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Sie betrachtete sie, wie sie da so glatt auf ihrer Handfläche lag. Klein. Braun und wohlproportioniert.

»Bist du jemals mit so einer Pistole umgegangen?« fragte Joseph.

»Schon oft.«

»Wo? Und gegen wen?« »Auf der Bühne. Abend für Abend.«

Sie reichte sie ihm und sah zu, wie er sie genauso selbstverständlich in den Blazer steckte, als verstaue er seine Brieftasche. Sie folgte ihm nach unten. Das Haus war leer und unerwartet kalt. Der Mercedes wartete draußen im Vorhof. Zuerst wollte sie nur fort: irgendwohin, nur raus hier, auf die offene Straße, und nur wir beide allein. Die Pistole hatte ihr Angst gemacht, und sie brauchte Bewegung. Doch als er den Motor anließ und der Wagen langsam die Auffahrt hinunterrollte, ließ irgendetwas sie den Kopf drehen und zurückblicken auf den abbröckelnden gelben Putz, die roten Blumen, die Fenster mit den geschlossenen Läden und die roten Ziegel. Zu spät ging ihr auf, wie schön das alles war, wie willkommen heißend ausgerechnet in dem Augenblick, da sie wieder fort fuhr. Es ist das Haus meiner Jugend, beschloss sie: einer der vielen Jugenden, die ich nie gehabt habe. Es ist das Haus, aus dem mich nie jemand herausholte, um mich zu heiraten; Charlie nicht in Blau, sondern in Weiß, meine Scheiß-Mutter in Tränen aufgelöst. Ade, all dies!

»Existieren wir eigentlich auch?« fragte sie ihn, als sie sich in den abendlichen Verkehr einreihten. »Oder tun das bloß die beiden anderen?«

Wieder die Drei-Minuten-Warnung, ehe er antwortete.

»Selbstverständlich existieren wir. Warum nicht?« Dann das bezaubernde Lächeln, das Lächeln, für das sie sich hätte in Ketten legen lassen. »Wir sind Berkeleyaner, verstehst du. Wenn wir nicht existieren - wie könnten denn sie existieren?«

Was ist ein Berkeleyaner? überlegte sie. Aber sie war zu stolz zu fragen.

Nach der Quarzuhr am Armaturenbrett hatte Joseph zwanzig Minuten hindurch kaum ein Wort gesprochen. Trotzdem hatte sie gespürt, wie er sich entspannte; oder vielmehr, wie er sich methodisch auf den Angriff vorbereitete. »So, Charlie«, sagte er plötzlich. »Bist du jetzt bereit?«

Jose, ich bin bereit. »Am sechsundzwanzigsten Juni, einem Freitag, spielst du im Barrie Theatre, Nottingham, die Heilige Johanna. Eigentlich gehörst du gar nicht zum Ensemble, sondern bist in letzter Minute dazu gestoßen, um für eine Schauspielerin einzuspringen, die ihren Vertrag nicht eingehalten hat. Die Situation ist folgende: Du kommst spät im Theater an, die Beleuchtung wird noch ausprobiert, du hast den ganzen Tag über geprobt, und zwei Ensemblemitglieder haben die Grippe. Soweit alles klar in deiner Erinnerung?«

»Klar und lebendig.«

Argwöhnisch gegenüber ihrer Sorglosigkeit, warf er ihr einen fragenden Blick zu, fand offenbar jedoch nichts, wogegen er hätte Einwände erheben können. Es war früher Abend. Die Dämmerung senkte sich rasch nieder, doch Josephs Konzentration hatte die Unmittelbarkeit von Sonnenlicht. Er ist in seinem Element, dachte sie; das hier kann er am besten im Leben; dieser unerbittliche Schwung ist die Erklärung für das, was bisher noch fehlte. »Kurz vor Beginn der Vorstellung wird am Bühneneingang ein Stengel gold-brauner Orchideen für dich abgegeben. Dazu ein an Johanna adressierter Umschlag: Johanna, ich liebe Dich unendlich.‹ «

»Kein Bühneneingang.«

»Es gibt einen Hintereingang für Bühnenmaterial. Dein Verehrer - wer immer es war - klingelte und drückte dem Hausverwalter, einem Mr. Lemon, die Orchideen zusammen mit einer Fünf-Pfund-Note in die Hand. Das reichliche Trinkgeld machte entsprechend Eindruck auf Mr. Lemon, so dass er versprach, sie dir augenblicklich zu bringen - hat er das getan?«

»Unangemeldet in die Garderoben von Schauspielerinnen zu platzen, ist Lemons Glanznummer.«

»Also schön. Nun sag mir, was du machtest, als du die Orchideen bekamst.«

Sie zögerte. »Die Unterschrift lautete ›M‹.« »M stimmt. Was hast du getan?«

»Nichts.« »Unsinn.«

Das kränkte sie: »Was sollte ich denn tun? Mir blieben doch kaum zehn Sekunden, ehe ich auf die Bühne musste.«

