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»Hör auf, Jose«, flüsterte sie. »Das ist zuviel. Geh nach Hause.«

»Unter die imperialistischen Kriegstreiber, die die zionistischen Aggressoren mit Waffen versorgen. Unter die hirnlose westliche Bourgeoisie, die, ohne es zu wissen, selber Sklaven, Fortsetzer des eigenen Systems sind.« Das war kaum noch ein Flüstern, aber seine Stimme klang gerade deswegen um so eindringlicher. »Die Welt sagt uns, wir sollen keine unschuldigen Frauen und Kinder angreifen. Aber ich sage euch, so etwas wie Unschuld gibt es gar nicht mehr. Für jedes Kind, das in der Dritten Welt vor Hunger stirbt, gibt es im Westen ein Kind, das ihm seine Nahrung gestohlen hat...«

»Hör auf«, wiederholte sie durch die Finger hindurch: jetzt war sie sich des Bodens, auf dem sie stand, nur allzu sicher. »Es reicht. Ich geb’ auf.«

Doch er fuhr unbeirrt fort: »Mit sechs wurde ich aus unserem Land vertrieben. Mit acht schloss ich mich der Ashbal an. - Was ist die Ashbal, bitte? - Komm, Charlie, das war deine Frage. Warst du es nicht, die diese Frage gestellt - die die Hand hochgehoben hat? - ›Was ist die Ashbal, bitte?‹ Und was habe ich geantwortet?«

»Kinder-Miliz«, sagte sie, das Gesicht immer noch in den Händen. »Mir wird’s gleich schlecht, Jose. Jetzt.«

»Mit zehn kauerte ich in einem selbstgebauten Schutzraum, während die Syrer unser Lager mit Raketen belegten. Als ich fünfzehn war, kamen meine Mutter und meine Schwester bei einem zionistischen Bombenangriff ums Leben. Fahr bitte fort, Charlie - beende du meine Lebensgeschichte für mich.«

Sie hatte wieder seine Hand ergriffen - diesmal mit beiden Händen - und schlug sie sanft voller Vorwurf gegen die Tischplatte.

»Wenn Kinder bombardiert werden können, können sie auch kämpfen«, erinnerte er sie. »Und wenn sie Siedlungen anlegen? Was dann? Mach schon!«

»Dann müssen sie getötet werden«, murmelte sie widerstrebend.

»Und wenn ihre Mütter sie nähren und lehren, uns unsere Häuser wegzunehmen und unser Volk im Exil zu bombardieren?« »Dann stehen ihre Mütter mit ihren Männern in vorderster Linie. Jose…«

»Und wie reagieren wir darauf?«

»Dann müssen auch sie getötet werden. Aber ich habe ihm damals nicht geglaubt, und ich glaube ihm auch heute nicht.« Er überhörte ihren Einwand. Er beteuerte ihr seine ewige Liebe. »Hör zu! Während ich dich auf dem Wochenendseminar mit meiner Botschaft begeisterte, sah ich durch die Augenschlitze in meinem schwarzen Kopfschützer, wie du mir dein hingerissenes Gesicht zuwandtest. Dein rotes Haar. Deine markanten, revolutionären Züge. Ist es nicht merkwürdig, dass bei unserer ersten Begegnung ich es war, der auf der Bühne stand, und du unter den Zuschauern saßest?«

»Ich war hingerissen! Ich hielt dich für vollkommen übergeschnappt und war drauf und dran, dir das auch zu sagen!«

Er ließ sich nicht beirren. »Was immer du damals empfunden hast - hier, in dem Nottinghamer Motel, wirst du unter meinem hypnotischen Einfluss augenblicklich anderen Sinnes: Zwar hättest du mein Gesicht nicht sehen können, sagst du, aber meine Worte hätten sich für immer in dein Gedächtnis eingebrannt. Warum nicht?... Komm, Charlie! So steht es in deinem Brief an mich!«

