sonderbare Fremde sein, der mit M unterschreibt und behauptet, dich unendlich zu lieben?«
»Selbstverständlich habe ich das getan. Ich wusste Bescheid.«
»Wieso? Hast du bei Lemon nachgefragt?«
»Das brauchte ich gar nicht. Ich wusste es einfach. Ich sah dich ja dasitzen und mich anhimmeln, und da dachte ich: ›Hallo, du bist es also. Wer immer du auch sein magst.‹ Und als dann nach der Matinee der Vorhang runterging und du auf deinem Platz sitzen bliebst und auch noch die Karte für die nächste Vorstellung vorzeigtest…«
»Woher weißt du, dass ich das getan habe? Wer hat dir das gesagt?«
Ach du, du bist doch genauso einer, dachte sie und verleibte ihrer Sammlung wieder eine hart erworbene Erkenntnis ein: wenn du kriegst, was du willst, bist du auf einmal ganz Mann und Misstrauen.
»Du hast das selbst gesagt. Die Welt ist klein an einem solchen Provinztheater. Da kriegt man nicht viele Orchideen -im Schnitt alle zehn Jahre einen Strauß -, und es gibt auch nicht viele Pfeffersäcke, die sich eine Vorstellung ein zweites Mal ansehen.« Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen, und so fragte sie ihn: »War es langweilig, Joseph? Das Stück -meine ich? Es sich zweimal hintereinander anzusehen? Oder hat es dir zwischendurch sogar gefallen?«
»Es war der eintönigste Tag meines Lebens«, erwiderte er, ohne im geringsten zu zögern. Dann veränderte sich sein unbewegtes Gesicht und verzog sich zu seinem bisher schönsten Lächeln, so dass er für einen Augenblick wirklich so aussah, als sei er durch die Gitterstäbe geschlüpft, worin auch immer er gefangen war. »Allerdings, dich fand ich schon exzellent«, sagte er.
Diesmal erhob sie keinen Einwand gegen das Adjektiv, das er gewählt hatte. »Würdest du jetzt bitte den Wagen zu Schrott fahren, Joseph? Das wird mir gut tun. Hier will ich sterben.« Und noch ehe er sie davon abhalten konnte, hatte sie seine Hand ergriffen und drückte einen heftigen Kuss auf den Daumenknöchel.
Die Straße war gerade, aber voller Schlaglöcher; auf beiden Seiten waren Hügel und Bäume mit Mondstaub von einer Zementfabrik gepudert. Sie saßen in ihrer eigenen Kapsel, und die Nähe anderer sich bewegender Dinge machte ihre Welt nur um so inniger. Wieder kam sie überall zu ihm, in ihren Gedanken und in seiner Geschichte. Sie war ein Soldatenmädchen, das lernte, Soldat zu sein.
»Bitte, sag mir: abgesehen von den Orchideen - hast du noch andere Geschenke bekommen, als du am Barrie Theatre spieltest?«
»Die Schachtel«, sagte sie und erschauerte, bevor sie auch nur so getan hatte, als müsse sie überlegen.
»Was für eine Schachtel, bitte?«
Sie hatte die Frage erwartet, und schon spielte sie ihm die Angewiderte vor, weil sie annahm, dass er das von ihr erwartete. »Das war irgendso ein schlechter Spaß. Irgendso ein Lump schickte mir eine Schachtel ins Theater. Per Eilboten und Einschreiben.«
»Wann war das?« »Samstag. Am selben Tag, als du zur Matinee gekommen und bis zur Abendvorstellung geblieben bist.«
»Und was war in der Schachtel?«
»Nichts. Nur ein leeres Etui vom Juwelier. Einschreiben und dann leer.«
»Wie merkwürdig, sehr merkwürdig. Und die Anschrift - die Anschrift auf dem Päckchen? Hast du sie dir genauer angesehen?«
»Die war mit blauem Kugelschreiber geschrieben. In Blockbuchstaben.«
»Aber wenn es ein Einschreibepäckchen war, muss doch auch ein Absender draufgestanden haben.«
»Unleserlich. Sah aus wie Marden. Könnte aber auch Hordern gewesen sein. Irgendein Nottinghamer Hotel.« »Wo hast du es aufgemacht?«
»In meiner Garderobe - zwischen den Auftritten.«
»Allein?«
»Ja.«
»Und was hast du dir dabei gedacht?«
»Ich dachte, jemand müsste einen Pik auf mich haben, wegen meiner politischen Ansichten. So was hatte ich ja schon öfter erlebt. Unflätige Briefe. Nigger-lover. Rote Pazifistensau, ‘ne Stinkbombe, die mir durchs Garderobenfenster reingeschmissen wurde. Ich dachte, sie käme von denen.«
»Hast du denn die leere Schachtel nicht in irgendeiner Weise mit den Orchideen in Verbindung gebracht?«
»Joseph, die Orchideen haben mir gefallen, du hast mir gefallen.«
Er hatte den Wagen zum Stehen gebracht. Auf irgendeinem Rastplatz mitten in einem Industriegebiet. Laster donnerten vorüber. Einen Moment dachte sie, er würde plötzlich alles auf den Kopf stellen und sich auf sie stürzen, so widersprüchlich und schwankend war die Spannung in ihr. Doch das tat er nicht. Statt dessen griff er in die Seitentasche an der Tür neben sich und reichte ihr einen dicken, eingeschriebenen Brief mit Siegellack auf der Verschlussklappe und etwas Hartem, Rechteckigem darin, so, wie sie ihn an jenem Tag erhalten hatte. Poststempel Nottingham, 25. Juni. Vorn ihr Name und die Adresse des Barrie Theatre, mit einem blauen Kugelschreiber geschrieben. Und hinten der unleserliche Krakel des Absenders, genauso wie damals.
