Dann sah sie Quilleys Gesicht. Wurzellose amerikanische Filmgesellschaft. Telefonnummern, bei denen keiner mehr rangeht. Filmemacher, die nirgends aufzuspüren sind. Und all das im Bannkreis Charlies. Und ihres Ned.
»Es ist noch viel schlimmer«, erklärte Quilley kläglich.
»Was denn, Liebling?«
»Sie haben all ihre Briefe gestohlen.«
»Was haben sie getan?«
All ihre handschriftlichen Briefe, sagte Quilley. Die sie in den letzten fünf Jahren oder über einen noch längeren Zeitraum geschrieben habe. All ihre geschwätzigen, peinlichpersönlichen billets-doux, geschrieben, wenn sie auf Tournee oder einsam gewesen war. Kleine Köstlichkeiten. Porträtzeichnungen von Regisseuren und Ensemblemitgliedern. Die süßen kleinen Zeichnungen, die sie mit Vorliebe hinkritzelte, wenn sie glücklich war. Futsch. Einfach aus den Unterlagen entwendet. Von diesen grässlichen Amerikanern, die partout nichts hatten trinken wollen - Karman und seinem schrecklichen Kumpel. Mrs. Longmore mache einen Riesenaufstand deswegen, und Mrs. Ellis sei es schlecht geworden.
»Denen würde ich aber einen bitterbösen Brief schreiben«, riet Marjory.
Aber wozu? fragte Quilley sich kleinlaut. Und überhaupt - an welche Adresse denn?
»Besprich das mit Brian«, schlug sie vor.
Schön, Brian war schließlich sein Anwalt; und wozu war ein Anwalt da? Nachdem sie wieder hineingegangen waren, schenkte Quilley sich erstmal einen tüchtigen Schluck ein und stellte den Fernseher an, nur, um die ersten Abendnachrichten mit Filmausschnitten von den letzten scheußlichen Bombenangriffen irgendwo serviert zu bekommen. Krankenwagen, ausländische Polizisten, die Verletzte wegkarrten. Doch Quilley war nicht in der Stimmung für derlei frivole Ablenkungen. Sie hatten Charlies Unterlagen regelrecht geplündert, sagte er sich immer wieder. Die Unterlagen einer Klientin, verflixt noch mal. In meinem Büro! Und der Sohn des alten Quilley sitzt daneben und hält sein Mittagsschläfchen, während sie das tun. So aufs Kreuz gelegt hatte man ihn schon seit Jahren nicht mehr!
Kapitel 8
Falls sie geträumt hatte, konnte sie sich beim Aufwachen nicht mehr daran erinnern. Oder vielleicht erging es ihr wie Adam, sie wachte auf und stellte fest, dass der Traum Wirklichkeit war, denn das erste, was sie sah, war ein Glas frischen Orangensafts neben ihrem Bett, und das zweite Joseph, der zielstrebig im Zimmer hin und her lief, Schränke aufriss und die Vorhänge zurückzog, um den Sonnenschein hereinzulassen. Charlie stellte sich schlafend und beobachtete ihn durch halbgeschlossene Augen, so wie sie ihn auch am Strand beobachtet hatte. Die Linie seines Rückens mit den Narben. Der erste helle Anflug des Alters, der seine sonst schwarzen Schläfen melierte. Wieder das Seidenhemd mit den goldenen Klunkern.
»Wie spät haben wir es denn?« fragte sie.
»Drei Uhr.« Er zerrte einmal am Vorhang. »Drei Uhr nachmittags. Du hast lange genug geschlafen. Wir müssen los.« Und eine goldene Halskette mit dem Medaillon unterm Hemd.
»Was macht der Mund?« »Ach, ich werde wohl nie wieder singen können.« Er ging zu einem alten bemalten Kleiderschrank und holte einen blauen Kaftan heraus, den er über den Stuhl legte. Sie sah keinerlei Spuren auf seinem Gesicht, nur dunkle Ringe unter den Augen, die Müdigkeit verrieten. Er ist aufgeblieben, dachte sie, und ihr fiel ein, wie vertieft er in die Papiere auf seinem Tisch gewesen war; er hat seine Hausaufgaben gemacht.
»Du erinnerst dich noch an unsere Unterhaltung, ehe du heute Morgen zu Bett gingst, Charlie? Wenn du aufstehst, möchte ich dich bitten, dieses Kleid anzuziehen und auch die neue Unterwäsche, die du hier in dieser Schachtel findest. Am liebsten sehe ich dich heute in Blau und das Haar lang und offen - keine Knoten.« »Zöpfe.«
Er überging die Berichtigung. »Diese Kleider sind ein Geschenk von mir für dich; und es ist mir ein Vergnügen, dich zu beraten, was du anziehst und wie du aussehen sollst. Setz dich bitte auf und sieh dir das Zimmer gründlich an.«
Sie war nackt. Sie zog sich die Bettdecke bis unters Kinn und setzte sich vorsichtig auf. Vor einer Woche, am Strand, hätte er ihren Körper nach Herzenslust betrachten können. Doch das war vor einer Woche gewesen.
