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»Nein.«

»Charlie, jetzt nehmen Sie doch mal Vernunft an. Wie kann ein Mensch von Ihrer allzu unterschätzten Intelligenz so etwas wie eine förmliche Resolution nach einem Drei-Tage-Seminar vergessen? Etwas, was man aufsetzt und formuliert - worüber man abstimmt - was angenommen wird oder nicht angenommen wird - unterzeichnet oder nicht unterzeichnet? Wie machen Sie das? Eine Resolution zu verfassen, ist doch ein mühseliger, ereignisreicher Vorgang, verdammt noch mal. Warum sind Sie plötzlich so vage, wo Sie doch, wenn es um anderes geht, von so wunderbarer Klarheit sein können?«

Es war ihr egal. Es war ihr alles so verdammt egal, dass sie sich nicht einmal die Mühe machte, ihm zu sagen, dass es ihr egal sei. Sie war hundemüde. Sie wollte sich wieder hinsetzen, schaffte es aber einfach nicht. Sie wollte eine Unterbrechung, wollte aufs Klo und Zeit haben, ihr Make-up aufzufrischen, wollte fünf Jahre schlafen. Es war ihr nichts geblieben als ein Restgefühl, was sich auf der Bühne schickte, und das sagte ihr, sie müsse stehen bleiben und es durchstehen.

Unter ihr hatte sich Kurtz ein neues Papier aus der Aktenmappe herausgefischt. Nachdem er besorgt darüber nachgedacht hatte, wandte er sich an Litvak mit der Frage: »Sie hat gesagt, zweimal, richtig?«

»Auf keinen Fall mehr als zweimal«, bestätigte Litvak. »Sie haben ihr jede Chance gegeben höherzugehen, aber sie hat sich auf zwei versteift.«

»Und wie oft war es von uns aus gesehen?«

»Fünfmal.«

»Wieso kommt sie dann auf zwei?«

»Sie untertreibt«, erklärte Litvak und schaffte es, noch enttäuschter dreinzublicken als sein Kollege. »Sie untertreibt um fast zweihundert Prozent.«

»Dann lügt sie«, sagte Kurtz, dem es offenbar schwer fiel, sich mit dem abzufinden, was das bedeutete.

»Das kann man wohl sagen«, sagte Litvak.

»Ich habe nicht gelogen. Ich hab’s vergessen. Es war Al. Ich bin wegen Al mitgegangen, das ist alles.«

Unter den Kugelschreibern in der obersten Brusttasche seiner Buschjacke verwahrte Kurtz auch noch ein khakifarbenes Taschentuch. Jetzt holte er es heraus und fuhr sich damit merkwürdig übers Gesicht, als ob er Staubwischen wollte. Am Mund endete die Bewegung, und er steckte das Taschentuch wieder in die Tasche. Dann legte er die Uhr noch mal woandershin, schob sie von der linken auf die rechte Seite, als wäre es ein Ritual, das nur für ihn allein Bedeutung hätte. »Sie wollen sich nicht setzen?«

»Nein.«

Ihre Weigerung stimmte ihn nur noch trauriger. »Charlie, ich verstehe Sie nicht mehr. Mein Vertrauen zu Ihnen schwindet mehr und mehr.«

»Dann lassen Sie’s doch schwinden, verdammt noch mal! Suchen Sie sich jemand anders, den Sie rumschubsen können! Wieso komme ich überhaupt dazu, mit irgendwelchen israelischen Halsabschneidern Gesellschaftsspiele zu spielen? Zieht doch los und jagt noch ein paar Araber mit ihrem Auto in die Luft! Lasst mich aus den Klauen! Ich hasse euch! Alle miteinander!«

