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Sie spürte seinen Blick und fragte sich, ob ihm bewusst sei, dass sie sich innerlich zurückgezogen hatte, oder ob er entschlossen war, das nicht zur Kenntnis zu nehmen. Erst hinterher ging ihr auf, dass er sie absichtlich ermunterte, sich von ihm abzuwenden und ins gegnerische Lager überzugehen.

»Noch fast zwanzig Jahre nach der Katastrophe klammerte sich mein Vater an das, was von unserem Dorf noch übrig geblieben war. Einige schimpften ihn einen Kollaborateur. Sie hatten keine Ahnung. Sie hatten nie den zionistischen Stiefel im Genick gehabt. Überall um uns herum in den benachbarten Gebieten wurden die Menschen vertrieben, geschlagen, verhaftet. Die Zionisten nahmen ihnen ihr Land weg, machten ihre Häuser mit Bulldozern dem Erdboden gleich und bauten auf ihnen neue Siedlungen, in denen kein Araber leben durfte. Aber mein Vater war ein Mann des Friedens und der Weisheit, und eine Zeitlang hielt er die Zionisten von unserer Haustür fern.«

Wieder wollte sie ihn fragen: Ist das wahr? Doch wieder kam sie zu spät.

»Aber als im 67er-Krieg die Panzer auf unser Dorf zurollten, da flohen auch wir über den Jordan. Tränen in den Augen, rief mein Vater uns zusammen und befahl uns, unsere Habseligkeiten zusammenzusuchen. ›Die Pogrome werden jeden Augenblick losgehen‹ , sagte er. Ich fragte ihn - ich, der Kleinste, der keine Ahnung hatte: ›Vater, was ist ein Pogrom?‹ Und er erwiderte: ›Das, was die Europäer den Juden angetan haben, tun uns jetzt die Zionisten an. Sie haben einen großen Sieg errungen, und sie könnten es sich leisten, großmütig zu sein. Aber in ihrer Politik ist von dieser Tugend nichts zu spüren.‹ Bis zu meinem Tode werde ich nie vergessen, wie mein stolzer Vater die elende Hütte betrat, die von nun an unser Zuhause sein sollte. Lange stand er auf der Schwelle und wartete darauf, dass er die Kraft fände, sie zu überschreiten. Er weinte nicht, wohl aber saß er tagelang auf einer Kiste mit seinen Büchern und rührte kein Essen an. Ich glaube, in diesen Tagen ist er um zwanzig Jahre gealtert. ›Ich habe mein Grab betreten‹ , sagte er. ›Diese Hütte ist mein Grab.‹ Vom Augenblick unserer Ankunft in Jordanien an waren wir staatenlos, hatten wir keine Papiere, keine Rechte, keine Zukunft und keine Arbeit mehr. Meine Schule? Eine Blechhütte, bis zur Decke voll mit fetten Fliegen und unterernährten Kindern. Die Fatah ist mein Lehrer. Es gibt so viel zu lernen. Wie man schießt. Wie man gegen den zionistischen Aggressor kämpft.«

Er sprach nicht weiter, und zuerst dachte sie, er lächelte sie an, doch war sein Gesichtsausdruck alles andere als fröhlich. »›Ich kämpfe, also bin ich‹ «, verkündete er gelassen. »Weißt du, von wem dieses Wort stammt? Von einem Zionisten, einem friedliebenden patriotischen, idealistischen Zionisten, der mit terroristischen Methoden viele Briten und viele Palästinenser umgebracht hat. Da er aber ein Zionist ist, ist er kein Terrorist, sondern ein Held und ein Patriot. Soll ich dir sagen, wer er war, als er diese Worte sprach, dieser friedliebende, zivilisierte Zionist? Er war der Premierminister eines Landes, das sie Israel nennen. Und weißt du, wo er herkam, dieser terroristische zionistische Premierminister? Aus Polen. Kannst du mir bitte sagen - eine gebildete Engländerin einem schlichten staatenlosen Bauern -, kannst du mir bitte sagen, wie es kommen konnte, dass ein Pole der Herrscher über meine Heimat Palästina wurde, ein Pole, der nur ist, weil er kämpft? Kannst du mir bitte erklären, nach welchem Prinzip des englischen Rechts, der englischen Unparteilichkeit und des englischen fair play dieser Mann dazu kommt, über mein Land zu herrschen? Und uns Terroristen zu schimpfen?«

Die Frage war ihr entschlüpft, ehe sie Zeit hatte, sie sich genau zu überlegen. Sie hatte sie nicht als Herausforderung gemeint. Sie kam ganz von selbst, tauchte aus dem Chaos empor, das er in ihr anrichtete: »Ja, kannst du es denn?«

Er antwortete nicht, aber er ging ihrer Frage auch nicht aus dem Wege. Er nahm sie an. Einen Augenblick hatte sie das Gefühl, er hätte sie erwartet. Dann lachte er, kein besonders nettes Lachen, griff nach seinem Glas und prostete ihr zu. »Bring einen Trinkspruch auf mich aus«, befahl er. »Komm! Erheb dem Glas. Die Geschichte gehört den Siegern. Hast du diese einfache Tatsache vergessen? Trink mit mir!« Zweifelnd hob sie ihm ihr Glas entgegen.