Ein mit Müll beladener Lastwagen kam auf der falschen Straßenseite auf sie zugebraust. Überwältigend ungerührt lenkte Joseph den Mercedes auf den unbefestigten Randstreifen und beschleunigte, um von der Böschung wegzukommen. »Du hast also die Orchideen, die ein Vermögen gekostet haben müssen, einfach in den Papierkorb geschmissen und bist achselzuckend auf die Bühne. Das hast du toll gemacht! Herzlichen Glückwunsch!«

»Ich hab’ sie in Wasser gestellt.«

»Und worein hast du das Wasser getan?«

Die unerwartete Frage schärfte ihre Erinnerung. »In einen Farbtopf. Vormittags dient das Barrie nämlich als Kunstschule.«

»Du hast ein Gefäß gefunden, es mit Wasser gefüllt, die Orchideen ins Wasser gestellt. Gut. Und was für Gefühle haben dich dabei bewegt? Warst du beeindruckt? Aufgeregt?«

Irgendwie bekam sie seine Frage in den falschen Hals. »Ich habe einfach weitergespielt«, sagte sie und kicherte, ohne dass sie es wollte. »Wartete einfach ab, wer aufkreuzen würde.« Sie waren an einer Ampel stehen geblieben. Die Stille schuf ein neues Vertrautsein.

»Und das ›Ich liebe Dich‹?« wollte er wissen.

»Das ist doch Theater, oder? Jeder liebt jeden, allerdings, zwischendurch hat mir das ›unendlich‹ gefallen. Das verriet Klasse.« Es wurde grün, und sie fuhren weiter.

»Und du hast nicht daran gedacht, dir das Publikum anzusehen, ob da jemand war, den du erkanntest?«

»Dazu war keine Zeit.« »Und in der Pause?«

»Da habe ich raus gelinst, aber niemand entdeckt, den ich kannte.« »Und nach der Vorstellung, was hast du da gemacht?« »Da bin ich in meine Garderobe zurückgekehrt, hab’ mich umgezogen, ein bisschen getrödelt. Dachte: hol’s doch der Geier; und bin nach Hause.«

»Nach Hause - das heißt, ins Astral Commercial Hotel in der Nähe vom Bahnhof.«

Sie hatte es sich längst abgewöhnt, noch über irgend etwas erstaunt zu sein, was er sagte. »Ja, das Astral Commercial and Private Hotel«, stimmte sie zu. »In der Nähe vom Bahnhof.«

»Und die Orchideen?«

»Hab’ ich mit ins Hotel genommen.«

»Aber den Hausverwalter, Mr. Lemon, hast du nicht nach einer Beschreibung des Überbringers gefragt?«

»Das habe ich erst am nächsten Tag getan. Am selben Abend nicht mehr, nein.«

»Und was für eine Antwort hast du von Lemon bekommen, als du ihn fragtest?«

»Er sagte, ein Ausländer, aber was Solides. Ich erkundigte mich, wie alt etwa; er feixte und sagte, genau passend. Ich zerbrach mir den Kopf, ob ich einen Ausländer mit dem Anfangsbuchstaben M kannte, aber es fiel mir keiner ein.«

»In deiner ganzen privaten Menagerie kein einziger Ausländer mit dem Anfangsbuchstaben M? Da enttäuschst du mich aber.«

»Kein einziger.«

Beide lächelten flüchtig, sahen sich dabei aber nicht an. »So, Charlie, damit kommen wir zum zweiten Tag; eine Samstags-Matinee mit nachfolgender Abendvorstellung, wie üblich…«

»Und du warst da, nicht wahr, mein Lieber? Genau in der Mitte der ersten Reihe, in deinem hübschen roten Blazer, umgeben von lauter ungewaschenen Schulkindern, die dauernd husteten und aufs Klo wollten.«

Da ihr leichtfertiger Ton ihn irritierte, wandte er seine Aufmerksamkeit eine Zeitlang ganz der Straße zu, und als er seine Fragen wieder aufnahm, hatten die etwas so Ernstes, dass sich seine Augenbrauen zusammen schoben wie bei einem stirnrunzelnden Lehrer. »Mir wäre es lieb, wenn du mir mal genau die Gefühle beschreiben würdest, die dich bewegten, Charlie. Es ist Nachmittag. Der Zuschauerraum ist wegen der kümmerlichen Vorhänge halb in Tageslicht getaucht; wir haben weniger das Gefühl, im Theater zu sitzen als in einem großen Klassenzimmer, würde ich sagen. Ich sitze in der ersten Reihe; ich sehe durchaus ausländisch aus, benehme mich irgendwie auch wie ein Ausländer und trage ausländische Kleidung; inmitten der Kinder eine außerordentlich auffällige Erscheinung. Du hast Lemons Beschreibung, und außerdem lasse ich dich keinen Moment aus den Augen. Kommt dir nicht irgendwann der Verdacht, ich könnte dir die Orchideen geschickt haben, könnte der