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»Jose«, flüsterte sie verloren und nahm noch einmal seine Hand. »Wer, zum Teufel, bist du? Was fühlst du in all diesen verwirrten Stacheldrahtknäueln?«

Sie hob den Kopf und horchte auf die Geräusche von anderen Leben in den angrenzenden Räumen. Das quengelige Gegreine eines Kindes, das nicht einschlafen konnte. Ein schriller Ehestreit. Sie hörte Schritte vom Balkon und blickte gerade noch rechtzeitig auf, um zu sehen, dass Rachel, mit einem Trainingsanzug aus Frottee, mit Schwammbeutel und Thermosflasche bewaffnet, über die Schwelle in das Zimmer trat.

Wach und zu erschöpft, um Schlaf zu finden, lag sie da. So wie dies war Nottingham nie. Von nebenan hörte man, wie gedämpft telefoniert wurde, und sie meinte, seine Stimme zu erkennen. Sie lag in Michels Armen. Sie lag in Josephs Armen. Sie sehnte sich nach Al. Sie war in Nottingham mit der Liebe ihres Lebens, war sicher in ihrem eigenen Bett, daheim in Camden, war in dem Zimmer, das ihre Scheiß-Mutter immer noch Kinderzimmer nannte. Sie lag da, wie sie als Kind dagelegen hatte, nachdem ihr Pferd sie abgeworfen hatte, verfolgte den Film ihres Lebens und erforschte ihren Geist, so wie sie vorsichtig ihren Körper erforscht, jedes Teil einzeln abgetastet und nach irgendwelchen Schäden gesucht hatte. Meilenweit von ihr entfernt, auf der anderen Seite des Bettes, lag Rachel und las im Schein einer winzigen Lampe eine Taschenbuchausgabe von Thomas Hardy.

»Wen hat er eigentlich, Rachel?« sagte sie. »Wer stopft ihm die Socken und macht ihm seine Pfeifen sauber?« »Warum fragst du ihn nicht selbst, meine Liebe?«

»Du etwa?«

»Das würde nicht klappen, meinst du nicht auch? Jedenfalls nicht für länger.« Charlie döste, versuchte aber immer noch dahinter zu kommen, wer er eigentlich sei. »Er war ein Kämpfer«, sagte sie.

»Der beste«, sagte Rachel voller Genugtuung. »Ist es immer noch.«

»Und wie hat er sich dann seine Kämpfe ausgesucht?«

»Man hat sie für ihn ausgesucht, nicht wahr?« sagte Rachel, immer noch in ihr Buch versunken.

Charlie versuchte einen Vorstoß: »Er hat ja wohl mal eine Frau gehabt. Was ist mir ihr geschehen?« »Tut mir leid, meine Liebe«, sagte Rachel.

»›Ist sie von selbst abgesprungen, oder hat jemand nachgeholfen?‹ fragt man sich unwillkürlich«, grübelte Charlie, ohne sich durch die Abfuhr irritieren zu lassen. »Ich kann mir schon vorstellen, dass man so weit kommt. Die Ärmste, sie musste ja an die sechs Chamäleons auf einmal sein, bloß um eine Busfahrt mit ihm zu machen.« Eine Zeitlang lag sie still da.

»Wie kommt es denn, dass du dich auf diese Sache eingelassen hast, Rachel?« fragte sie, und zu ihrer Überraschung legte sich Rachel das Buch auf den Bauch und erzählte es ihr. Ihre Eltern seien orthodoxe Juden aus Pommern, sagte sie. Nach dem Krieg hätten sie sich in Macclesfield niedergelassen und wären in der Textilbranche reich geworden. »Filialen auf dem Kontinent und ein Penthouse in Jerusalem«, sagte sie unbeeindruckt. Ihr Wunsch sei es gewesen, dass Rachel nach Oxford ging und dann in das Familienunternehmen eintrat, doch habe sie lieber die Bibel und jüdische Geschichte an der Hebräischen Universität studiert.

»Es ist einfach passiert«, erwiderte sie, als Charlie nicht lockerließ und sie nach dem nächsten Schritt fragte.

Aber wie? Charlie ließ sich damit nicht abspeisen. Warum? »Wer hat dich ausgesucht, Rachel, und was sagen sie dann?« Rachel sagte ihr nicht, wie oder wer, wohl aber, warum. Sie kenne Europa und sie kenne den Antisemitismus, sagte sie. Und außerdem habe sie diesen überheblichen kleinen Sabra-Kriegshelden an der Universität zeigen wollen, dass sie genauso gut für Israel kämpfen könne wie irgendein junger Mann.

»Und was ist mit Rose?« fragte Charlie auf gut Glück. Bei Rose sei das kompliziert, entgegnete Rachel, als ob das bei ihr nicht der Fall wäre. Rose sei in Südafrika bei der Zionistischen Jugend gewesen, nach Israel gekommen und habe dann nicht gewusst, ob sie nicht doch hätte bleiben und gegen die Apartheid kämpfen sollen. »Sie strengt sich noch mehr an als andere, weil sie nicht weiß, was sie eigentlich tun soll«, erklärte Rachel und wandte sich dann mit einer Entschlossenheit, die jede weitere Diskussion ausschloss, wieder ihrem Bürgermeister von Casterbridge zu.

Ideale im Überfluss, dachte Charlie. Noch vor zwei Tagen hatte ich keine. Sie überlegte, ob sie denn jetzt welche hätte. Frag mich morgen früh. Eine Zeitlang schwelgte sie schläfrig in Schlagzeilen: BERÜHMTE PHANTASTIN BEGEGNET WIRKLICHKEIT.- JOHANNA VON ORLEANS VERBRENNT PALÄSTINENSISCHEN AKTIVISTEN. - Gut, Charlie, ja, gute Nacht.

