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Im Badezimmer stand Charlie da, den Kopf an die Wand gelehnt, und schluchzte, während Rachel Wasser ins Waschbecken einlaufen ließ und Rose für alle Fälle draußen wartete.

»Ich begreife nicht, wie du England auch nur eine Minute aushältst«, sagte Rachel und legte Seife und Handtuch für sie bereit. »Ich hab’ das fünfzehn Jahre durchgemacht, ehe wir weggingen. Ich dachte, ich müsste sterben. Kennst du Macclesfield? Das ist der Tod. Zumindest, wenn man Jüdin ist. Dieses Klassendenken, diese Kälte und diese Heuchelei! Für mich ist das der elendigste Ort auf der ganzen Welt, dieses Macclesfield, als Jüdin, glaub mir. Ich hab’ mir im Bad die Haut mit Zitronensaft abgeschrubbt, weil man mir sagte, sie sei teigig. Geh nicht ohne mich in die Nähe dieser Tür, ja, Liebes, ich müsste dich davon abhalten.«

Der Morgen graute, es war also Zeit, zu Bett zu gehen, und sie war wieder bei ihnen, und nirgends sonst wollte sie lieber sein. Sie hatten ihr ein bisschen erzählt, waren über die Geschichte hingestrichen, so wie ein Scheinwerfer über eine dunkle Einfahrt fährt und einen flüchtigen Blick auf das freigibt, was auch immer sich darin verbirgt. Stell dir vor, sagten sie -und erzählten ihr von einem vollkommenen Liebhaber, den sie nie kennengelernt hatte. Ihr war das ziemlich egal. Sie legten Wert auf sie. Sie kannten sie durch und durch; wussten um ihre Verletzlichkeit und um ihre vielen Masken. Und wollten sie trotzdem noch. Sie hatten sie gestohlen, um sie zu retten. Nach all ihrem Sichtreibenlassen - endlich dieser gerade Kurs. Nach all ihrer Schuld und Verheimlicherei - Billigung und Vertrauen. Nach all ihren Worten - auf der anderen Seite nun Handeln, Mäßigung, Zielstrebigkeit, Echtheit und aufrichtige Verpflichtung, jene Leere in ihr auszufüllen, die wie ein gelangweilter Dämon in ihr gegähnt und geschrieen hatte, solange sie sich erinnern konnte. Sie war ein Federgewicht, das von einem Sturmwind um und um gewirbelt worden war, aber plötzlich - zu ihrer Überraschung und Erleichterung - waren sie es, die die Richtung des Windes bestimmten.

Sie legte sich zurück, ließ sich von ihnen tragen, von ihnen annehmen, von ihnen nehmen. Gott sei Dank, dachte sie: endlich eine Heimat. Du wirst dich selbst spielen, mehr sogar noch, sagten sie - und wann jemals hatte sie das nicht getan? Dich selbst, und dein ganzes blendendes Können ist dabei aufgerufen, sagten sie - nenn es mal so. Nennt es, wie ihr wollt, dachte sie. Ja, ich höre zu. Ja, ich folge.

Sie hatten Joseph den Vorsitz an der Mitte des Tisches übergeben. Litvak und Kurtz saßen unbewegt wie Monde links und rechts von ihm. Josephs Gesicht war flammendrot, wo sie ihn getroffen hatte; eine Kette von kleinen Schrammen lief ihm über die linke Wange, dort, wo die Backenknochen hervorstanden. Durch die Jalousiestäbe wurden Leitern aus Frühlicht auf die Dielenbretter und den leichten Klapptisch geworfen. Sie hörten auf zu reden.

»Habe ich schon entschieden?« fragte sie ihn.

Joseph schüttelte den Kopf. Dunkle Bartstoppeln unterstrichen noch, wie eingefallen sein Gesicht war. Das von oben herabfallende Licht ließ feine Linien um seine Augen herum erkennen.

»Erklär mit das mit dem Nützen noch mal«, schlug sie vor. Sie spürte, dass aller Interesse gespannt war wie eine straffe Saite. Litvak, die weißen Hände vor sich gefaltet, mit toten Augen, die jedoch eigentümlich zornig wurden, wenn er sie betrachtete; Kurtz, alterslos und prophetenhaft, das runzelige Gesicht mit Silberstaub bestäubt. Und rings an den Wänden immer noch die jungen Leute, andächtig und unbewegt, als ob sie sich zur ersten Kommunion anstellten.

»Sie sagen, dass du Leben retten wirst, Charlie«, erklärte Joseph mit sachlicher Stimme, aus der er auch den leisesten Hinweis auf irgendwelches Theaterspielen rigoros verbannt hatte. Erkannte sie so etwas wie Zögern in seiner Stimme? Wenn ja, unterstrich das nur noch die Bedeutung dessen, was er sagte. »Dass du Müttern ihre Kinder zurückgeben und dazu beitragen wirst, friedliebenden Menschen Frieden zu bringen. Sie sagen, dass unschuldige Männer und Frauen am Leben bleiben werden. Durch dich.«

»Und was sagst du?«

Seine Antwort kam betont langsam. »Warum wäre ich sonst hier? Bei einem von uns würden wir diese Aufgabe ein Opfer nennen, ein Sühneopfer fürs Leben. Da es aber um dich geht -nun ja, vielleicht ist es gar nicht so anders.«

»Wo wirst du sein?«

»Wir werden dir so nahe sein, wie es geht.«

»Ich habe dich gemeint. Dich ganz persönlich. Dich, Joseph.«

»Natürlich werde ich in deiner Nähe sein. Das ist meine Arbeit.« Und nichts als meine Arbeit - das war es, was er eigentlich sagte; nicht einmal Charlie konnte die Botschaft missverstehen. »Joseph wird die ganze Zeit über in deiner Nähe sein, Charlie«, ließ Kurtz sich leise vernehmen.

