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Sie blickte ihn weiterhin an, wartete auf das Stichwort, das ihr sagte, was sie sein sollte. Unter dem zwingenden Druck seiner Gegenwart hatte sie auf die unausgegorenen Ideen einer früheren Existenz zurückgegriffen, mit denen sie eigentlich nichts mehr zu schaffen haben wollte, es sei denn, er wollte das.

»Bedenke, dass es für ihn keinen small-talk gibt«, befahl ihr Joseph, als hätten sie sich noch nie im Leben angelächelt. »Wie schnell er an die ernsthafte Seite deines Wesens appelliert hat. In gewisser Weise ist er auch sehr penibel - so hat er zum Beispiel für heute abend alles vorausgeplant: das Essen, den Wein, die Kerzen - sogar seine Unterhaltung. Wir können sagen, dass er mit einer den Israelis gleichkommenden Tüchtigkeit einen ganzen Feldzug vorbereitet hat, um seine Johanna im Sturm zu nehmen.«

»Schändlich«, sagte sie mit ernster Stimme und betrachtete ihr Armband.

»Unterdessen versichert er dir, dass du die großartigste Schauspielerin auf Erden bist, und das geht dir, wie ich annehme, wieder glatt runter. Er bleibt dabei, dich mit der heiligen Johanna zu verwechseln, doch inzwischen stört es dich nicht mehr ganz so sehr, dass Leben und Theater für ihn nicht zu trennen sind. Die heilige Johanna, erzählt er dir, sei seine Heldin gewesen, seit er zum ersten Mal von ihr gelesen habe. Obwohl eine Frau, habe sie es verstanden, das Klassenbewusstsein der französischen Bauern zu wecken und sie gegen die imperialistischen britischen Unterdrücker in die Schlacht zu führen. Sie sei eine echte Revolutionärin, die die Flamme der Freiheit für die ausgebeuteten Völker der Welt entzündet habe. Sie habe Sklaven zu Helden gemacht. Das ist die Summe seiner kritischen Analyse. Die Stimme Gottes, die in ihr sprach, sei nichts anderes gewesen als ihr revolutionäres Bewusstsein, das sie gedrängt habe, den Kolonialisten Widerstand zu leisten. Es kann nicht die eigentliche Stimme Gottes sein, denn Michel ist zu dem Schluss gekommen, dass Gott tot ist. Vielleicht warst du dir all dieser Dinge gar nicht bewusst, als du die Rolle spieltest?«

Sie fingerte immer noch am Armband herum. »Nun, möglich, dass mir ein paar davon nicht so klar waren«, räumte sie sorglos ein - nur um aufzublicken und abermals seiner granitartigen Missbilligung zu begegnen. »Ach, verdammt!« sagte sie.

»Charlie, ich warne dich: nimm Michel nie mit deinen europäischen Geistreicheleien auf den Arm. Sein Sinn für Humor ist höchst launisch und hört in jedem Fall dort auf, wo die Scherze auf seine Kosten gehen - besonders dann, wenn sie auch noch von Frauen kommen.« Eine Pause, damit die Warnung wirken konnte. »Na, schön. Das Essen ist grauenhaft, aber dir ist das vollkommen gleichgültig. Er hat Steak bestellt, weiß aber nicht, dass du gerade eine deiner vegetarischen Phasen hast. Du isst ein paar Happen, um ihn nicht zu beleidigen. In einem späteren Brief gestehst du ihm, es sei das schlimmste Steak gewesen, das du jemals gegessen hättest, aber auch das beste. Solange er spricht, hast du für nichts anderes Sinn als für seine lebhafte, leidenschaftliche Stimme und sein schönes arabisches Gesicht jenseits der Kerzen. Ja?«

Sie zögerte, lächelte dann. »Ja.«

»Er liebt dich, liebt deine Begabung, liebt die heilige Johanna. ›Für die britischen Kolonialisten war sie eine Verbrecherin‹ , sagt er dir. ›Alle Freiheitskämpfer waren für sie Verbrecher. Das ging auch George Washington, Mahatma Gandhi oder Robin Hood nicht anders. Und den Kämpfern des irischen Freiheitskampfes heute auch nicht.‹ Diese Ideen, die er da zum besten gibt, sind nicht gerade neu, wie du sehr wohl weißt, aber mit seiner inbrünstigen orientalischen Stimme vorgetragen, die so - wie soll man das ausdrücken? - voller animalischer Natürlichkeit ist, üben sie eine hypnotische Wirkung auf dich aus; sie erfüllen die alten Klischees mit neuem Leben, haben etwas von der Wiederentdeckung der Liebe. ›Für die Briten‹ , sagt er zu dir, ›ist jeder, der den Terror der Kolonialisten bekämpft, selbst ein Terrorist. Die Briten sind meine Feinde, alle, bis auf dich. Die Briten haben mein Land an die Zionisten weggegeben und die Juden aus Europa zu uns rübergeschafft mit dem Auftrag, den Osten in den Westen zu verwandeln. Geht hin und zähmt den Nahen Osten für uns, haben sie gesagt. Die Palästinenser taugen nichts, werden aber gute Kulis für euch abgeben. Die alten britischen Kolonisatoren waren müde und geschlagen, deshalb haben sie uns den neuen Kolonisatoren übergeben, die den Eifer und die Rücksichtslosigkeit hatten, den Knoten zu zerschlagen. Wegen der Araber macht euch nur keine Gedanken, sagten die Briten zu ihnen. Wir versprechen euch wegzusehen, wenn ihr euch mit ihnen anlegt. Hör zu! Hörst du auch wirklich zu?«

