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»Ich verlange Papier«, erklärte er den Wächtern großspurig, als sie nach einer Stunde wiederkamen, um seine Zelle auszufegen. Es war, als ob er nicht gesprochen hätte. Oded gähnte sogar. »Ich verlange Papier! Ich verlange die Vertreter des Roten Kreuzes! Ich verlange, einen Brief an meine Schwester Fatmeh zu schreiben, wie mir das nach der Genfer Konvention zusteht. Jawohl!« Auch diese Worte wurden unten günstig aufgenommen, bewiesen sie doch, dass das erste Angebot des ›Bildungs-Kreises‹ von Yanuka angenommen worden war. Sie sandten sofort eine Sondermeldung nach Athen. Die Wächter schlichen kleinlaut davon, angeblich um sich Anweisungen zu holen, und kamen bald darauf mit einem kleinen Stoß Rot-Kreuz-Papier zurück. Außerdem händigten sie Yanuka einen gedruckten ›Ratschlag für Häftlinge‹ aus, in dem es hieß, nur englisch geschriebene Briefe würden weitergeleitet, vorausgesetzt, sie enthielten keine versteckten Nachrichten. Aber nichts zum Schreiben. Yanuka verlangte einen Kugelschreiber, bettelte darum, schrie sie an und weinte, das alles mit verlangsamten Bewegungen, doch die Gefängniswärter erklärten laut und deutlich, von Bleistift oder Kugelschreiber stehe nichts in der Genfer Konvention. Eine halbe Stunde später besuchten ihn aufgeregt und voll gerechter Empörung die beiden Verhörspezialisten und drückten ihm ihren eigenen Federhalter mit der Aufschrift ›Für Menschlichkeit‹ in die Hand.

So ging die Scharade Szene um Szene mehrere Stunden lang weiter, und Yanuka in seinem geschwächten Zustand wehrte sich vergeblich dagegen, die ihm freundschaftlich entgegengestreckte Hand zurückzuweisen. Seine schriftliche Antwort an Fatmeh war ein klassisches Dokument: ein dreiseitiger geschwätziger Brief voller Ratschläge, Selbstmitleid und kühnen ›Sich-in-die-Brust-Werfens‹ , der Schwili eine erste ›saubere‹ Vorlage von Yanukas Handschrift im Zustand starker seelischer Anspannung lieferte und Leon eine ausgezeichnete Kostprobe seines englischen Stils bot. »Meine geliebte Schwester, in einer Woche steht mir die schwerste Bewährungsprobe meines Lebens bevor; Dein starker Geist wird mich begleiten«, schrieb er. Auch diese Neuigkeit war Gegenstand einer Sondermeldung: »Schickt mir alles«, hatte Kurtz Miss Bach aufgetragen. »Kein Schweigen. Wenn nichts passiert, signalisieren Sie, dass nichts geschieht.« Und schärfer zu Leon: »Sorg dafür, dass sie mir mindestens alle zwei Stunden Nachricht gibt. Am besten stündlich.«

Yanukas Brief an Fatmeh war der erste von mehreren Briefen. Manchmal kreuzten ihre Briefe sich; manchmal beantwortete Fatmeh seine Fragen fast umgehend, nachdem er sie zu Papier gebracht hatte; und stellte ihrerseits Fragen.

Fangt am Ende an, hatte Kurtz ihnen gesagt. Das Ende bestand in diesem Falle aus pausenlosem, anscheinend belanglosem Gerede. Denn die beiden Experten plauderten stundenlang und mit nicht nachlassender Freundlichkeit mit Yanuka, bestärkten ihn, wie er gemeint haben muss, mit ihrer schwerfälligen schweizerischen Treuherzigkeit und bauten seinen Widerstand für den Tag auf, da die israelischen Schergen ihn zur Untersuchung schleppen würden. Zuerst wollten sie seine Meinung zu fast allem, worüber er sich zu unterhalten bereit war, hören, schmeichelten ihm mit ihrer respektvollen Neugier und ihrem Einfühlungsvermögen. Politik, so gestanden sie schüchtern, sei eigentlich nie ihr Feld gewesen; sie hätten immer dazu geneigt, den Menschen über die Ideen zu stellen. Einer von ihnen zitierte aus Gedichten von Robert Burns, der - wie sich herausstellte - zufällig auch ein Lieblingsdichter von Yanuka war. Manchmal hatte es fast den Anschein, als forderten sie ihn auf, sie zu seiner Denkweise zu bekehren, so aufgeschlossen zeigten sie sich seinen Argumenten gegenüber. Sie fragten ihn nach seinem Verhältnis zur westlichen Welt aus, nachdem er mehr als ein Jahr dort gelebt hatte, zuerst ganz allgemein, dann Land um Land, und lauschten hingerissen seinen nicht gerade originellen Verallgemeinerungen: der Eigennutz der Franzosen, die Habgier der Deutschen, die Dekadenz der Italiener. Und England? wollten sie ohne jedes Arg wissen. Oh, England sei am schlimmsten von allen! erwiderte er mit Nachdruck. England sei heruntergekommen, bankrott und richtungslos; England sei der verlängerte Arm des amerikanischen Imperialismus; England sei rundum schlecht, und das schlimmste Verbrechen der Engländer sei es, sein Land den Zionisten ausgeliefert zu haben. Er verlor sich wieder in einer langatmigen Hasstirade auf Israel, und sie ließen ihn gewähren. Sie wollten in diesem frühen Stadium auch nicht den leisesten Argwohn in ihm wecken, dass seine Reisen in England sie ganz besonders interessierten. Statt dessen fragten sie ihn nach seiner Kindheit aus - seinen Eltern, seinem Elternhaus in Palästina -, und mit schweigender Genugtuung nahmen sie zur Kenntnis, dass er seinen älteren Bruder nie auch nur mit einem einzigen Wort erwähnte; dass auch jetzt der große Bruder nicht das geringste mit Yanukas Leben zu tun hatte. Obwohl so viel für sie sprach, war Yanuka, das bemerkten sie wohl, bis jetzt nur bereit, nur von Dingen zu reden, die er als ungefährlich für die Sache der Palästinenser betrachtete.

