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Charlie brachte es sogar fertig zu lachen - ein volltönendes Lachen, auch wenn von den Schatten kein Echo kam. »Aber, Marty, das war ein Interview, das ich gegeben habe«, sagte sie nachsichtig, weil er ein so ernstes Gesicht machte.

»Ja, und?«

»In Interviews motzt man die eigene Vergangenheit doch immer ein bisschen auf, um sie interessant zu machen.« »Haben Sie das hier bei uns etwa auch gemacht?« »Selbstverständlich nicht.«

»Quilley, Ihr Agent, hat irgendeinem Bekannten von uns vor kurzem erzählt, Ihr Vater sei im Gefängnis gestorben. Keineswegs zu Hause. Auch aufgemotzt?«

»Das hat Ned erzählt, nicht ich.«

»Richtig. Also gut. Einverstanden.«

Er klappte den Ordner zu, immer noch nicht überzeugt.

Sie konnte nicht anders. Sie drehte sich auf dem Stuhl um, wandte sich an Joseph und bat ihn indirekt, ihr aus der Klemme zu helfen. »Wie läuft es, Jose - gut?« »Sehr wirksam, würde ich sagen«, erwiderte er und beschäftigte sich auch weiterhin mit seinen eigenen Sachen. »Besser als in der Heiligen Johanna

»Aber, meine liebe Charlie - dein Text ist weit besser als der von Shaw.«

Er gratuliert mir nicht, sondern tröstet mich, dachte sie bekümmert. Aber warum war er nur so streng mit ihr. So spröde? Warum gab er sich so unnahbar, nachdem er sie doch hierher gebracht hatte? Rose aus Südafrika brachte ein Tablett mit Sandwiches. Rachel folgte ihr mit Keksen und einer Thermoskanne süßem Kaffee. »Wird hier niemals geschlafen?« beschwerte Charlie sich und griff zu. Doch niemand hörte ihre Frage. Oder vielmehr, weil alle sie durchaus gehört hatten, ging keiner darauf ein.

Die leichte, die mühelose Zeit war vorbei, und jetzt kam die lang erwartete gefährliche Phase, die Zeit der erhöhten Wachsamkeit vor Tagesanbruch, da ihr Kopf am klarsten und ihr Zorn am heftigsten war - mit anderen Worten die Zeit, da Charlies zurückgestellte politische Einstellung - von der Kurtz ihr versichert hatte, dass sie alle tiefste Hochachtung davor hätten - hervorgeholt und ihr Dampf gemacht werden sollte. Wieder lag alles in Kurtz’ Händen und lief nach einer bestimmten Reihenfolge und festgelegten Logik ab. Frühe Einflüsse, Charlie. Daten, Orte, Menschen, Charlie: Nennen Sie uns Ihre fünf Grundsätze, von denen Sie sich leiten lassen, ihre ersten zehn Begegnungen mit der militanten Alternative. Aber Charlie war nicht mehr nach Objektivität zumute. Ihr toter Punkt war vorüber, und jetzt begann ein Gefühl des Aufbegehrens in ihr zu rumoren, wie die Munterkeit ihrer Stimme und ihre flink hin und her schießenden Blicke ihnen hätten verraten sollen. Sie hatte sie alle satt bis obenhin. War es leid, in dieser Waffenbrüderschaft auch noch hilfreich zu sein, mit verbundenen Augen von einem Raum in den anderen geführt zu werden, ohne zu wissen, was diese durchtrainierten, sie willkürlich führenden Hände an ihrem Ellbogen machten und was diese klugen Stimmen ihr ins Ohr flüsterten. Das Opfer in ihr wartete nur darauf, endlich kämpfen zu können.

»Charlie, was Sie uns jetzt sagen, ist ausschließlich, wirklich ausschließlich für die Unterlagen bestimmt«, erklärte ihr Kurtz. »Haben wir es erst mal in unseren Unterlagen festgehalten, werden wir in der Lage sein, Ihnen ein paar Schleier abzunehmen«, versicherte er ihr. Trotzdem ließ er sich nicht davon abbringen, sie noch einmal durch einen ermüdenden Katalog von Demos und Sit-ins, Protestmärschen und Besetzungen und Samstag-nachmittag-Revolutionen hindurchzuführen und sie in jedem einzelnen Fall nach dem auszufragen, was er ›die Beweggründe‹ nannte, die hinter ihren Handlungen gestanden hätten.

»Himmelherrgott, hören Sie endlich auf, uns kritisch zu beurteilen, ja?« fuhr sie ihn an. »Man kann uns nicht logisch erklären, wir verfügen nicht über besondere Informationen, wir sind nicht organisiert...«

»Ja, was sind Sie dann, meine Liebe?« fragte Kurtz mit heiligmäßiger Freundlichkeit.