»Auf das kleine, tapfere Israel!« sagte er. »Auf sein erstaunliches Überleben dank einer amerikanischen Finanzhilfe von sieben Millionen Dollar pro Tag und dank der Tatsache, dass das gesamte Pentagon nach Israels Pfeife tanzt.« Ohne zu trinken, setzte er das Glas wieder ab. Sie tat das gleiche. Zu ihrer Erleichterung schien das Melodrama mit dieser Geste vorläufig vorüber zu sein. »Und du, Charlie, hörst zu. Fassungslos. Überwältigt. Von seiner Romantik, seiner Schönheit, seinem Fanatismus. Er kennt keine Zurückhaltung. Keine westlichen Hemmungen. Haut es hin - oder stößt das Gewebe deiner Phantasie das beunruhigende Transplantat ab?« Sie nahm seine Hand. »Und sein Englisch reicht für all das aus, ja?« fragte sie, um Zeit zu gewinnen.

»Sein Wortschatz ist mit Jargon und einem eindrucksvollen Anteil schön klingender Phrasen, fragwürdiger Statistiken und gequälter Zitate überfrachtet. Trotzdem geht von ihm die Begeisterung eines jungen und leidenschaftlichen, aber auch entgegenkommenden Wesens aus.«

»Und was macht Charlie die ganze Zeit über? Ich sitze einfach da, nicht wahr, gucke dumm und lese ihm jedes Wort von den Lippen ab? Ermuntere ich ihn? Was mache ich?«

»Laut Textvorlage ist das, was du machst, praktisch bedeutungslos. Michel hypnotisiert dich fast über die Kerze hinweg. So beschreibst du es ihm später in einem deiner Briefe. ›Mein Lebtag werde ich nicht Dein bezauberndes Gesicht über dem Kerzenlicht vergessen - an jenem ersten Abend, den wir zusammen verbrachten.‹ Ist das für deinen Geschmack zu dick aufgetragen? Allzu kitschig?« Sie gab seine Hand frei. »Was für Briefe? Woher bekommen wir denn die ganze Zeit über Briefe?«

»Einigen wir uns zunächst darüber, dass du ihm später schreiben wirst. Aber ich frage noch mal - ist das spielbar, haut das hin? Oder sollen wir den Autor erschießen und nach Hause gehen?«

Sie trank einen Schluck Wein. Dann noch einen. »Es ist stimmig. Bis jetzt lässt es sich spielen.«

»Und der Brief - nicht zuviel des Guten - du kannst damit leben?« »Wenn man es nicht alles in einem Liebesbrief raushängen kann - wo dann?«

»Ausgezeichnet. Dann schreibst du ihm so, und so läuft das Stück bis jetzt auch ab. Bis auf eine Kleinigkeit. Dass dies nicht dein erstes Zusammentreffen mit Michel ist.«

Alles andere als bühnenwirksam stellte sie ihr Glas mit einem Ruck hin.

Eine neue Erregung hatte sich seiner bemächtigt: »Hör zu«, sagte er, lehnte sich vor, und das Kerzenlicht fiel auf seine gebräunten Schläfen wie Sonnenstrahlen auf einen Helm. »Hör zu«, wiederholte er. »Hörst du mir zu?« Aber wieder wartete er ihre Antwort nicht ab. »Ein Zitat. Von einem französischen Philosophen. Das größte Verbrechen besteht darin, nichts zu tun, weil wir befürchten, dass wir nur wenig bewirken können. Klingelt da nichts bei dir?«

»Mein Gott!« sagte Charlie leise und kreuzte unwillkürlich die Arme vor der Brust, wie um sich zu schützen. »Soll ich fortfahren?« Er tat es ohnehin. »Erinnert dich das nicht an jemand? Es gibt nur einen Klassenkampf, und zwar den zwischen den Kolonisatoren und den Kolonisierten, den Kapitalisten und den Ausgebeuteten. Unsere Aufgabe ist es, den Krieg unter diejenigen zu tragen, die ihn machen. Unter die rassistischen Millionäre, die die Dritte Welt als Selbstbedienungsladen betrachten. Unter die korrupten, durch Öl reich gewordenen Scheichs, die das Geburtsrecht der Araber verkauft haben.« Er hielt inne, bemerkte, wie ihr Kopf zwischen die Hände gesunken war.