»Joseph ist ein sehr, sehr guter Agent. Joseph, sag ihr bitte, wie es um den Zeitfaktor bestellt ist.«

»Wir haben nur sehr wenig Zeit«, sagte Joseph. »Jede Stunde zählt.«

Kurtz lächelte immer noch, schien darauf zu warten, dass er noch mehr sagte. Aber Joseph hatte dem nichts mehr hinzuzufügen. Sie hatte ja gesagt, musste ja gesagt haben. Oder zumindest zur nächsten Phase, denn sie spürte, wie alle rings um sie kaum merklich erleichtert aufatmeten; doch dann kam zu ihrer Enttäuschung nichts mehr. In der exaltierten Verfassung, in der sie sich befand, hatte sie sich vorgestellt, dass ihr ganzes Publikum in Applaus ausbrechen würde: der erschöpfte Mike das Gesicht in die spinnenhaften Hände sinken und seinen Tränen, ohne sich zu schämen, freien Lauf lassen würde; Marty sie wie ein alter Mann, als der er sich auch entpuppt hatte, mit den dicken Händen an den Schultern packen - mein Kind, meine Tochter! - und sein stachliges Gesicht an ihre Wange drücken würde; die jungen Leute, ihre Fans auf leisen Sohlen, nicht mehr abzuhalten sein würden, auf sie zuzustürzen und sie zu berühren. Und Joseph sie an die Brust ziehen würde. Doch auf der Bühne der Taten machte man das anscheinend nicht. Kurtz und Litvak waren damit beschäftigt, ihre Papiere zusammenzulegen und ihre Aktenmappen zu schließen. Joseph besprach sich mit Dimitri und Rose aus Südafrika. Raoul räumte das, was vom Tee und von den Keksen übrig geblieben war, fort, und nur Rachel schien sich Gedanken darüber zu machen, was jetzt aus der Neuangeworbenen werden sollte. Sie berührte Charlie am Arm und führte sie zum Treppenhaus, damit sie sich erst einmal schön hinlegte, wie sie es ausdrückte. Sie hatte die Tür noch nicht erreicht, da rief Joseph sie leise beim Namen. Gedankenverloren und neugierig zugleich starrte er sie an.

»Dann also gute Nacht«, wiederholte er, als wären diese Worte ein Rätsel für ihn.

»Dir auch, gute Nacht«, wünschte Charlie ihm mit einem mitgenommenen Lächeln, das den letzten Vorhang hätte bedeuten sollen. Doch das tat es nicht. Als Charlie Rachel den Korridor hinunter folgte, überraschte sie sich dabei, wie sie im Londoner Klub ihres Vaters, auf dem Weg zu dem auch Damen offenstehenden Anbau war, um dort Mittag zu essen. Sie blieb stehen, sah sich um und versuchte, die Ursache dieser Halluzination zu erkennen. Dann hörte sie sie: das rastlose Tickern eines verborgenen Fernschreibers, der die letzten Marktpreise ausspuckte. Offensichtlich kam es hinter einer halbgeschlossenen Tür hervor. Doch Rachel trieb sie daran vorbei, ehe sie es herausfinden konnte.

Die drei Männer waren wieder im Besprechungszimmer; das Geratter des Kodierungs-Apparates hatte sie dorthin gerufen wie ein Hornsignal. Während Becker und Litvak zusahen, hockte Kurtz sich an den Tisch und entzifferte mit dem Ausdruck fassungslosen Unglaubens das neueste, unerwartete, dringende und ausschließlich für ihn persönlich bestimmte Telegramm aus Jerusalem. Hinter ihm stehend, konnten sie sehen, wie der dunkle Schweißfleck sich auf seinem Hemd ausbreitete wie eine Blutlache. Der Funker war fort, von Kurtz hinausgeschickt, sobald der von Jerusalem kodierte Text ausgedruckt wurde. Sonst herrschte im Haus tiefstes Schweigen. Falls Vögel sangen oder Autos vorüber fuhren, hörten sie es nicht. Sie hatten nur Ohren für das Stop und Start des Druckers. »Ich hab’ dich nie besser in Form gesehen, Gadi«, erklärte Kurtz, dem nie etwas genug sein konnte. Er sprach englisch, die Sprache, in der auch Gavrons Text abgefaßt war. »Meisterhaft, genial, trifft den Nagel auf den Kopf.« Er riss ein Blatt ab und wartete auf den Ausdruck des nächsten. »Wirklich genauso, wie ein hilflos treibendes Mädchen sich seinen Retter wünschen könnte. Stimmt’s, Shimon?« Wieder ratterte der Apparat los.