Seine Ungeduld war wie ein kleiner Keil zwischen ihnen: sie so nachdenklich und verstört, er so praktisch. Sie besah sich eingehend die Fassungen und den Goldstempel, doch auch von Goldstempeln verstand sie nichts. Sie kratzte leicht mit dem Fingernagel am Metall. Es fühlte sich ölig und weich an.
»Du hast sehr wenig Zeit, Charlie. In einer Minute und dreißig Sekunden musst du auf der Bühne stehen. Was machst du? Lässt du es in deiner Garderobe liegen?«
»Du lieber Gott, nein.«
»Du wirst schon aufgerufen. Du musst dich auf die Socken machen, Charlie. Du musst zu einem Entschluss kommen.« »Hör auf, mich zu drängeln. Ich geb es Millie, um es für mich aufzuheben. Millie ist meine Ersatzspielerin, die auch souffliert.«
Dieser Vorschlag passte ihm gar nicht. »Du hast aber kein Vertrauen zu ihr.«
Sie war der Verzweiflung nahe. »Ich verstecke es im Klo«, sagte sie. »Hinter dem Wasserkasten.«
»Das ist zu nahe liegend.«
»Im Papierkorb. Lege etwas darüber.«
»Jemand könnte reinkommen und ihn leeren. Überleg doch!«
»Joseph, lass mich... Ich versteck’ es hinter den Malsachen! Ja, das ist richtig. Oben auf einem der Regalbretter. Da hat seit Jahren keiner mehr Staub gewischt.«
»Ausgezeichnet. Du legst es ganz hinten auf eines der Regale, und dann machst du, dass du rauskommst, um deinen Platz einzunehmen. In allerletzter Minute. Charlie, Charlie, wo hast du gesteckt? Der Vorhang geht auf. Ja?«
»Okay «, sagte sie und stieß eine ungeheure Menge Puste aus. »Was für Gefühle bewegen dich? Jetzt. Was dieses Armband betrifft - und denjenigen, der es dir geschenkt hat.«
»Nun ja - ich bin erschrocken - stimmt’s nicht?«
»Warum solltest du erschrocken sein?«
»Hm, ich kann es nicht annehmen - ich meine, das kostet -es ist wertvoll.«
»Aber du hast es angenommen. Du hast den Empfang durch deine Unterschrift bestätigt, und jetzt hast du es versteckt.«
»Aber bloß bis nach der Vorstellung.«
»Und dann?«
»Na ja, ich geb’s zurück. Das würde ich doch tun, oder?«
Seine Anspannung ließ etwas nach, und er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als ob er endlich seine These bewiesen hätte. »Und bis dahin - wie kommst du dir da vor?«
»Überwältigt. Erschüttert. Was willst du denn, wie ich mir vorkomme?« »Er ist nur wenige Meter von dir entfernt, Charlie. Er hält die Augen leidenschaftlich auf dich gerichtet. Jetzt sieht er sich die Vorstellung schon zum dritten Mal an. Er hat dir Orchideen und Schmuck geschickt und dir zweimal gesagt, dass er dich liebt. Einmal normal, einmal unendlich. Er ist schön, viel schöner als ich.«
In ihrer Verwirrung übersah sie vorläufig, wie er von Mal zu Mal mit größerer Intensität ihren Freier beschrieb. »Dann spiele ich eben, was das Zeug hält, und gebe mein Bestes«, sagte sie und kam sich dabei ebenso gefangen wie töricht vor. »Aber das bedeutet noch lange nicht, dass er Satz und Partie gewonnen hätte«, fauchte sie.
Vorsichtig, als wolle er sie nicht stören, ließ Joseph den Motor wieder an. Die Helligkeit war geschwunden, der Verkehr hatte sich gelichtet und setzte sich nur noch aus gelegentlichen Nachzüglern zusammen. Sie fuhren am Rand des Golfs von Korinth entlang. Eine Reihe von schäbigen Tankern strebte -wie vom Nachglühen der untergegangenen Sonne magnetisch angezogen - in westlicher Richtung. Über ihnen kam dunkel im Zwielicht eine Bergkette zum Vorschein. Die Straße gabelte sich, sie begannen die lange, sich Haarnadelkurve um Haarnadelkurve hinziehende Fahrt hinauf in den immer leerer werdenden Himmel.
»Weißt du noch, wie ich für dich geklatscht habe?« fragte Joseph. »Weißt du noch, wie ich dagestanden und einen Vorhang nach dem anderen für dich applaudiert habe?«
»Ja, Joseph, ich erinnere mich.« Aber sie traute sich nicht, es laut zu sagen.