Während sie dies sagte, hatte Charlie ein sonderbares Gefühl; ihr war, als hörten sie ihr nur halb zu und als konzentrierte sich die andere Hälfte ihrer Aufmerksamkeit darauf, ihre Technik zu studieren. Hätte jemand gerufen: »So, diese Passage noch einmal, Charlie. Vielleicht etwas langsamer« - sie wäre kein bisschen überrascht gewesen. Doch Kurtz war mittlerweile soweit, endlich zur Sache zu kommen, und nichts auf seines jüdischen Gottes Erde - das wusste sie inzwischen sehr wohl - konnte ihn davon abhalten. »Charlie, ich verstehe Ihre Ausflüchte nicht«, beharrte er. Seine Stimme kam wieder in Fahrt. Sie hatte nichts von ihrer alten Eindringlichkeit verloren. »Ich begreife einfach nicht die Diskrepanzen zwischen der Charlie, die Sie uns bieten, und der Charlie, wie sie uns aus unseren Unterlagen entgegentritt. Ihr erster Besuch dieser Revolutions-Schule fand am 15. Juli vorigen Jahres statt. Es handelte sich um einen Einführungskurs für Anfänger, der ganz allgemein unter dem Thema Kolonialismus und Revolution stand. Und richtig, Sie alle fuhren mit dem Bus hin, eine Gruppe von Leuten, die alle von der Bühne waren; Alastair gehörte auch dazu. Ihr zweiter Besuch - auch wieder mit Alastair - fand einen Monat später statt; diesmal hatten Sie und Ihre Kommilitonen es mit einem sogenannten Exil-Bolivianer zu tun, der seinen Namen nicht nennen wollte; und mit einem gleichfalls namenlosen Herrn, der behauptete, für den provisorischen Flügel der IRA zu sprechen. Großzügig, wie Sie waren, haben Sie beiden Organisationen je einen Scheck über fünf Pfund ausgestellt; die Fotokopien dieser Schecks haben wir hier vorliegen.«

»Ich hab’ das für Al getan. Er war pleite.«

»Zum dritten Mal fuhren Sie einen Monat später hin; bei dieser Gelegenheit haben Sie an einer leidenschaftlich geführten Diskussion über das Werk des amerikanischen Denkers Thoreau teilgenommen. Das Verdikt, zu dem die Gruppe kam - und dem Sie sich anschlössen - lautete, dass Thoreau in Sachen Militanz ein verblasener Idealist mit sehr wenig praktischem Verständnis für tatkräftiges Handeln sei -kurz gesagt: ein Trottel. Sie unterstützten dieses Verdikt nicht nur, sondern gaben sogar noch den Anstoß für eine Zusatzresolution, in der größerer Radikalismus von Seiten aller Genossen gefordert wurde.«

»Doch nur wegen Al! Ich wollte, dass er mich akzeptiert, wollte Al gefallen. Am nächsten Tag hatte ich das schon vergessen!«

