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»Sie schicken einen besonderen Spezialisten. Der wird sich schon bei Ihnen melden.«

»Spezialist für was?« hatte Alexis wissen wollen, der es sich - ganz untypisch für einen Deutschen - zur Regel gemacht hatte, etwas gegen Leute mit besonderen Qualifikationen zu haben. Keine Auskunft. Doch dann war er da - für Alexis’ Empfinden kein Spezialist, sondern der breitstirnige, betriebsame Veteran einer jeden Schlacht seit den Thermopylen, zwischen vierzig und neunzig Jahren alt, vierschrötig, slawisch und kräftig und weit mehr Europäer als Hebräer, mit mächtigem Brustkorb, dem weitausgreifenden Schritt eines Ringers und der Begabung, jeden zu beruhigen; und dazu dieser quirlige Gehilfe, der überhaupt nicht erwähnt worden war. Vielleicht doch kein Cassius, sondern eher der Urtyp des dostojewskischen Studenten: halb verhungert und im Kampf mit den Dämonen. Wenn Schulmann lächelte, durchzogen Runzeln sein Gesicht, in Jahrhunderten von Wasser eingegraben, das immer dieselben Felsrinnen heruntergeflossen war; und die Augen waren schmal zusammengekniffen wie die eines Chinesen. Dann, lange nach ihm, lächelte auch sein Adlatus und gab echogleich irgendeine verdrehte tiefe Bedeutung wieder. Wenn Schulmann jemand begrüßte, kam sein ganzer rechter Arm wie ein seitlicher Schwinger auf einen zugeschossen, so schnell, dass - falls man ihn nicht vorher abfing -, einem die Puste wegblieb. Bei dem Adlatus hingen dagegen die Arme an der Seite herunter, als ob er sich nicht traute, sie allein loszulassen. Wenn Schulmann redete, feuerte er sich widersprechende Gedanken wie eine breitgestreute Geschoßgarbe ab, um dann abzuwarten, welche ankamen und welche zu ihm zurückkehrten. Die Stimme des Adlatus folgte ihnen wie Bahrenträger, die mitfühlend die Gefallenen einsammeln.

»Ich bin Schulmann. Freut mich, Sie kennenzulernen, Dr. Alexis«, sagte Schulmann in einem fröhlichen Englisch mit Akzent. Nur Schulmann.

Kein Vorname, kein Rang, kein akademischer Titel, weder Aufgabenbereich noch Beruf. Und der Student hatte überhaupt keinen Namen, zumindest nicht für Deutsche. Kein Name, kein unverbindliches Geplauder und kein Lächeln. Ein Anführer, das war Schulmann, wie Alexis ihn sah; ein Hoffnungsbringer, ein Presslufthammer, ein Aufgabenbewältiger ganz besonderer Art; ein angeblicher Spezialist, der ein Zimmer für sich allein brauchte und auch noch am selben Tag bekam - dafür sorgte schon der Adlatus. Bald hörte man Schulmann unablässig hinter geschlossenen Türen reden; sein Ton hatte etwas von einem Anwalt von außerhalb, der ihre bisher geleistete Arbeit genau unter die Lupe nahm und bewertete. Man brauchte kein Hebräist zu sein, um die Warums und Wiesos, die Wanns und Warum -nichts herauszuhören. Ein Improvisator, dachte Alexis: selber ein geborener Stadtguerilla. Wenn er schwieg, hörte Alexis das auch und fragte sich, was, zum Teufel, er denn plötzlich so Interessantes las, dass sein Mundwerk aufhörte zu arbeiten. Oder beteten sie? - War so was bei ihnen denkbar? Es sei denn natürlich, der Adlatus war an der Reihe, etwas zu sagen; in diesem Fall würde Alexis nicht das kleinste Gewisper mitbekommen, denn im Beisein von Deutschen besaß seine Stimme genauso wenig Volumen wie sein Körper.

