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Sie starrte ihn an, dann wandte sie den Blick ab. Ihr lag ein halbes Dutzend witziger Antworten auf der Zunge, doch sie unterdrückte sie. Die mit der Kapuze verhüllte völlig isolierte Gestalt an dem Wochenendseminar war plötzlich wieder etwas Abstraktes für sie. Joseph, nicht der Fremde, hatte die Frage gestellt. Was sollte sie schon sagen, da sie in ihrer Vorstellung doch bereits zusammen im Bett lagen, Josephs Kopf mit dem kurz geschnittenen Haar auf ihrer Schulter ruhte, Josephs kräftiger, narbenbedeckter Körper neben ihr ausgestreckt war und sie versuchte, seine wahre Natur aus ihm herauszuholen? »Schließlich, Charlie - du selbst hast es uns erzählt -, bist du mit vielen Männern für weniger ins Bett gegangen, würde ich meinen.«

»Oh, für wesentlich weniger«, pflichtete sie ihm bei und interessierte sich plötzlich für den Salzstreuer aus Plastik.

»Du trägst seinen teuren Schmuck. Du bist allein in einer trostlosen Stadt. Es regnet. Er hat dich verzaubert - hat der Schauspielerin geschmeichelt und die Revolutionärin begeistert. Wie könntest du ihm einen Korb geben?«

»Mich auch noch zum Essen ausgeführt«, erinnerte sie ihn. »Selbst wenn ich grade kein Fleisch aß.«

»Es ist alles, was eine gelangweilte Europäerin sich erträumen könnte, oder?«

»Jose, um Himmels willen«, flüsterte sie, nicht einmal imstande, ihn anzusehen.

»Also dann«, sagte er munter und schnippte nach der Rechnung. »Gratuliere. Du bist also endlich deinem Seelenfreund begegnet.« Eine geheimnisvolle Brutalität machte sich plötzlich in seinem Verhalten bemerkbar. Sie hatte das lächerliche Gefühl, dass ihre Einwilligung ihn geärgert hatte. Sie beobachtete, wie er bezahlte, sah ihn die Rechnung einstecken. Hinter ihm trat sie in die Nachtluft hinaus. Ich bin das doppelt-versprochene Mädchen, dachte sie.

Wenn du Joseph liebst, nimm Michel. Er hat mich an sein Phantom im Theater der Wirklichkeit verkuppelt.

»Im Bett vertraut er dir an, dass er in Wirklichkeit Salim heißt, aber das ist ein großes Geheimnis«, sagte Joseph wie beiläufig, als sie ins Auto stiegen. »Er zieht Michel vor. Teils aus Sicherheitsgründen, teils weil er schon leicht in die europäische Dekadenz verliebt ist.«

»Salim gefällt mir besser.« »Aber du sagst Michel zu ihm.«

Genau, was auch immer ihr alle sagt, dachte sie. Doch ihre Passivität war trügerisch, sogar für sie selbst. Sie spürte, wie Empörung sich in ihr regte, noch tief unten, aber höher, immer höher stieg.

Das Motel sah aus wie ein niedriger Fabrikbau. Zuerst fanden sie keinen Platz zum Parken; dann rumpelte ein weißer Volkswagenbus ein Stück voran, um ihnen Platz zu machen, und flüchtig sah sie die Gestalt von Dimitri am Steuer. Die Orchideen an sich gedrückt, wie Joseph es ihr aufgetragen hatte, wartete sie, während er seinen roten Blazer überzog, um ihm dann - allerdings zögernd und auf Distanz bedacht - über den Asphalt zum Eingang zu folgen. Joseph trug außer ihrer Schultertasche auch noch seine elegante schwarze Reisetasche. Gib her, das ist meine. In der Halle sah sie aus dem Augenwinkel Raoul und Rachel unter der schaurigen Leuchtröhre stehen und Anschläge über Touren für morgen studieren. Sie funkelte sie an. Joseph ging zur Rezeption, und jetzt kam sie näher, um zuzusehen, wie er sich eintrug, obwohl er ihr eingeschärft hatte, es nicht zu tun. Arabischer Name, Staatsbürgerschaft libanesisch, Adresse eine Apartment-Nummer in Beirut. Sein Benehmen herablassend: ein Mann von Rang, bereit, jederzeit beleidigt zu sein. Du bist gut, dachte sie trübsinnig und versuchte, ihn zu hassen. Keine überflüssigen Gesten, aber viel Stil; du machst dir die Rolle zu eigen. Der gelangweilte Nachtportier bedachte sie mit einem lüsternen Blick, zeigte aber nicht die Respektlosigkeit, die ihr vertraut war. Der Hausdiener lud ihr Gepäck auf einen riesigen Klinik-Rollwagen. Ich trage einen blauen Kaftan und ein Goldarmband und Wäsche von Persephone, München; der erste Bauer, der mich ein Flittchen nennt, kann was erleben! Joseph nahm ihren Arm, und seine Hand versengte ihre Haut. Sie machte sich von ihm frei. Zieh Leine! Unter den leisen Klängen gregorianischen Gesangs folgten sie ihrem Gepäck durch einen grauen Tunnel vorüber an pastellfarben gestrichenen Türen. Ihr Schlafzimmer war grande luxe: das heißt, französisches Bett und steril wie ein Operationssaal. »Himmel!« platzte sie heraus und starrte mit wütender Feindseligkeit um sich. Der Hausdiener drehte sich erstaunt nach ihr um, doch sie ignorierte ihn. Sie entdeckte eine Schale Obst, einen Eiskübel, zwei Gläser und eine Flasche Wodka, die neben dem Bett standen. Eine Vase für die Orchideen. Sie stopfte sie hinein. Joseph gab dem Diener ein Trinkgeld, der Rollwagen quietschte zum Abschied, und plötzlich waren sie allein - mit einem Bett, so groß wie ein Fußballplatz, zwei gerahmten Kohlezeichnungen von minoischen Stieren, die die geschmackvolle erotische Atmosphäre lieferten, und einem Balkon mit verbautem Blick auf den Parkplatz. Charlie nahm die Wodka-Flasche aus dem Kühler, schenkte sich ein großes Glas ein und ließ sich auf den Bettrand fallen.