»So, und jetzt machen wir die Fiktion daraus«, verkündete Joseph still, während sie den Umschlag umdrehte. »Auf die alte Realität stülpen wir die neue Fiktion.«
Sie war ihm zu nahe, um sich selbst zu trauen, und so würdigte sie ihn keiner Antwort.
»Der Tag ist hektisch verlaufen, wie es nun mal war. Du sitzt in der Garderobe, zwischen zwei Auftritten. Das Päckchen -noch ungeöffnet - wartet auf dich. Wie viel Zeit hast du noch, bis zu deinem Auftritt?« »Zehn Minuten. Vielleicht auch weniger.« »Sehr gut. Und jetzt mach das Päckchen auf.«
Sie sah ihn verstohlen an, doch er starrte unbewegt geradeaus, hinüber zum feindlichen Horizont. Sie senkte den Blick auf den Umschlag, sah Joseph nochmals an, schob einen Finger unter die Lasche und riss sie auf. Das gleiche rote Schmuckkästchen von einem Juwelier, aber schwerer. Der kleine weiße Umschlag, unverschlossen, eine schlichte weiße Karte darin. Für Johanna, den Geist meiner Freiheit, las sie. Du bist phantastisch. Ich liebe Dich! Die Handschrift unverkennbar. Doch anstelle von M diesmal die Unterschrift Michel in großen Buchstaben und die l-Schleife am Ende zurückgebogen, wie um die Bedeutung des Namens zu unterstreichen. Sie nahm das Etui und spürte, wie sich sanft und aufmunternd etwas darin bewegte.
»Meine Fresse!« sagte sie witzig, doch gelang es ihr nicht, die Spannung in ihr oder in ihm zu vertreiben. »Soll ich’s aufmachen? Was ist es denn?«
»Woher soll ich das wissen? Tu, was du tun würdest.« Sie klappte den Deckel hoch. Ein schweres goldenes Armband, das mit blauen Steinen besetzt war, lag auf dem Seidenfutter. »Himmel!« entfuhr es ihr leise. Dann ließ sie den Deckel mit einem kleinen Laut wieder zuschnappen. »Was muss ich denn tun, um das zu verdienen?«
»Na schön, das ist also deine erste Reaktion«, sagte Joseph augenblicklich. »Du wirfst einen Blick drauf, stößt einen Fluch aus und klappst das Etui wieder zu. Präg dir das ein! Und zwar genau. So hast du reagiert, von jetzt an, immer.«
Sie öffnete das Kästchen wieder, nahm das Armband vorsichtig heraus und wog es auf ihrer Handfläche. Freilich hatte sie keinerlei Erfahrung mit Schmuck, außer mit dem Talmi, den sie manchmal auf der Bühne trug. »Ist es echt?« fragte sie.
»Leider hast du im Moment keine Fachleute bei dir, die dich beraten könnten. Entscheide selbst.« »Es ist alt«, erklärte sie schließlich.
»Sehr gut, du bist zu dem Schluss gekommen, dass es alt ist.«
»Und schwer.«
»Alt und schwer. Jedenfalls nicht aus einem Knallbonbon, auch kein Kinderkram, sondern ein solides Schmuckstück. Was tust du jetzt?«