Mehr als alles andere bekam Alexis jedoch Schulmanns Drängen mit. Er war so etwas wie ein wandelndes Ultimatum, jemand, der den Druck, unter dem er selbst stand, an seine Mitarbeiter weitergab und der ihren Bemühungen etwas fast unerträglich Verzweifeltes gab. Wir können es schaffen, aber wir können auch scheitern, sagte er in der lebhaften Phantasie von Alexis. Wir sind zu lange zu spät gekommen. Schulmann war ihr Impresario, ihr Manager, ihr General - alles in einem -, aber er seinerseits erhielt auch eine Menge Befehle. So jedenfalls sah Alexis ihn und lag damit gar nicht mal so falsch. Er erkannte es an der harten und fragenden Art, wie Schulmanns Männer ihn ansahen, nicht wegen irgendwelcher Einzelheiten ihrer Arbeit, sondern in Hinblick auf den Fortschritt, den man erzielte - nützt das was? -, ist das ein Schritt in die richtige Richtung? Er erkannte es an Schulmanns Art, wie er gewohnheitsmäßig den Jackenärmel zurückschob, wenn er den linken Unterarm packte und dann das Handgelenk herumriss, als. gehöre es jemand anderem, bis das Ziffernblatt seiner alten Stahluhr ihn anstarrte. Also ist Schulmann auch eine Frist gesetzt worden, dachte Alexis: auch unter ihm tickt eine Zeitbombe; der Adlatus hat sie in der Aktenmappe.

Das Zusammenspiel zwischen den beiden Männern faszinierte Alexis, war in seinem Stress eine willkommene Ablenkung für ihn. Als Schulmann einen Gang durch die Drosselstraße unternahm und in den gefährlichen Trümmern des in die Luft gesprengten Hauses stand, klagend den Arm hochwarf, seine Uhr betrachtete und so außer sich zu sein schien, als ob es sein eigenes Haus gewesen wäre, hielt sich der Adlatus in seinem Schatten wie sein Gewissen, die knochigen Hände entschlossen an die Hüften gepresst, während er seinen Herrn und Meister mit dem geflüsterten Ernst seiner Überzeugungen zurückzuhalten schien. Als Schulmann den Arbeits-Attache zu einem letzten Gespräch zu sich bat und die Unterredung zwischen ihnen, die durch die Zwischenwand ohnehin halb zu verstehen war, sich zu einem Schreien steigerte und dann zu einem Gemurmel wie im Beichtstuhl wurde, war es der Adlatus, der den gebrochenen Mann aus dem Zimmer führte und persönlich wieder der Obhut seiner Botschaft anvertraute. Auf diese Weise bestätigte sich eine Theorie, mit der Alexis von Anfang an geliebäugelt hatte, doch die zu verfolgen Köln ihm auf jeden Fall strikt untersagt hatte. Alles deutete darauf hin. Die eifernde, introvertierte Ehefrau, die nur von ihrer heiligen Erde träumte; das erschreckende Schuldbewusstsein des Arbeits-Attaches; das absurd übertriebene Getue, mit dem er das Mädchen Katrin empfangen und sich in Elkes Abwesenheit geradezu zu deren stellvertretendem Bruder hochstilisiert hatte; sein merkwürdiges Eingeständnis, er habe zwar Elkes Zimmer betreten, doch seine Frau würde das nie tun. Für Alexis, der sich zu seiner Zeit durchaus in ähnlichen Situationen befunden hatte und sich gerade in einer solchen befand - schuldgebeutelte Nerven, die bei jedem kleinen sexuellen Hauch vibrierten -, durchzogen diese Zeichen deutlich die gesamte Akte, und insgeheim bereitete es ihm Genugtuung, dass Schulmann sie auch gelesen hatte. Aber wenn Köln in dieser Hinsicht unerbittlich war, so gebärdete Bonn sich nahezu hysterisch. Der Arbeits-Attache war ein öffentlicher Held: der Vater, der einen schmerzlichen Verlust erlitten hatte, der Mann einer schrecklich verstümmelten Frau. Er war das Opfer einer antisemitischen Untat auf deutschem Boden; er war ein in Bonn akkreditierter israelischer Diplomat, per definitionem so ehr- und achtbar wie nur jeder denkbare Jude. Wer waren denn die Deutschen, dass ausgerechnet sie, so legten sie ihm nahe zu berücksichtigen, einen solchen Mann als Ehebrecher hinstellten? Noch am selben Abend folgte der völlig aufgewühlte Arbeits-Attache seinem Kind nach Israel, und die Nachrichtensendungen des Fernsehens brachten in ganz Deutschland eine Aufnahme, wie er mit stämmigem Rücken mühselig die Gangway hinaufstieg, während der allgegenwärtige Alexius - den Hut in der Hand -ihm mit versteinerter Hochachtung nachblickte.