, die im Garten unverdrossen harte Erde mit der Hacke bearbeitete, hatte nichts gehört, und als sie später hereingekommen war, um sich zu den beiden Männern zu setzen, hatte ihr Mann vergessen, ihr davon zu erzählen. Hier kam es zu einer kleinen und sehr menschlichen Richtigstellung.
Vergessen? fragten die israelischen Ermittler ungläubig. Wie es denn möglich sei, solche häuslichen Umstände, bei denen es um eine Freundin von Elke aus Schweden ging, einfach zu vergessen! Wo der Koffer doch auf dem Bett gelegen habe? Der Arbeits-Attache brach abermals zusammen und gab zu, nein, vergessen habe er die Sache eigentlich nicht. Dann was? fragten sie.
Es sei mehr... es sah so aus... als ob er - auf seine einsame, innere Weise - zu dem Schluss gekommen sei, gesellschaftliche Dinge hätten im Grunde aufgehört, seine Frau im geringsten zu interessieren, Sir. Ihr einziger Wunsch sei es, in ihren Kibbuz zurückzukehren und frei und ohne das alberne diplomatische Getue mit Menschen zu verkehren. Anders ausgedrückt - nun, das Mädchen war so hübsch, Sir - nun, vielleicht täte er besser daran, sie für sich zu behalten. Und was den Koffer betrifft, nun, meine Frau geht nie in Elkes Zimmer, verstehen Sie - ging, meine ich -, Elke kümmert sich selbst um ihr Zimmer. Und der Talmud-Gelehrte, der Onkel Ihrer Frau? Dem hatte der Arbeits-Attache auch nichts gesagt. Von beiden bestätigt. Sie schrieben es kommentarlos hin: sie für sich zu behalten.
Wie ein Geisterzug, der plötzlich von den Gleisen verschwindet, hatte damit der Gang der Ereignisse ein Ende. Elke, der Wolf tapfer zur Seite stand, wurde nach Bonn zurückgeholt und kannte keine Katrin. Elkes Privatleben wurde durchforstet, doch das brauchte seine Zeit. Ihre Mutter hatte weder einen Koffer geschickt, noch wäre sie im Traum darauf gekommen, so etwas zu tun - was die Musik betreffe, so habe sie etwas gegen den schlechten Geschmack ihrer Tochter, erzählte sie der schwedischen Polizei; nie würde sie auf den Gedanken kommen, sie darin auch noch zu bestärken. Wolf kehrte untröstlich zu seiner Einheit zurück und wurde ermüdenden, aber richtungslosen Verhören des militärischen Abwehrdienstes unterworfen. Ein Taxichauffeur meldete sich nicht, obgleich ihn Polizei und Presse in ganz Deutschland aufforderten, sich zu melden, und ihm in absentia eine Menge Geld für seine Geschichte geboten wurde. In den Passagierlisten, Computern und Datenbänken der anderen deutschen Flugplätze, von Köln ganz zu schweigen, fand sich keine passende Reisende aus Schweden oder sonst woher. Beim Arbeits-Attache klingelte es nicht beim Anblick von Fahndungsfotos der bekannten und unbekannten Terroristinnen samt dem Tross der ›Halb-Illegalen‹ ; dabei war er fast wahnsinnig vor Kummer und hätte jedem geholfen, um nur irgendetwas zu tun, und sei es nur, um selbst das Gefühl zu haben, zu etwas nutze zu sein. Er konnte sich weder daran erinnern, was für Schuhe das Mädchen angehabt, noch, ob sie Lippenstift, Parfüm oder Mascara benutzt habe, ob ihr Haar gebleicht gewesen sei oder sie womöglich gar eine Perücke getragen habe. Wie komme er, so ließ er durchblicken - er, der von seiner Ausbildung her Wirtschaftswissenschaftler sei, in jeder Beziehung sonst ein treu- und warmherziger Bursche, der verheiratet sei und sich außer für Israel und die Familie nur noch für Brahms interessierte -, wie komme er dazu, etwas vom Haarfärben zu verstehen?
