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»Elegant! Himmel, selbst die Scheiß-Flöhe sind klamm.«

»Hast du denn überhaupt kein Verantwortungsbewusstsein? Ausgerechnet du, die du immer für underdogs eintrittst -, zeigst keine Verantwortung einem Mann gegenüber, den du mit deiner Schönheit, deiner Begabung und deiner revolutionären Leidenschaft becircst hast?«

Sie versuchte, ihn zu zügeln, doch er gab ihr keine Gelegenheit dazu.

»Du hast kein Herz, Charlie. Andere könnten in diesem Augenblick eine Art von raffiniertem Verführer in Michel sehen. Du nicht. Du glaubst an den Menschen. Und genau das tust du auch heute abend bei Michel. Ohne, dass du an dich selbst denkst, hat er es dir aufrichtig angetan.«

Am Horizont vor ihnen war bei ihrer Fahrt hinauf ein kleines Dorf auf einer Anhöhe zu erkennen. Sie sah die Glühlampen einer Taverne neben der Straße baumeln.

»Aber egal, was du auch in diesem Augenblick sagst, ist bedeutungslos, weil Michel sich endlich einen Ruck gibt und dich anspricht«, nahm Joseph mit einem raschen, abschätzenden Seitenblick den Faden wieder auf. »Alles andere als schüchtern oder gehemmt, spricht er dich mit seiner weichen und reizvollen ausländischen Aussprache - halb französisch, halb etwas anderes - an. Er will sich nicht mit dir streiten, sagt er, du bist alles, was er sich je erträumt hat, er möchte dein Geliebter werden, möglichst noch heute nacht, und er nennt dich Johanna, obwohl du ihm sagst, dass du Charlie bist. Wenn du mit ihm essen gingst und wenn du ihn nach dem Essen immer noch nicht wolltest, werde er es sich überlegen, ob er das Armband zurücknehme. Nein, sagst du, er müsse es jetzt gleich zurücknehmen; du hättest schon einen Liebhaber, und außerdem, sei doch nicht lächerlich - wo will man denn in Nottingham an einem völlig verregneten Samstag abend um halb elf noch was zu essen bekommen? …Das würdest du doch sagen, oder? Es stimmt schließlich, oder?«

»Nottingham ist das letzte Kaff«, räumte sie ein, weigerte sich jedoch, ihn anzusehen.

»Und ein richtiges Abendessen - du würdest noch ausdrücklich sagen, dass sei ein unmöglicher Traum?« »Entweder chinesisch oder fish and chips

»Trotzdem hast du ihm ein gefährliches Zugeständnis gemacht.« »Wieso?« wollte sie wissen. Sie war gekränkt.

»Du hast einen praktischen Einwand erhoben. ›Wir können nicht zusammen zu Abend essen, weil es kein Restaurant gibt.‹ Da könntest du genauso gut sagen, ihr könntet nicht miteinander schlafen, weil du kein Bett hast. Michel spürt das. Er fegt dein Zögern beiseite. Er kennt ein Lokal, hat schon alles arrangiert. Also. Wir können essen. Warum nicht?«

Er war von der Straße abgebogen und hatte den Wagen vor der Taverne auf einem Parkplatz zum Stehen gebracht. Wie benommen von seinem bewussten Sprung aus der erdichteten Vergangenheit in die Gegenwart, widersinnigerweise freudig davon bewegt, dass er ihr so zugesetzt hatte, und darüber erleichtert, dass Michel sie schließlich doch nicht hatte gehen lassen, blieb Charlie sitzen. Und Joseph auch. Sie wandte sich zu ihm, und durch das bunte Märchenlicht, das von draußen hereinfiel, konnte sie erkennen, worauf sein Blick gerichtet war. Er ruhte auf ihren Händen, die sie immer noch übereinander gelegt im Schoß liegen hatte, die Rechte oben. Soweit sie es in der Märchenbeleuchtung erkennen konnte, war sein Gesicht unbewegt und ohne jeden Ausdruck. Er streckte die Hand aus, packte blitzschnell und mit geradezu chirurgenhafter Sicherheit ihr rechtes Handgelenk, hob es in die Höhe, enthüllte das Gelenk darunter und das goldene Armband, das im Dunkeln daran blinkte.

»Nun, nun, ich muss dir gratulieren«, meinte er ungerührt. »Ihr Engländerinnen verliert keine Zeit.«

Zornig entriss sie ihm die Hand. »Was hast du denn?« versetzte sie bissig. »Wir sind wohl eifersüchtig, was?«

Aber sie konnte ihn nicht treffen. Er hatte so ein Gesicht, auf dem man keine Spuren hinterlassen konnte. »Wer bist du?« fragte sie hoffnungslos, als sie ihm hineinfolgte. Ihm? Oder dir? Oder niemandem?