Beckers Zimmer lag ein paar Schritte weiter den Korridor hinunter und hatte zwei Einzelbetten, das war das Äußerste, womit das Hotel bereit war, anzuerkennen, dass jemand allein war. Er lag auf einem Bett und starrte auf das andere, das Telefon auf einem Tischchen dazwischen. In zehn Minuten war es halb zwei, und halb zwei war der Zeitpunkt. Der Nachtportier hatte sein Trinkgeld eingesteckt und versprochen, den Anruf durchzustellen. Er war hellwach, wie oft um diese Stunde. Zu klarsichtig, um zu denken, und zu langsam, um wieder herunterzukommen. Alles präsent zu haben und zu vergessen, was dahinter steckt. Oder was nicht. Das Telefon klingelte auf die Minute genau, und sofort begrüßte ihn Kurtz’ Stimme. Wo ist er? fragte sich Becker. Er hörte im Hintergrund Musik vom Band und schloss richtig auf ein Hotel. Deutschland, fiel ihm ein. Ein Hotel in Deutschland spricht mit einem Hotel in Delphi. Kurtz sprach englisch, weil das weniger verdächtig war, und er sprach betont nachlässig, damit ein Mithörer, was zwar nicht wahrscheinlich war, aber möglich, nicht plötzlich aufhorchte. Ja, alles sei in Ordnung, versicherte ihm Becker; das Geschäft mache sich gut, er sähe im Augenblick keinerlei Fallstricke. Was ist mit dem jüngsten Erzeugnis? fragte er.

»Das mit der Zusammenarbeit klappt ganz ausgezeichnet«, versicherte Kurtz ihm in dem übertriebenen Ton, mit dem er seine weit verstreuten Truppen aufmunterte. »Gehen Sie nur zum Lager, sobald Sie wollen, Sie werden von dem Produkt bestimmt nicht enttäuscht sein. Und noch was.«

Becker führte in der Regel seine Telefongespräche mit Kurtz nicht zu Ende, und Kurtz auch nicht mit ihm. Es war schon eine sonderbare Sache zwischen ihnen, dass beide miteinander wetteiferten, der erste zu sein, der den anderen los wurde. Diesmal jedoch hörte Kurtz ihn bis zu Ende an und Becker Kurtz. Doch als er den Hörer auflegte, erblickte Becker seine attraktiven Züge im Spiegel und starrte sie voller Abscheu an. Einen Augenblick lang erschienen sie ihm voller falscher Versprechungen, und er hatte den morbiden und überwältigenden Wunsch, sie für immer auszulöschen: Wer, zum Teufel, bist du?... Was fühlst du? Er ging näher an den Spiegel heran. Ich habe das Gefühl, als betrachtete ich einen toten Freund und hoffte, er würde wieder lebendig. Ich habe das Gefühl, als hielte ich - ohne Erfolg - in einem anderen nach meinen alten Hoffnungen Ausschau. Ich habe das Gefühl, als wäre ich - wie du - Schauspieler und umgäbe mich mit anderen Formen meiner Identität, weil mir das Original unterwegs irgendwie abhanden gekommen ist. Aber in Wahrheit fühle ich gar nichts, denn echtes Gefühl ist zerstörerisch und widerspricht der militärischen Zucht. Deshalb fühle ich nicht, sondern ich kämpfe, und ergo bin ich. Er ging ungeduldig durch die Stadt, mit weit ausholenden Schritten, und hatte unbewegt vor sich hin gesehen, als ob Gehen ihn langweilte und die Entfernung wie immer zu kurz sei. Es war eine Stadt, die auf einen Angriff wartete, und er hatte im Laufe von zwanzig oder mehr Jahren zu viele Städte in diesem Zustand erlebt. Die Menschen waren von den Straßen geflüchtet; kein Kind war zu hören. Legt die Häuser in Schutt und Asche. Schießt auf alles, was sich bewegt. Von ihren Besitzern verlassen, standen die Ausflugsbusse und Autos da, und Gott allein wusste, wann sie sie wiedersehen würden. Gelegentlich glitt sein Blick rasch in eine offene Toreinfahrt oder den Eingang zu einer unbeleuchteten Gasse, aber immer auf der Hut zu sein, war ihm zur zweiten Natur geworden, und er verlangsamte den Schritt nicht. Als er zu einer Seitenstraße kam, hob er den Kopf, um den Namen zu lesen, lief aber auch hier rasch weiter, ehe er eilends in einen Bauplatz einbog. Zwischen den hoch aufgeschichteten Backsteinhaufen war ein bunt bemalter Kleinbus abgestellt. Daneben standen schief die Pfähle einer Wäscheleine, mit der zehn Meter Antennendraht getarnt worden waren. Die Tür ging auf, ein Pistolenlauf richtete sich auf sein Gesicht, als ob ein Auge ihn scharf anblickte, verschwand dann. Eine respektvolle Stimme sagte »Schalom!« Er stieg ein und schloss die Tür hinter sich. Die Musik übertönte das unregelmäßige Geratter des kleinen Fernschreibers nicht ganz. David, der ihn schon in der Villa in Athen bedient hatte, hockte dahinter; zwei von Litvaks jungen Männern leisteten ihm Gesellschaft. Becker nickte nur flüchtig, setzte sich auf die gepolsterte Bank und machte sich an die Lektüre des dicken Packens von Fernschreiben, die schon für ihn bereitgelegt worden waren.