»Und lieb sind wir auch nicht. Wir sind Menschen. Erwachsene Menschen, kapiert? Hören Sie also endlich auf, mich zu quälen!«

»Charlie, wir quälen Sie doch nicht. Niemand hier will Sie quälen.« »Ach, ihr könnt mich alle mal!«

Sie hasste sich in dieser Stimmung. Hasste die Schroffheit, die in ihr durchbrach, wenn man sie in die Ecke trieb. Sie sah sich, wie sie furchtlos mit ihren schwachen Frauenfäusten gegen eine riesige Holztür hämmerte, während ihre kreischende Stimme mit gefährlich unüberlegten Schlagworten kämpfte. Gleichzeitig liebte sie jedoch die leuchtenden Farben, die sich zusammen mit ihrem Zorn einstellten, das herrliche Befreit-Sein, das zerschlagene Porzellan. »Wozu soll es gut sein, an was zu glauben, ehe man etwas ablehnt?« wollte sie wissen und erinnerte sich damit an eine großartige Phrase, die Long Al ihr - oder war es jemand anders gewesen - eingetrichtert hatte. »Vielleicht heißt etwas ablehnen, ja glauben. Ist das Ihnen jemals aufgegangen? Wir führen einen anderen Krieg, Marty - den wirklichen. Da steht nicht Macht gegen Macht oder Ost gegen West. Da stehen die Hungrigen gegen die Schweine, Sklaven gegen Unterdrücker. Sie glauben, Sie sind frei, nicht wahr? Aber das sind Sie nur, weil jemand anders in Ketten liegt. Sie essen, dafür muss jemand anders verhungern. Sie laufen, jemand anders steht still. Wir müssen das Ganze verändern.«

Einst hatte sie das geglaubt; hatte es wirklich geglaubt. Vielleicht tat sie das immer noch. Sie hatte es erkannt und sah es ganz klar vor Augen. Sie hatte damit bei Wildfremden angeklopft und beobachtet, wie sich die Feindseligkeit aus ihrem Gesicht verflüchtigte, sobald sie erst mal bis zu ihnen durchgedrungen war. Sie hatte es gefühlt und war dafür auf die Straße gegangen: für das Recht der Menschen, das Denken der Menschen zu befreien, sich gegenseitig aus dem Morast kapitalistischer und rassistischer Konditioniertheit herauszuziehen und sich einander zwanglos und brüderlich zuzuwenden. Dort draußen vermochte diese Vision an einem klaren Tag auch heute noch ihr Herz zu füllen und sie zu mutigen Taten hinzureißen, vor denen sie, wenn die Begeisterung sich nicht erfüllte, zurückgeschreckt wäre. Aber hier in diesen vier Wänden und umgeben von all diesen klugen Gesichtern war kein Raum für sie, um ihre Flügel auszubreiten.

Sie versuchte es noch einmal, mit schriller Stimme diesmaclass="underline" »Wissen Sie, Marty, einer der Unterschiede, wenn man so alt ist wie Sie und so alt wie ich, liegt doch darin, dass es uns einfach nicht gleichgültig ist, für wen wir unsere Existenz aufs Spiel setzen. Aus irgendeinem Grunde sind wir nun mal nicht scharf darauf, unser Leben für eine multinationale Gesellschaft mit Sitz in Liechtenstein und Bankkonto auf den Holländischen Antillen zu opfern!« Das nun hatte sie ganz bestimmt von Al. Sie übernahm sogar sein sarkastisches Gekrächze, um es herauszubringen. »Wir finden es einfach nicht in Ordnung, dass Menschen, die wir nicht kennen, von denen wir noch nie gehört und die wir auch nicht gewählt haben, sich anmaßen, die Welt für uns zu ruinieren. Wir lieben nun mal keine Diktatoren, so komisch das ist, egal, ob es Gruppen von Leuten sind oder Gruppen von Ländern oder Institutionen. Und wir haben auch nichts für Rüstungswettlauf, chemische Kriegführung oder irgendetwas sonst übrig, was dieses Katastrophenspiel bestimmt. Wir sind der Meinung, dass der jüdische Staat nicht unbedingt eine imperialistische amerikanische Garnison sein muss, und glauben auch nicht, dass die Araber verlauste Wilde oder dekadente Ölscheichs sind. Abo lehnen wir ab. Statt bestimmte Leitbilder zu haben - oder bestimmte Vorurteile und Bindungen. Deshalb ist Ablehnung was Positives, oder? Weil es was Positives ist, diese Dinge nicht zu haben, kapiert?«

»Nun mal genau, Charlie, die Welt wie ruinieren?« fragte Kurtz, während Litvak geduldig weiterschrieb.

»Indem man sie vergiftet. Sie verbrennt. Sie mit Schadstoffen und Kolonialismus und der totalen, berechneten geistigen Knüppelung der Arbeiter verschandelt und...« Und der andere Text fällt mir gleich wieder ein, dachte sie. »Also kommen Sie nicht, und fragen Sie mich nicht nach den Namen und Adressen meiner fünf Haupt-Gurus - einverstanden, Marty? Die hab’ ich nämlich hier drin« - sie klopfte sich an die Brust - »und seien Sie nicht so verdammt überheblich, wenn ich Ihnen nicht die ganze beschissene Nacht lang Che Guevara zitieren kann; fragen Sie mich doch einfach, ob ich möchte, dass die Welt nicht untergeht, und ob meine Kinder...« »Können Sie Che Guevara zitieren?« fragte Kurtz interessiert.