Kapitel 9

Doch so sehr Charlie auch das Gegenteil hätte annehmen können, sie war an diesem Abend nicht der einzige Mittelpunkt von Kurtz’ Universum; auch nicht von Josephs und schon gar nicht von Michels. Schon eine ganze Zeitlang bevor Charlie und ihr vermeintlicher Liebhaber der Athener Villa endgültig ade gesagt hatten - während sie, in der Fiktion, einander in den Armen liegend ihre Raserei ausschliefen -, saßen Kurtz und Litvak keusch in verschiedenen Reihen einer nach München fliegenden Lufthansamaschine und reisten unter dem Schutz verschiedener Länder: für Kurtz war das Frankreich und für Litvak Kanada. Nach der Landung begab sich Kurtz augenblicklich ins Olympische Dorf, wo die sogenannten argentinischen Fotografen ihn sehnlichst erwarteten, und Litvak in das Hotel Bayerischer Hof, wo er von einem ihm nur unter dem Namen Jacob bekannten Sprengstoff-Experten begrüßt wurde, einem stöhnenden, in höheren Regionen schwebenden Burschen in fleckiger Wildlederjacke, der in einem selbstschließenden Plastikaktenordner einen Stapel Messblätter in großem Maßstab bei sich trug. Als Landvermesser getarnt hatte Jacob die letzten drei Tage damit verbracht, entlang der Autobahn München-Salzburg umfangreiche Messungen vorzunehmen. Sein Auftrag war, die mögliche Wirkung einer sehr großen Sprengladung abzuschätzen, wenn sie in den frühen Morgenstunden eines Wochentages am Straßenrand explodierte - und das bei den unterschiedlichsten Witterungs- und Verkehrsverhältnissen. Die beiden Männer besprachen in der Hotelhalle bei mehreren Kännchen von ausgezeichnetem Kaffee Jacobs behutsame Vorschläge und fuhren dann zum nicht geringen Ärger der Schnellerfahrenden in einem Leihwagen langsam die gesamte hundert Kilometer lange Strecke ab und hielten fast überall, wo sie durften, und ein paar Mal auch dort, wo sie nicht durften.

Von Salzburg aus reiste Litvak allein nach Wien weiter, wo eine neue Einsatzgruppe mit neuen Fahrzeugen und neuen Gesichtern ihn erwartete. In einem abhörsicheren Besprechungszimmer der israelischen Botschaft wies Litvak sie in ihre Aufgabe ein, und nachdem er noch andere, weniger wichtige Angelegenheiten erledigt hatte, wozu auch die Lektüre der letzten Bulletins aus München gehörte, führte er sie in einer ziemlich schäbigen Wagenkolonne als Touristen in ein bestimmtes Gebiet nahe der jugoslawischen Grenze, wo sie mit der Unbekümmertheit von Sommerausflüglern sämtliche Parkplätze, Bahnhöfe und malerischen Marktplätze abklapperten, ehe sie sich in der Umgebung von Villach über verschiedene kleine Pensionen verteilten. Nachdem er sein Netz so ausgelegt hatte, eilte er zurück nach München, um dort eingehend über die wichtige Präparierung des Köders nachzudenken.

Die Vernehmung Yanukas ging bereits in den vierten Tag, als Kurtz eintraf, um die Zügel in die Hand zu nehmen, und war bis dahin mit entnervender Reibungslosigkeit vonstatten gegangen. »Ihr habt allerhöchstens sechs Tage Zeit für ihn«, hatte Kurtz seinen beiden Verhörspezialisten in Jerusalem eingeschärft. »Nach sechs Tagen werden eure Irrtümer nicht mehr zu korrigieren sein - und seine auch nicht.«

