Manches von dem, was Schulmann unternahm, kam Alexis erst zu Ohren, nachdem das israelische Team wieder heimgeflogen war. So kam er zum Beispiel fast, wenn auch nicht ganz, durch Zufall dahinter, dass Schulmann und sein Adlatus das Mädchen Elke unabhängig von den deutschen Ermittlern aufgesucht und sie zu nachtschlafender Zeit bewogen hatten, ihre Abreise nach Schweden zu verschieben, damit sie sich ganz aus freien Stücken und wohl bezahlt zu einer vertraulichen Unterhaltung zu dritt bereit finde. Sie hatten einen ganzen Nachmittag damit verbracht, sie in einem Hotelzimmer in die Mangel zu nehmen, und brachten sie dann, ganz im Gegensatz zu ihrer Sparsamkeit, wenn es um gesellschaftliche Dinge auf anderen Gebieten ging, munter mit einem Taxi zum Flughafen. All dies - so vermutete Alexis - mit dem Ziel, herauszubekommen, wer ihre richtigen Freunde waren und mit wem sie es trieb, wenn ihr Freund sich wieder sicher in der Obhut der Bundeswehr befand. Und woher sie das Marihuana und die Amphetamine bezog, die sie in den Trümmern ihres Zimmers gefunden hatten. Oder - was wahrscheinlicher war - von wem sie sie hatte und in wessen Armen sie gern lag und über sich und ihre Arbeitgeber redete, wenn sie wirklich angetörnt und entspannt war. Darauf kam Alexis zum Teil deshalb, weil inzwischen seine eigenen Leute ihm ihren vertraulichen Bericht über Elke gebracht hatten, und die Fragen, die er Schulmann zuschrieb, waren dieselben, die er ihr gern selbst gestellt hätte, wenn Bonn ihm nicht einen Maulkorb umgehängt und ›Hände weg‹ geschrieen hätte.
Keinen Schmutz, sagten sie weiterhin. Erst mal soll Gras darüber wachsen. Und Alexis, der inzwischen ums.eigene Überleben kämpfte, nahm den Hinweis auf und hielt den Mund, weil mit jedem Tag, der verging, die Aktien des Schlesiers zum Nachteil seiner eigenen stiegen. Trotzdem hätte er gutes Geld für die Art von Antworten gegeben, die Schulmann ihr mit seinem wahnsinnigen und erbarmungslosen Drängen zwischen Blicken auf sein altmodisches Monstrum von Uhr abgeluchst hatte - für das gezeichnete Porträt des virilen arabischen Studenten oder des Junior-Attaches vom äußeren Rand des diplomatischen Dienstes zum Beispiel - oder war es ein Kubaner gewesen? -, mit reichlich Geld und den richtigen kleinen Päckchen Stoff und einer unerwarteten Bereitschaft zuzuhören. Viel später, als es längst zu spät war, um noch eine Rolle zu spielen, erfuhr Alexis auch - über den schwedischen Geheimdienst, der gleichfalls angefangen hatte, sich für Elkes Liebesleben zu interessieren-, dass Schulmann und sein Adlatus in den frühen Morgenstunden, als andere schliefen, eine Sammlung von Fotos möglicher Kandidaten zusammengebracht hatten. Und dass Elke darunter einen herausgepickt hatte, dem Vernehmen nach Zypriot, den sie nur mit Vornamen gekannt hatte - Marius -; er hatte von ihr verlangt, dass sie ihn französisch aussprach. Und dass sie ihnen eine entsprechende, formlose Erklärung unterschrieben hatte - ›Ja, das ist der Marius, mit dem ich geschlafen habe‹ - die sie, wie sie ihr zu verstehen gegeben hatten, für Jerusalem brauchten. Warum mochten sie das getan haben? überlegte Alexis. Um damit irgendwie Schulmanns Frist weiter hinauszuschieben? Als Sicherheit, um daheim in der Zentrale Kredit herauszuschlagen? Alexis verstand diese Dinge. Und je mehr er darüber nachdachte, desto größer wurde das Gefühl innerer Verwandtschaft, kameradschaftlichen Einvernehmens mit Schulmann. Du und ich, wir sind vom selben Stamm, hörte er sich förmlich denken. Wir rackern uns ab, wir fühlen, wir erkennen. Alexis spürte all dies ganz tief und mit großem Selbstbewusstsein.