»Präg dir alles genau ein, alles um dich herum. Wir sind ein heimliches Liebespaar, und wir haben hier die Nacht verbracht. Es geschah alles, wie es geschah. In Athen trafen wir uns wieder, kamen hier in dieses Haus und fanden es leer vor. Kein Marty, kein Mike, niemand - nur wir.«
»Und wer bist du?«
»Wir haben den Wagen geparkt, wo wir ihn geparkt haben. Als wir ankamen, brannte die Lampe im Eingang. Ich schloss die Vordertür auf, und zusammen sind wir Hand in Hand die breite Treppe rauf gelaufen.«
»Und was ist mit dem Gepäck?«
»Zwei Stück. Meine Reisetasche, deine Schultertasche. Ich habe beide getragen.« »Aber wie hast du dann meine Hand gehalten?« Sie dachte, sie übertrumpfte ihn mit ihren Mutmaßungen, doch er freute sich über ihre Genauigkeit.
»Die Schultertasche mit dem gerissenen Henkel hatte ich mir unter den rechten Arm geklemmt. Den Griff meiner Tasche hatte ich in der rechten Hand. Ich lief an deiner rechten Seite, meine Linke war frei. Das Zimmer haben wir genau so vorgefunden, wie es jetzt ist, alles war vorbereitet. Wir waren kaum durch die Tür, da sind wir uns schon in die Arme gefallen. Wir konnten unsere Begierde keine Sekunde länger zügeln.«
Mit zwei Schritten war er am Bett, suchte unter den auf dem Boden durcheinander liegenden Bettüchern, bis er ihre Bluse fand, die er ihr hinhielt, damit sie sie ansah. Sie war an jedem Knopfloch eingerissen; zwei Knöpfe fehlten.
»Unsere Raserei«, erklärte er mit einer Entschiedenheit, als ob Raserei das Normalste sei. »Ist Raserei das richtige Wort?« »Eines davon.« »Dann also Raserei.«
Er warf die Bluse beiseite und gestattete sich ein knappes Lächeln. »Möchtest du Kaffee?«
»Kaffee wäre phantastisch.«
»Brot? Joghurt? Oliven?«
»Nur Kaffee.« Er war schon an der Tür, als sie mit lauterer Stimme hinter ihm herrief: »Tut mir leid, dass ich dir eine gelangt hab’, Jose. Du hättest zu einem von diesen israelischen Gegenschlägen ausholen und mich zu Boden strecken sollen, ehe ich mich versah.«
Die Tür schloss sich, und sie hörte ihn den Korridor hinuntergehen. Sie fragte sich, ob er wohl je wiederkommen würde. Mit einem Gefühl der Unwirklichkeit stieg sie munter aus dem Bett. Eine Pantomime, dachte sie - Goldhaar im Bärenhaus. Die Beweise ihrer imaginären Orgie lagen überall um sie verstreut: eine Wodkaflasche, noch dreiviertel voll, schwamm im Sektkühler. Zwei benutzte Gläser. Eine Schale mit Obst, zwei Teller samt Apfelschalen und Traubenkernen. Der rote Blazer über eine Stuhllehne gehängt. Die elegante schwarze Ledertasche mit Seitentaschen, wie sie zur Männlichkeitsausstattung eines jeden leitenden Angestellten gehört. An der Tür hing ein kurzer Kimono, wie ein Karateanzug geschnitten, Hermes de Paris - gehörte ihm ebenfalls, schwere schwarze Seide. Im Badezimmer ihr eigener Schulmädchen-Schwammbeutel gegen seinen kalbsledernen Kulturbeutel gelehnt. Zwei Handtücher lagen da, sie benutzte das trockene. Als sie sich den blauen Kaftan genauer ansah, stellte sich heraus, dass er recht hübsch war: schwere Baumwolle mit hohem, züchtigem Stehkragen, das Seidenpapier des Ladens steckte noch darin: Zelide, Rome and London. Die Unterwäsche war teures Nuttenzeug: schwarz, genau ihre Größe. Auf dem Boden eine funkelnagelneue Schultertasche aus Leder sowie ein Paar schicke, flache Sandalen. Sie probierte eine an. Passte. Sie zog sich an und bürstete sich das Haar aus, als Joseph mit einem Tablett mit Kaffee zurückkam. Er konnte schwerfällig sein und so leicht und behende, dass man meinen konnte, der Soundtrack wäre abhanden gekommen. Er war jemand, der über eine ganze Skala von geheimen Listen verfügte.