Es war eine Aufgabe ganz nach Kurtz’ Geschmack. Hätte er an drei Orten zugleich sein können statt nur an zweien, er hätte sie sich selbst vorbehalten, doch das ging nun einmal nicht, und so wählte er zwei schwergewichtige Spezialisten der sanften Tour, die berühmt waren für ihre verhaltene schauspielerische Begabung sowie für die Art bekümmerten Wohlwollens, das sie gemeinsam ausstrahlten. Sie waren weder miteinander verwandt, noch waren sie - soweit man wusste - ein Liebespaar, doch sie arbeiteten schon seit so langer Zeit zusammen, dass ihre vertrauenerweckenden Züge einem das Gefühl gaben, einer Doppelwirkung ausgesetzt zu sein, und als Kurtz sie zum ersten Mal in das Haus in der Disraeli Street bestellt hatte, lagen ihre vier Hände wie die Pfoten von zwei großen Hunden auf der Tischkante. Zuerst war er barsch mit ihnen umgesprungen, denn er beneidete sie und war ohnehin geneigt, jedes Delegieren als eine Schlappe anzusehen. Um was es ging, hatte er ihnen nur in den dürrsten Worten umrissen, ihnen dann jedoch den Auftrag gegeben, sich mit Yanukas Akte vertraut zu machen und sich nicht eher wieder bei ihm zu melden, als bis sie sie durch und durch kannten. Als sie für seinen Geschmack zu schnell wiedergekommen waren, hatte er sie selbst wie bei einem Verhör in die Mangel genommen und sie bissig nach Yanukas Kindheit, seinem Lebensstil, seinen Verhaltensweisen und überhaupt allem ausgequetscht, womit er meinte, sie in die Bredouille bringen zu können. Aber sie hatten alle Antworten auswendig gekonnt, und so hatte er widerstrebend seinen aus Miss Bach, dem Schriftsteller Leon und dem alten Schwill bestehenden ›Bildungs-Kreis‹ zusammengerufen; diese drei hatten in den vergangenen Wochen ihre ausgefallenen Talente zusammengetan und sich zu einer wunderbar aufeinander abgestimmten und Hand in Hand arbeitenden Einsatzgruppe entwickelt. Die Instruktionen, die Kurtz ihnen bei dieser Gelegenheit erteilte, stellten einen klassischen Fall von Unklarheit dar. »Miss Bach hier hat die Aufsicht. Sie hält sämtliche Fäden in der Hand«, hatte er begonnen, als er die drei mit den beiden Neuen bekannt machte. Trotz fünfunddreißigjähnger Übung war sein Hebräisch immer noch grauenhaft. »Miss Bach prüft das Rohmaterial, das ihr zugeleitet wird. Sie verfasst die Bulletins, die an die Außenstellen gehen. Sie liefert Leon hier seine Richtlinien, überprüft, was er aufsetzt, und stellt sicher, dass seine Texte in den Gesamtplan für die Korrespondenz hineinpassen.« Wenn die beiden Verhörspezialisten zuvor ein kleines bisschen gewusst hatten, so wussten sie jetzt womöglich noch weniger. Aber sie machten den Mund nicht auf. »Sobald Miss Bach sich mit einem Schriftsatz einverstanden erklärt hat, bespricht sie ihn gemeinsam mit Leon und Mr. Schwili.« Es war hundert Jahre her, dass jemand Schwili ›Mister‹ genannt hatte. »Bei dieser Besprechung einigen sie sich auf Tinten, Schreibgerät sowie auf den emotionalen und physischen Zustand des Schreibers im Rahmen der Fiktion. Ist er oder sie niedergeschlagen? Ist er oder sie wütend? In jedem einzelnen Fall hat das Team den gesamten fiktiven Rahmen in allen seinen Aspekten auf seine Stichhaltigkeit hin abzuklopfen.« Obwohl ihr neuer Boss entschlossen schien, das, was er zu sagen hatte, nur anzudeuten, statt es klar zu sagen, hatten die Verhörspezialisten nach und nach angefangen, die Umrisse des Plans zu erkennen, an dessen Verwirklichung sie nun beteiligt sein sollten. »Vielleicht hat Miss Bach in ihren Unterlagen eine originale Handschriftprobe - Brief, Postkarte oder Tagebuch -, die als Vorlage dienen kann. Möglich aber auch, dass das nicht der Fall ist.« Kurtz’ rechter Unterarm hatte ihnen mit abgehackten Bewegungen beide Möglichkeiten über den Tisch zugeschlagen. »Erst wenn dieses ganze Verfahren eingehalten worden ist, und erst dann, macht Mr. Schwili sich an die Fälschung. Er macht das wunderschön. Mr. Schwili ist nämlich nicht einfach ein Fälscher - er ist ein Künstler«, hatte er ihnen eingebleut - sie täten gut daran, das nicht zu vergessen. »Sobald er mit seinem Werk fertig ist, reicht Mr. Schwili es zurück an Miss Bach, und zwar zur erneuten Überprüfung, Anbringung von Fingerabdrücken, Weiterleitung oder Verwahrung. Fragen?«