Sie ließ sich nicht vereinnahmen. Noch nicht. Zum ersten Mal, seit Josephs Geschichte begonnen hatte, war Michel unversehens zu einem selbständigen, lebendigen Wesen geworden. Bis zu diesem Augenblick, so wurde ihr klar, hatte sie ihren imaginären Liebhaber unwillkürlich mit Josephs Zügen ausgestattet, mit Josephs Stimme, um seine Tiraden zu charakterisieren. Plötzlich jedoch waren die beiden Männer wie eine Zelle, die sich teilte, waren sie zwei unabhängige und miteinander im Widerstreit liegende Wesen, und Michel hatte in der Wirklichkeit ein Eigenleben bekommen. Sie sah den unausgefegten Vortragssaal mit dem sich aufrollenden Mao-Foto und den zerkratzten Schulbänken wieder vor sich. Sie sah die Reihen von höchst unterschiedlichen Köpfen, vom Afro- Look bis zur Jesus-Frisur und zurück, sah Al im Zustand alkoholisierten Überdrusses zusammengesackt neben sich sitzen. Und auf dem Podium sah sie die einsame, unergründliche Gestalt unseres tapferen Vertreters aus Palästina, kleiner als Joseph und vielleicht auch ein wenig gedrungener, obwohl das schwer zu sagen war, denn er war in seine schwarze Maske und die formlose Khaki-Bluse und das schwarz-weiß gemusterte kaffiyeh gehüllt. Aber jünger- das zweifellos - und fanatischer. Sie erinnerte sich an seine fischähnlichen Lippen, ausdruckslos innerhalb ihrer zottigen Umrandung. Sie erinnerte sich an das rote Taschentuch, das er sich trotzig um den Hals geschlungen hatte, und an die behandschuhten Hände, mit denen er zu seinen Worten gestikulierte. Am deutlichsten jedoch erinnerte sie sich an seine Sprechweise - nicht kehlig, wie sie erwartet hatte, sondern bedächtig und gepflegt, in makabrem Widerspruch zu seiner blutrünstigen Botschaft. Aber ebenfalls nicht Josephs Stimme. Sie erinnerte sich, wie er - ganz anders als Joseph - innehielt, um einen unbeholfenen Satz neu zu formulieren, oder sich um grammatikalische Korrektheit bemühte: »Gewehr und Rü Imperialist ist, wer uns in unserem revolutionären Kampf nicht beisteht…nichts zu tun heißt der Ungerechtigkeit Vorschub leisten...«

»Ich habe dich sofort geliebt«, erklärte Joseph im selben Ton, so als erinnerte er sich wirklich. »Zumindest sage ich dir das jetzt. Gleich, nachdem der Vortrag zu Ende war, habe ich mich erkundigt, wer du seist, aber ich brachte es nicht über mich, dich vor so vielen Menschen anzusprechen. Außerdem war mir bewusst, dass ich dir mein Gesicht nicht zeigen konnte, und das ist immerhin einer meiner größten Aktivposten. Ich beschloss daher, dich im Theater ausfindig zu machen. Ich zog Erkundigungen ein und verfolgte deine Spur bis nach Nottingham. Hier bin ich. Ich liebe dich unendlich, gezeichnet: Michel.«

Als gelte es, sie zu entschädigen, gab Joseph sich betont um ihr Wohlergehen besorgt, schenkte ihr nach, bestellte Kaffee -nicht zu süß, wie du ihn magst. Ob sie sich frisch machen wolle? Nein, danke, es geht mir gut. Das Fernsehen zeigte in den Nachrichten ausgiebig einen grinsenden Politiker, wie er die Gangway eines Flugzeuges herunterkam. Ohne dass ein Missgeschick passierte, schaffte er die letzte Stufe.

Nachdem er sein Soll an Fürsorge erfüllt hatte, sah Joseph sich bedeutsam in der Taverne um, richtete den Blick dann auf Charlie, und seine Stimme war plötzlich ganz aufs Praktische gerichtet. »Ja, also, Charlie. Du bist seine Johanna, seine Liebe. Er ist ganz besessen von dir. Die Bedienung ist nach Hause gegangen, wir beide sitzen ganz allein im Speisesaal. Dein unmaskierter Verehrer und du. Es ist nach Mitternacht, und ich habe viel zu lange geredet, obwohl ich kaum angefangen habe, dir zu sagen, wie es in meinem Herzen aussieht, oder dich nach dir, die ich unvergleichlich liebe, zu fragen, das ist eine ganz neue Erfahrung für mich, und so weiter und so fort. Morgen ist Sonntag, du hast keinerlei Verpflichtungen. Ich habe ein Zimmer im Motel genommen. Ich mache nicht den Versuch, dich zu überreden. Das ist nicht meine Art. Vielleicht habe ich auch zu große Hochachtung vor deiner Würde. Oder vielleicht bin ich auch zu stolz, um anzunehmen, dass man dich überreden müsse. Entweder, du kommst als Kampfgefährtin zu mir, als jemand, der wahrhaft und frei liebt, Soldat zu Soldat - oder du tust es nicht. Wie reagierst du? Wirst du plötzlich ungeduldig und willst ins Astral Commercial and Private Hotel in der Nähe des Bahnhofs zurück?«