Jawohl, daran erinnere er sich: sie habe gute Beine und einen sehr weißen Hals gehabt. Und lange Ärmel, ja; sonst wären ihm ihre Arme aufgefallen. Jawohl, einen Petticoat oder ähnliches; sonst hätte er bei dem Sonnenlicht hinter ihr draußen wohl die Körperumrisse wahrgenommen. Einen BH? -Vielleicht nicht. Sie habe einen kleinen Busen gehabt und sehr gut ohne auskommen können. Lebende Modelle wurden für ihn angezogen. Er muss sich hundert verschiedene blaue Kleider angesehen haben, die alle möglichen Kaufhäuser aus ganz Deutschland schickten, aber er konnte sich um alles auf der Welt nicht daran erinnern, ob Kragen und Ärmelbündchen von anderer Farbe gewesen waren; so groß seine innere Qual auch war, sie half seinem Gedächtnis nicht auf die Sprünge. Je mehr sie ihn fragten, desto mehr vergaß er. Die üblichen Zufallszeugen bestätigten zwar Teile seiner Aussage, hatten aber nichts von Belang hinzuzufügen. Den Polizeistreifen war der Zwischenfall vollkommen entgangen; vermutlich war die Übergabe der Bombe zeitlich darauf abgestimmt gewesen. Der Koffer hätte von zwanzig verschiedenen Marken sein können. Beim Wagen oder Taxi hatte es sich um einen Opel gehandelt, oder um einen Ford; er war grau gewesen, nicht besonders sauber und weder alt noch neu. Bonner Nummernschild? Nein, aus Siegburg. Ja, mit Taxizeichen auf dem Dach. Nein, ein Schiebedach, und jemand hatte Musik herauskommen hören, doch welches Programm, konnte nicht festgestellt werden. Jawohl, eine Antenne. Nein, keine. Beim Fahrer hatte es sich um einen Nordeuropäer gehandelt, möglicherweise auch um einen Türken. So was hatten Türken schon getan.
Glattrasiert, aber mit Lippenbart und dunklem Haar. Nein, blond. Leicht gebaut; könnte eine als Mann verkleidete Frau gewesen sein. Jemand war sicher, dass an der Heckscheibe ein kleiner Schornsteinfeger gebaumelt hatte. Könnte aber auch ein Aufkleber gewesen sein. Jawohl, ein Aufkleber. Jemand behauptete, der Fahrer habe einen Anorak getragen. Möglicherweise aber auch einen Pullover. An diesem toten Punkt schien die Gruppe der israelischen Experten in eine Art kollektiven Komas zu verfallen. Sie wurden lethargisch, kamen spät und gingen früh und verbrachten viel Zeit in ihrer Botschaft, wo sie offenbar neue Anweisungen erhielten. Tage vergingen, und Alexis kam zu dem Schluss, dass sie auf etwas warteten. Die Zeit totschlugen, aber doch irgendwie da waren. Unter Dampf standen und sich doch in Geduld fassten, so wie es Alexis viel zu oft selbst ging. Er besaß einen ungewöhnlich guten Riecher, solche Dinge lange vor seinen Kollegen zu erkennen. Wenn er versuchte, sich in Juden hineinzuversetzen, meinte er, in einem erlauchten Vakuum zu leben. Am dritten Tag stieß ein breitgesichtiger älterer Mann, der sich Schulmann nannte, zu dem Ermittlungsteam; begleitet wurde er von einem sehr dünnen Assistenten, der höchstens halb so alt war wie er. Alexis sah in ihnen einen jüdischen Caesar und seinen Cassius.
Das Eintreffen von Schulmann und seinem Adlatus bedeutete für den guten Alexis eine nicht geringe Befreiung von der aufgestauten Wut über seine eigene Ermittlung und von der Lästigkeit, überall den schlesischen Polizeibeamten auf den Fersen zu haben, der zunehmend das Verhalten eines Nachfolgers statt dem eines Assistenten an den Tag legte. Als erstes fiel ihm bei Schulmann auf, dass er die Temperatur der israelischen Expertengruppe augenblicklich ansteigen ließ. Bis zu Schulmanns Eintreffen hatten die sechs Männer den Eindruck gemacht, als fehlte ihnen etwas. Sie waren höflich gewesen, hatten keinen Alkohol getrunken, hatten ihre Netze ausgespannt und untereinander den dunkeläugigen orientalischen Zusammenhalt einer Kampfgruppe bewahrt. Ihre Selbstbeherrschung konnte Außenstehende ganz schön aus der Fassung bringen, und als der umständliche Schlesier bei einem schnellen Mittagessen in der Kantine auf den Gedanken verfiel, Witze über koscheres Essen zu machen, sich herablassend über die Schönheiten ihrer Heimat auszulassen, und sich dann auch noch gestattete, sehr abfällig über die Qualität israelischen Weins zu sprechen, nahmen sie diese Huldigung mit einer Höflichkeit auf, von der Alexis wusste, dass sie sie Blut kostete. Selbst als er fortfuhr, über die Wiederbelebung der jüdischen Kultur in Deutschland sowie die geschickte Art zu reden, mit der die neuen Juden die Grundstückspreise in Frankfurt und Berlin in die Höhe getrieben hätten, hielten sie ihre Zunge noch im Zaum, obwohl die finanziellen Machenschaften von Schtetel-Juden, die dem Ruf nach Israel nicht gefolgt waren, sie insgeheim genauso abstießen wie die Plumpheit ihrer Gastgeber. Dann jedoch, als Schulmann da war, wurde plötzlich alles auf ganz andere Weise klar. Er war der Anführer, auf den sie gewartet hatten: Schulmann aus Jerusalem, dessen Ankunft ein paar Stunden im voraus durch einen verwirrten Anruf von der Zentrale in Köln angekündigt worden war.