»Nun denn - dann erinnere dich jetzt auch an das Armband.« Sie tat es. Ein Akt der Phantasie, nur für ihn - eine Gegengabe für ihren unbekannten schönen Wohltäter. Der Epilog war gesprochen, sie trat immer wieder vor den Vorhang, doch sobald sie nicht mehr anwesend sein musste, eilte sie in ihre Garderobe, holte das Armband aus dem Versteck, schminkte sich in Rekordzeit ab und schlüpfte in ihre normale Kleidung, um so schnell wie möglich zu ihm zu kommen. Doch nachdem sie sich bislang stillschweigend mit Josephs Version des Geschehens einverstanden erklärt hatte, zuckte Charlie jetzt zurück als ihr verspätet plötzlich einfiel, was sich gehörte. »Moment mal - bleib dran - warte doch - wieso kommt er eigentlich nicht zu mir? Er macht doch den ganzen Trubel. Warum bleibe ich nicht einfach in meiner Garderobe sitzen und warte darauf, dass er aufkreuzt, statt hier draußen im Gebüsch rumzulaufen und ihn zu suchen?«
»Vielleicht hat er nicht den Mut dazu. Du flößt ihm zuviel Hochachtung, zuviel Ehrfurcht ein - warum nicht? Du hast ihn schließlich umgehauen.«
»Trotzdem - warum bleibe ich nicht sitzen und warte ab? Jedenfalls eine Zeitlang?«
»Charlie, was hast du vor? Könntest du mir bitte sagen, was du in Gedanken zu ihm sagst?«
»Ich sage: ›Nimm das zurück - ich kann es nicht annehmen‹ «, erwiderte sie tugendhaft.
»Na schön. Dann riskierst du aber ernstlich, dass er auf Nimmerwiedersehen in der Nacht verschwindet - und du sitzt mit seinem wertvollen Geschenk da, das du in aller Aufrichtigkeit nicht annehmen möchtest.«
Widerwillig erklärte sie sich bereit loszugehen und ihn zu suchen.
»Aber wie - wo willst du ihn finden? Wo suchst du zuerst?« wollte Joseph wissen.
Die Straße war leer, doch er fuhr gemächlich, um zu gewährleisten, dass die Gegenwart sich so wenig wie möglich in die Rekonstruktion der Vergangenheit einmischte.
»Ich würde hintenrum laufen«, sagte sie, ehe sie es sich richtig überlegt hatte. »Durch den Hintereingang, auf die Straße, um die Ecke vom Theater und auf das Foyer zu. Ich erwische ihn auf dem Fußweg, gerade, wie er herauskommt.«
»Warum nicht durch das Theater?« »Weil ich mich dort durch die Menschenrassen kämpfen müsste, deshalb. Bis ich endlich zu ihm durchgedrungen wäre, wäre er längst fort.«
Er dachte darüber nach. »Dann brauchst du deinen Regenmantel«, sagte er.
Wieder hatte er recht. Sie hatte vergessen, wie es an diesem Abend in Nottingham gegossen hatte, ein Wolkenbruch nach dem anderen, die ganze Vorstellung über. Sie begann noch einmal von vorn. Nachdem sie sich wie der Blitz umgezogen hatte, schlüpfte sie in ihren neuen Regenmantel - den langen französischen, aus dem Ausverkauf von Liberty - verknotete den Gürtel, schoss in den strömenden Regen hinaus, die Straße hinunter, um die Ecke herum auf den Haupteingang des Theaters zu...
»Nur um festzustellen, dass die Hälfte der Zuschauer sich unter dem Vordach drängt und darauf wartet, dass der Regen nachlässt«, unterbrach Joseph. »Warum lachst du?«
»Weil ich auch noch mein gelbes seidenes Kopftuch umbinden muss. Du erinnerst dich doch - das von Jaeger, das ich durch den Werbespot im Fernsehen bekommen habe.«
»Wir halten also außerdem fest, dass du selbst in der Eile, ihn loszuwerden, nicht dein gelbes Kopftuch vergisst. Also schön. In Regenmantel und gelbem Seidenkopftuch sprintet Charlie auf der Suche nach ihrem feurigen Liebhaber durch den Regen. Sie erreicht das überfüllte Foyer - vielleicht ruft sie: ›Michel! Michel!‹ Ja? Wunderschön. Nur ruft sie vergeblich. Michel ist nicht da. Was tust du jetzt?«
»Stammt der Text von dir, Joseph?«
»Ist doch egal.«
»Kehre ich in meine Garderobe zurück?«
»Kommst du denn gar nicht auf die Idee, im Zuschauerraum nachzusehen?«
»Aber natürlich, verdammt - ja, natürlich.«
»Welchen Eingang benutzt du?« »Den Eingang vom Parkett. Da hast du schließlich gesessen.«
»Wo Michel gesessen hat. Du betrittst den Zuschauerraum also durch den Eingang zum Parkett, versetzt der Querstange der Tür einen Stoß. Hurra, sie gibt nach. Mr. Lemon hat noch nicht abgeschlossen. Du betrittst den leeren Zuschauerraum, schreitest langsam den Gang hinab.«