Voll unerschütterlichen Mitgefühls hörten sie sich seine Geschichten über zionistische Greueltaten an und seine Erinnerungen an die Zeit, als er für die siegesgewohnte Fußballmannschaft seines Flüchtlingslagers in Sidon im Tor gestanden hatte. »Erzählen Sie von Ihrem besten Spiel«, drängten sie ihn. »Erzählen Sie von dem entscheidendsten Ball, den Sie je gehalten haben. Erzählen Sie uns von dem Pokal, den Sie gewonnen haben, und wer dabei war, als der große Abu Ammar persönlich ihn Ihnen in die Hand drückte!« Stockend und schüchtern tat Yanuka ihnen den Gefallen. Unten lief das Tonbandgerät, und Miss Bach speicherte ein Goldkorn nach dem anderen in ihrem Computer und unterbrach diese Arbeit nur, um Samuel dem Pianisten Zwischenberichte für Jerusalem und sein Gegenstück, David, in Athen zur Weiterleitung herüberzureichen. Leon schwebte derweil in seinem ganz privaten Himmel. Die Augen halb geschlossen, tauchte er in Yanukas eigenwilliges Englisch ein: in die Art, wie er sich impulsiv verhaspelte; wie er das, was er sagte, immer wieder poetisch ausschmückte; in seinen Tonfall und seinen Wortschatz, wie er unversehens das Thema wechselte, manchmal praktisch mitten im Satz. Ihm gegenüber auf der anderen Seite des Ganges saß Schwili und schrieb und murmelte vor sich hin und frohlockte. Manchmal jedoch, bemerkte Leon, hörte er unvermittelt auf und versank in Verzweiflung. Wenige Sekunden darauf sah Leon ihn dann auf leisen Füßen durchs Zimmer gehen, dessen Ausmaße mit dem Mitgefühl des ehemaligen Gefängnisinsassen für den glücklosen jungen Mann oben abschreiten. Um über das Tagebuch reden zu können, hatten sie sich einen anderen, allerdings auch wesentlich gewagteren Bluff ausgedacht. Zunächst einmal hatten sie diese Frage bis zum wirklichen dritten Tag hinausgeschoben; bis dahin hatten sie ihn allein durch ihre Methode der harmlosen Unterhaltung so bloßgelegt, wie es nur ging. Und selbst danach holten sie noch eigens Kurtz’ Einverständnis ein, ehe sie loslegten, so nervös machte es sie, die Eierschale von Yanukas Vertrauen zu ihnen ausgerechnet in einem Augenblick anzuknacken, da ihnen keine Zeit blieb, irgendwelche Methoden anzuwenden. Die Gefängniswärter hatten das Tagebuch einen Tag nach Yanukas Entführung gefunden. Zu dritt waren sie in seine Wohnung gegangen und hatten dabei kanarienvogelgelbe Overalls angehabt mit Plaketten, die sie als Mitarbeiter einer Münchener Reinigungsfirma auswiesen. Ein Hausschlüssel sowie ein fast echter Brief mit Instruktionen von Yanukas Hauswirt gab ihnen alle Autorität, die sie brauchten. Sie holten Staubsauger, Schrubber und eine Trittleiter aus ihrem kanarienvogelgelben Kastenwagen. Dann schlössen sie die Tür, zogen die Vorhänge zu und fielen acht volle Stunden über die Wohnung her wie die Heuschrecken, bis nichts mehr übrig zu sein schien, das sie nicht genauestens untersucht, fotografiert und an den richtigen Platz zurückgestellt, nachdem sie es aus einem Staubsaugerbeutel wieder eingestäubt hatten. Und zu ihren Funden, hinter einem Bücherregal an einer Stelle eingezwängt, die vom Telefon aus bequem zu erreichen war, gehörte dieser in braunes Leder gebundene kleine Taschenkalender, ein Werbegeschenk der Middle East Airlines, an das Yanuka auf irgendeine Weise gekommen sein musste. Sie wussten, dass er ein Tagebuch führte, und sie hatten es unter seinen Habseligkeiten vermisst, als sie ihn geschnappt hatten. Jetzt hatten sie es zu ihrer Freude gefunden. Manche Eintragungen waren auf Arabisch, einige auf Französisch und noch andere auf Englisch gemacht worden. Einige waren überhaupt nicht zu entziffern, in keiner Sprache, andere in einem nicht allzu privaten Wort-Code abgefasst. Die meisten Notizen bezogen sich auf bevorstehende Verabredungen, doch ein paar waren auch erst nachträglich hinzugefügt worden: »J. getroffen, P. anrufen.« Neben dem Tagebuch fiel ihnen noch eine andere Beute in die Hände, nach der sie Ausschau gehalten hatten: ein dicker fester Umschlag mit einem Stapel Quittungen, die Yanuka für den Tag aufhob, wenn er über seine Unternehmungen würde abrechnen müssen. Den Anweisungen entsprechend ließ das Team auch diesen Umschlag mitgehen.