»Prost, alter Junge«, sagte sie.

Joseph stand noch und beobachtete sie ausdruckslos. »Prost, Charlie«, erwiderte er, obwohl er kein Glas hatte. »So, und was machen wir jetzt? Monopoly spielen? Oder ist dies die große Szene, für die wir uns Eintrittskarten gekauft haben?« Sie wurde lauter. »Ich mein’, wer zum Teufel sind wir denn hier? Nur zu meiner Information? Wer? Richtig? Nur wer?« »Du weißt sehr gut, wer wir sind, Charlie. Wir sind ein Liebespaar, das seine Hochzeitsreise in Griechenland genießt.« »Ich dachte, wir wären in einem Motel in Nottingham?«

»Wir spielen beide Szenen gleichzeitig. Ich dachte, das wäre dir klar. Wir stellen die Vergangenheit und die Gegenwart her.« »Weil wir so wenig Zeit haben.« »Sagen wir: weil Menschenleben auf dem Spiel stehen.«

Sie nahm noch einen Schluck Wodka, und ihre Hand zitterte nicht im geringsten; das tat ihre Hand nie, wenn die schwarze Stimmung sie packte. »Jüdische Menschenleben«, korrigierte sie ihn.

»Gibt es da einen Unterschied zu anderen Menschenleben?« »Das würde ich aber verdammt noch mal doch sagen! Himmel! Ich meine, Kissinger kann die armen Scheiß-Kambodschaner bombardieren bis zum Gehtnichtmehr. Kein Mensch rührt einen Finger. Die Israelis können aus den Palästinensern Hackfleisch machen, sooft sie wollen. Wenn aber in Frankfurt oder sonst wo ein paar Rabbis hochgehen, dann ist das eine echte, erstklassige erlesene internationale Katastrophe, hab’ ich nicht recht?«

Sie starrte an ihm vorbei auf irgendeinen imaginären Feind, doch aus den Augenwinkeln sah sie, dass er einen entschlossenen Schritt auf sie zu machte, und einen strahlenden Augenblick lang meinte sie tatsächlich, er werde ihr die Qual der Wahl endgültig abnehmen. Doch statt dessen ging er an ihr vorüber ans Fenster und machte die Balkontür auf, vielleicht, weil er das Dröhnen des Verkehrs brauchte, um ihre Stimme damit zu übertönen.

»Katastrophen sind es alle«, erwiderte er ungerührt und blickte hinaus. »Frag mich, was die Bewohner von Kiryat Shmonah für Gefühle bewegen, wenn die palästinensischen Granaten runterkommen. Frag die Kibbuzim, wie ihnen beim Heulen der Katyusha-Raketen zumute ist - immer vierzig auf einmal -, wenn sie ihre Kinder in die Unterstände bringen und so tun, als wäre alles nur ein Spiel.« Er sprach nicht weiter und seufzte irgendwie gelangweilt, als hätte er seine eigenen Argumente schon hundertmal gehört.

»Trotzdem«, fügte er dann in zweckmäßigem Ton hinzu, »wenn du das nächste mal mit diesem Argument kommst, solltest du meines Erachtens dabei bedenken, dass Kissinger Jude ist. Auch das hat einen Platz in Michels unterentwickeltem politischen Vokabular.«

Sie presste die Knöchel in den Mund und entdeckte, dass sie weinte. Er kam zu ihr und setzte sich neben sie aufs Bett, und sie wartete darauf, dass er den Arm um sie legte und ihr etwas vernünftigere Argumente lieferte oder sie einfach nahm, was ihr am liebsten gewesen wäre. Doch er tat nichts dergleichen. Er war willens, sie ihrer Trauer zu überlassen, bis sie sich nach und nach einbildete, dass er irgendwie mit ihr gleichziehe und sie jetzt gemeinsam trauerten. Mehr als alle Worte schien sein Schweigen dem, was sie tun mussten, etwas an Schärfe zu nehmen. Eine Ewigkeit blieben sie so Seite an Seite, bis sie ihr Schluchzen in einem tiefen, erschöpften Seufzer ausklingen ließ. Doch selbst dann bewegte er sich noch nicht - nicht auf sie zu, nicht von ihr weg.