Jose, wann hätte ich jemals nicht zugehört?

»Heute abend ist Michel ein Prophet für dich. Niemand hat je zuvor die ganze Kraft seines Fanatismus auf dich allein konzentriert. Seine Überzeugung, seine Hingabe an die Sache -all das steht dir, während er spricht, leuchtend vor Augen. Theoretisch gesehen, redet er selbstverständlich auf eine schon Bekehrte ein, doch in Wirklichkeit pflanzt er in den Lumpensack deiner vagen linken Grundsätze das menschliche Herz. Auch das sagst du ihm in einem späteren Brief, gleichgültig, ob man nun ein menschliches Herz in einen Lumpensack pflanzen kann oder nicht. Du möchtest, dass er dich belehrt: Er tut es. Du möchtest, dass er deine britischen Schuldgefühle anspricht: Auch das tut er. Der Zy nismus, mit dem du dich schützt, wird einfach beiseite gefegt. Du fühlst dich wie neu geboren. Wie weit entfernt er ist von deinen immer noch nicht ausgerotteten Mittelklasse-Vorurteilen! Von deinen von Bequemlichkeit geprägten Sympathien für den Westen! Ja?« fragte er leise, als ob sie eine Frage an ihn gerichtet hätte. Sie schüttelte den Kopf, und schon ließ er sich wieder von der geborgten Leidenschaft seines arabischen Stellvertreters beflügeln.

»Er übersieht vollkommen, dass du theoretisch bereits auf seiner Seite stehst; er verlangt deine vollständige Identifizierung mit seiner Sache, eine neue Bekehrung. Er wirft dir Statistiken an den Kopf, als ob du persönlich für sie verantwortlich wärst. Seit 1948 über zwei Millionen christliche und moslemische Araber aus ihrer Heimat vertrieben und ihrer Bürgerrechte beraubt. Ihre Häuser und Dörfer niedergewalzt - er sagt dir, wie viele genau - nennt dir die Dunam-Zahl - ein Dunam sind tausend Quadratmeter. Du fragst danach, und er sagt es dir. Und als sie ins Exil kommen, schlachten ihre arabischen Brüder sie ab und behandeln sie wie den Abschaum der Menschheit, und die Israelis bombardieren und beschießen ihre Flüchtlingslager, weil sie nicht aufhören, sich zu wehren. Denn man ist ein Terrorist, wenn man sich dagegen wehrt, enteignet zu werden, wohingegen Siedlungen zu errichten, Flüchtlinge zu bombardieren und ein Volk zu dezimieren leider politische Notwendigkeiten sind. Weil zehntausend tote Araber nicht soviel wert sind wie ein toter Jude. Hör zu!« Er lehnte sich über den Tisch und packte ihre Hand. »Es gibt keinen liberalen Europäer, der zögern würde, gegen die Ungerechtigkeiten in Chile, Südafrika, Polen, Argentinien, Kambodscha, im Iran, Nord-Irland und an anderen Unruheherden zu sprechen, die gerade Mode sind.« Sein Griff wurde fester. »Wer aber bringt den schlichten Mut auf, laut den grausamsten Witz der Weltgeschichte auszusprechen: dass dreißig Jahre Israel die Palästinenser zu den neuen Juden auf Erden gemacht haben? Weißt du, wie die Zionisten mein Land beschrieben haben, ehe sie sich seiner bemächtigten: ›Ein Land ohne Menschen für Menschen ohne Land.‹Es gab uns überhaupt nicht. In Gedanken hatten die Zionisten längst Völkermord begangen; es galt, ihn nur noch in die Tat umzusetzen. Und ihr, die Briten, ihr wart die Baumeister dieser großen Vision. Weißt du, wie Israel entstand? Dadurch, dass eine europäische Macht einer jüdischen Lobby arabisches Gebiet zum Geschenk machte. Und nicht einen einzigen Bewohner dieses Gebietes deshalb fragte. Und diese Macht war Großbritannien. Soll ich dir beschreiben, wie Israel entstanden ist?... Ist es spät? Bist du müde? Musst du zurück in dein Hotel?«