Die obligatorische Schlussbesprechung fand im Vortragssaal statt, in dem der unbeholfene Schlesier den Vorsitz über dreihundert Stühle führte, von denen die meisten leer waren; auf ihnen verteilten sich jedoch die beiden Gruppen, die deutsche und die israelische, die wie die Familien bei einer Trauung zu beiden Seiten des Mittelgangs der Kirche zusammenhockten. Die Zahl der Deutschen war durch Beamte aus dem Innenministerium und einiges Stimmvieh aus dem Bundestag verstärkt worden; die Israelis hatten den Militär-Attache aus der Botschaft dabei, doch ein paar aus ihrem Team, darunter Schulmanns ausgemergelter Adlatus, waren bereits wieder nach Tel Aviv zurückgekehrt - zumindest behaupteten das seine Kollegen. Der Rest versammelte sich um elf Uhr vormittags vor einer mit einem weißen Tuch bedeckten Tafel, auf der die verräterischen Überbleibsel der Explosion wie archäologische Funde nach einer langen Grabung ausgestellt waren, ein jedes mit einem maschinebeschrifteten Etikett versehen. Daneben konnte man an einer Pinnwand die üblichen Schreckensbilder betrachten - in Farbe, um möglichst wirklichkeitsgetreu zu sein. An der Tür ein hübsches Mädchen, das allzu reizend lächelte, als es den Teilnehmern Plastikhefter mit Hintergrundmaterial überreichte. Hätte sie Bonbons oder Eis ausgeteilt, es würde Alexis nicht überrascht haben. Die Deutschen unterhielten sich lebhaft und renkten sich nach allem, einschließlich der Israelis, die ihrerseits das tiefe Schweigen jener bewahrten, für die jede vergeudete Minute ein Martyrium bedeutete, den Hals aus. Nur Alexis - dessen war er sich sicher - begriff und teilte ihre heimliche Qual, worauf immer sie auch beruhen mochte. Wir sind einfach zu viel, dachte er. Wir sind es, um die es eigentlich geht. Bis vor einer Stunde hatte er erwartet, selber den Vorsitz zu führen. Er hatte erwartet, knapp und bündig zu sagen, was zu sagen war, hatte sich insgeheim sogar schon ein munteres englisches ›Thank you, gentlemen zurechtgelegt, um danach zu verschwinden. Doch die hohen Herren hatten ihre Entscheidungen getroffen und wollten den Schlesier zum Frühstück, Mittag- und Abendessen; Alexis wollten sie nicht, nicht einmal zum Kaffee. Infolgedessen drückte er sich, die Arme vor der Brust verschränkt, auffällig im Hintergrund herum und bekundete nach außen hin ein sorgloses Interesse, während er innerlich schäumte und versuchte, sich in die Lage der Juden hineinzuversetzen. Als alle bis auf Alexis saßen, hatte der Schlesier seinen Auftritt, und zwar mit jenem besonderen beckenbetonten Gang, den ein gewisser Typ von Deutschen nach Alexis’ Erfahrung annahm, wenn er ein Rednerpult bestieg. Hinter ihm trottete ein verschüchterter junger Mann in weißem Kittel, beladen mit einem Duplikat des nunmehr berühmten abgewetzten grauen Koffers samt den Anhängern der skandinavischen Luftfahrtgesellschaft, den er wie eine Opfergabe auf das Podium legte. Als Alexis sich nach seinem Helden Schulmann umsah, entdeckte er ihn ziemlich weit hinten allein auf einem Platz neben dem Mittelgang. Er hatte Jacke und Schlips abgelegt und trug eine bequeme Hose, die wegen seines mächtigen Leibesumfangs ein wenig zu hoch über seinen unmodernen Schuhen endete. Die stählerne Armbanduhr blinkte am gebräunten Handgelenk; das Weiß seines Hemdes vor der wettergegerbten Haut verlieh ihm das wohlwollende Aussehen von jemand, der im Begriff steht, in die Ferien zu fahren. Bleib noch etwas, und ich komme mit, dachte Alexis sehnsüchtig und musste an die wenig erfreuliche Unterredung mit den hohen Herren denken. Der Schlesier sprach englisch, ›mit Rücksicht auf unsere israelischen Freunde‹. Doch auch, wie Alexis vermutete, mit Rücksicht auf jene seiner Anhänger, die gekommen waren, um zu begutachten, wie ihr Champion sich mache. Der Schlesier hatte den obligaten Ausbildungskurs in Subversionsbekämpfung in Washington gemacht und sprach daher das verhunzte Englisch eines Astronauten. In der Einführung ließ er sie wissen, die furchtbare Tat sei das Werk radikaler linker Elemente‹ , und als er auf die übertriebene sozialistische Nachsicht der heutigen Jugend gegenüber anspielte, kam von den Sitzen der Parlamentarier ein gewisses zustimmendes Stühlerücken. Nicht einmal unser geliebter Führer hätte es besser ausdrücken können, dachte Alexis, ließ sich äußerlich jedoch nichts anmerken. Aus baulichen Gründen sei die Sprengwirkung in die Höhe gegangen, sagte der Schlesier und wandte sich einer graphischen Darstellung zu, die sein Assistent hinter ihm entrollte, habe praktisch den Mittelteil des Hauses sauber herausgetrennt und das Kinderzimmer mitgerissen. Kurz gesagt ein Riesenknall, dachte Alexis erregt, warum das also nicht sagen und dann den Mund halten. Aber der Schlesier hielt nichts von Mundhalten. Nach den besten Schätzungen müsse es sich um fünf Kilo Sprengstoff gehandelt haben. Die Mutter sei mit dem Leben davongekommen, weil sie sich gerade in der Küche aufgehalten habe. Bei der Küche handele es sich um einen Anbau. Die plötzliche und unvermutete Verwendung eines deutschen Wortes rief- zumindest bei den Deutschsprechenden - eine eigentümliche Verlegenheit hervor.