»Im kommenden Oktober, waren Sie und Alastair wieder da, diesmal zu einer ganz besonders passenden Schulung mit dem Thema ›Bürgerlicher Faschismus in der kapitalistischen Gesellschaft des Westens‹ , und diesmal spielten Sie eine führende Rolle bei den Gruppendiskussionen, wobei Sie Ihre Genossen mit vielen tiefsinnigen Anekdoten über Ihren kriminellen Vater, Ihre kindische Mutter und Ihre repressive Erziehung ganz allgemein beglückten.« Sie hatte aufgegeben zu protestieren. Sie hatte aufgehört nachzudenken und zu begreifen. Sie hatte absichtlich alles vor den Augen verschwimmen lassen, ein Stück Fleisch von der Mundinnenseite zwischen die Zähne genommen und biss zaghaft darauf herum, um sich zu bestrafen. Aber sie konnte nicht aufhören zuzuhören; das ließ Martys Stimme nicht zu. »Und zum allerletzten Mal waren Sie dann, wie Mike hier uns sagte, im Februar dieses Jahres dort, wobei Sie und Alastair eine Sitzung mit Ihrer Anwesenheit beehrten, deren Thema Sie eigensinnig verdrängt haben, bis eben jedenfalls, als Sie sich zu einer Verteufelung des Staates Israel hinreißen ließen. Diesmal ging es in der Diskussion ausschließlich um die beklagenswerte Expansion des Welt-Zionismus und seine Verzahnung mit dem amerikanischen Imperialismus. Der Hauptakteur war ein Herr, der dem Vernehmen nach die palästinensische Revolution vertrat, wenn er sich auch weigerte zu erklären, zu welchem Flüge! dieser großen Bewegung er gehörte. Er weigerte sich sogar im wahrsten Sinne des Wortes, sich zu enthüllen, da er sein Gesicht hinter einer Wollmütze verbarg, die ihm das passende unheimliche Aussehen verlieh. Erinnern Sie sich immer noch nicht an diesen Redner?« Er ließ keine Zeit zu antworten. »Das Thema, über das er sprach, war sein eigenes Heldenleben als großer Kämpfer und Zionistenkiller. ›Die Pistole ist der Pass für meine Rückkehr in die Heimat‹ , erklärte er. ›Wir sind keine Flüchtlinge mehr. Wir sind Revolutionäre!‹ Er löste eine gewisse Beunruhigung um sich herum aus, und ein oder zwei Stimmen - die Ihre war nicht dabei - fanden, dass er ein wenig zu weit gegangen sei.« Er hielt inne, doch sie sprach immer noch nicht. Er zog seine Uhr dichter an sich heran und lächelte sie ein wenig trübe an. »Warum erzählen Sie uns diese Dinge nicht, Charlie? Warum winden Sie sich von Fall zu Fall durch und wissen nicht, was für einen Bären Sie uns als nächstes aufbinden sollen? Habe ich Ihnen nicht versichert, dass wir darauf angewiesen sind, Ihre Vergangenheit genau zu kennen? Und dass sie uns außerordentlich gut gefällt?« Wieder wartete er geduldig auf eine Antwort, doch vergebens. »Wir wissen, dass Ihr Vater nie ins Gefängnis gekommen ist. Dass der Gerichtsvollzieher nie bei Ihnen war und kein Mensch Ihnen Ihr Pony weggenommen hat. Der arme Mann ging aus Unachtsamkeit bankrott, eine kleine Pleite, bei der kein Mensch irgendwelchen Schaden erlitt, außer ein paar Bankmanagern am Ort. Das Verfahren wurde in allen Ehren aufgehoben, wenn man das so nennt, und zwar lange vor seinem Tode; ein paar Freunde sammelten etwas Geld, und Ihre Mutter blieb ihm eine stolze, ergebene Frau. Es war auch nicht Ihres Vaters Schuld, dass Sie vorzeitig von der Schule abgingen, sondern allein Ihre eigene. Sie hatten sich -lassen Sie mich das mal so ausdrücken - in der Kleinstadt, wo das Internat lag, ein wenig zu bereitwillig mit ein paar Jungs eingelassen, was prompt den Lehrern zugetragen wurde. Folglich wurden Sie Hals über Kopf als verderbtes und potentiell gefährliches Element von der Schule gejagt und zu Ihren sträflich nachsichtigen Eltern zurückgeschickt, die Ihnen zu Ihrer großen Frustration sämtliche Übertretungen verziehen und sich nach Kräften bemühten, Ihnen alles zu glauben, was Sie ihnen erzählten. Im Laufe der Jahre haben Sie eine einleuchtende Geschichte um das Ereignis gewoben, um es ertragen zu können, und glauben sie inzwischen selber, obwohl die Erinnerung daran Ihnen insgeheim immer noch schwer zu schaffen macht und Sie viele merkwürdige Wege einschlagen lässt.« Und wieder legte er seine Uhr an einen sicheren Platz auf dem Tisch. »Wir sind Ihre Freunde, Charlie. Denken Sie etwa, wir würden Ihnen wegen so etwas je Vorwürfe machen? Glauben Sie etwa, wir verstünden nicht, dass Ihre politischen Einstellungen Ausdruck einer Suche nach Größe und nach Antworten sind, die Ihnen versagt wurden, als Sie sie am meisten brauchten? Wir sind Ihre Freunde, Charlie. Wir sind nicht mittelmäßig, gelangweilt, antriebslos, Vertreter des suburbia-esthablishments und Konformisten. Wir möchten teilhaben an dem, was Sie tun, es uns zunutze machen. Warum sitzen Sie da und führen uns an der Nase herum, wo wir doch nichts anderes von Ihnen hören wollen als die unbeschönigte, objektive Wahrheit, und zwar von Anfang bis Ende? Warum versuchen Sie, Ihren Freunden Knüppel zwischen die Beine zu werfen, statt uns von ganzem Herzen Vertrauen zu schenken?« Die Wut überschwemmte sie wie eine kochende See. Sie wurde von ihr emporgehoben und gereinigt; sie spürte, wie sie anschwoll, und ergab sich ihr als ihrer einzigen echten Verbündeten. Mit der ihrem Beruf eigenen Berechnung ließ sie zu, dass sie ganz und gar davon beherrscht wurde, während sie selbst, dieses winzige gyroskopische Geschöpf tief drinnen, das es stets schaffte, nicht umzufallen, dankbar auf Zehenspitzen seitlich in den Kulissen verschwand, um von dort aus zuzusehen. Zorn ließ ihre Bestürzung aussetzen und linderte den Schmerz ihrer Bloßstellung; Zorn ließ sie wieder klare Gedanken fassen und klar sehen. Sie trat einen Schritt vor und hob die Faust, um sie auf ihn niederfahren zu lassen, doch er war ihr an Jahren zu überlegen, zu unerschrocken und hatte schon zu viele Schläge einstecken müssen. Außerdem war da unmittelbar hinter ihr etwas, was noch erledigt werden musste.