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Kapitel 12

Die Hügelkuppe roch nach Thymian und war für Joseph ein besonderer Ort. Er hatte ihn auf der Karte ausgesucht und Charlie mit einem Ausdruck von höchster Bedeutsamkeit hingeführt, erst mit dem Auto und jetzt zu Fuß, wobei er absichtlich vorbei an Reihen von strohgeflochtenen Bienenkörben, durch Zypressenlichtungen und über steinige, von gelben Blumen übersäte Felder hinaufgestiegen war. Die Sonne hatte den höchsten Stand noch nicht erreicht. Landeinwärts erstreckte sich ein brauner Bergzug hinter dem anderen. Im Osten erkannte sie die Silberflächen der Ägäis, bis sie im Dunst in den Himmel übergingen. Es duftete nach Harz und Honig, und man hörte das Gebimmel von Ziegenglocken. Eine frische Brise ließ die eine Seite ihres Gesichts brennen und drückte ihr das leichte Kleid an den Körper. Sie hielt seinen Arm, doch Joseph, der tief in Gedanken versunken war, schien das gar nicht zu bemerken. Einmal glaubte sie, Dimitri auf einer Pforte hocken zu sehen, doch als sie rief, wies er sie streng zurecht, ihn nicht zu grüßen. Ein andermal hätte sie schwören mögen, dass sich die Silhouette von Rose hoch über dem Horizont abhob, doch als sie wieder hinsah, konnte sie nichts entdecken.

Ihr Tag hatte bis dahin eine eigene Choreographie gehabt, und sie hatte sich von ihm mit seiner üblichen Ruhelosigkeit hindurchführen lassen. Rachel hatte über ihr gestanden, als sie früh aufgewacht war, und ihr gesagt, sie möge doch bitte das andere Blaue anziehen, Liebling, das mit den langen Ärmeln. Sie hatte schnell geduscht und war splitternackt ins Zimmer zurückgekehrt, aber Rachel war nicht mehr zu sehen gewesen, statt dessen hatte Joseph vor einem Frühstückstablett für zwei gehockt und die griechischen Nachrichten in dem kleinen Radio gehört - für alle Welt ihr Gefährte der Nacht. Sie war ins Bad zurückgeschossen, um die Tür herum hatte er ihr das Kleid gereicht, rasch und nahezu wortlos hatten sie gefrühstückt. In der Halle hatte er bar bezahlt und die Rechnung weggesteckt. Als sie ihr Gepäck zum Mercedes hinausgetragen hatten, hatte keine drei Schritte von der hinteren Stoßstange entfernt Raoul, der Hippie-Junge, auf dem Boden gelegen und am Motor eines völlig überladenen Motorrads herumgefummelt, während Rose, die Hüfte hoch, im Gras gelegen und ein Brötchen gemampft hatte. Wie lange sie wohl schon da gewesen sein und warum sie den Wagen bewacht haben mochten? Joseph war die zwei Kilometer zur Straße und zu den Grabungsstätten zurückgefahren, hatte den Wagen wieder geparkt und sie -längst bevor andere Sterbliche sich anstellten und schwitzten -durch ein Seitentor hineingeschleust und nochmals mit einem Rundgang durch den Mittelpunkt des Universums beglückt. Er hatte ihr den Tempel des Apoll, die mit Preisliedern bedeckte dorische Mauer sowie den Stein gezeigt, der den Nabel der Welt darstellte. Er hatte ihr die Schatzkammer und die Wettkampfbahn gezeigt und ihr erzählt, wie viele Kriege geführt worden waren, um das Orakel in Besitz zu bekommen. Nur hatte sein Verhalten diesmal nichts Schwereloses wie auf der Akropolis. Sie sah ihn im Geiste förmlich mit einer Liste in der Hand, von der er ein Thema nach dem anderen abhakte, während er sie durch die Grabungsstätte hetzte.

Auf dem Rückweg zum Wagen reichte er ihr die Autoschlüssel.

»Ich?« sagte sie.

»Warum nicht? Ich dachte, schnittige Wagen wären deine Schwäche.«

Über leere, gewundene Straßen ging es nordwärts, und zuerst machte er kaum etwas anderes, als ihre Fahrtechnik abzuschätzen, ganz als müsse sie eine zweite Fahrprüfung ablegen, doch ließ sie sich von ihm nicht nervös machen und er sich offensichtlich auch nicht von ihr, denn bald breitete er die Karte auf den Knien aus und beachtete sie überhaupt nicht mehr. Der Mercedes fuhr sich wie ein Traum, die Straße ging von Asphalt in Schotter über. Bei jeder scharfen Kehre schoss eine Staubwolke hoch und trieb, vom frischen Sonnenlicht erhellt, hinaus in die überwältigende Landschaft. Plötzlich faltete er die Karte zusammen und steckte sie wieder in die Seitentasche neben sich. »So, Charlie, bist du bereit?« fragte er sie brüsk, als hätte sie ihn die ganze Zeit über warten lassen. Und nahm den Faden seiner Erzählung wieder auf.

Zuerst waren sie immer noch in Nottingham, ihre Raserei auf dem Höhepunkt. Sie hätten zwei Nächte und einen Tag im Motel verbracht, sagte er; das gehe aus den Eintragungen hervor.

»Wenn man die Angestellten ausquetscht, werden sie sich an ein Liebespaar erinnern, auf das unsere Beschreibung zutrifft. Unser Schlafzimmer lag am westlichen Ende des Gebäudekomplexes und ging auf einen eigenen kleinen Garten hinaus. Wenn es soweit ist, wird man dich hinbringen, dann kannst du dir selbst ein Bild davon machen.«

Die meiste Zeit hätten sie im Bett verbracht, sagte er, über Politik geredet, sich gegenseitig ihr Leben erzählt, sich geliebt. Die einzigen Unterbrechungen seien ein paar Spritztouren in die ländliche Umgebung von Nottingham gewesen, doch habe das Verlangen nacheinander sie rasch wieder gepackt, und sie seien ins Motel zurückgeeilt.

»Warum haben wir denn nicht einfach im Auto eine Nummer geschoben?« erkundigte sie sich in dem Bemühen, ihn aus seiner düsteren Stimmung herauszuholen. »Ich hab’s gern spontan.«

»Deine Neigungen in allen Ehren, doch leider ist Michel in diesen Dingen ein bisschen schüchtern und zieht die Ungestörtheit des Schlafzimmers vor.«

Sie versuchte es noch einmal. »Und wie ist er überhaupt im Bett?«

Auch darauf hatte er eine Antwort: »Nach unseren bestinformierten Berichten ein bisschen phantasielos, aber seine Begeisterung ist grenzenlos, und seine Manneskraft beeindruckend.«

»Danke«, sagte sie ernst.

Montag in aller Frühe, fuhr er fort, sei Michel nach London zurückgekehrt, doch Charlie, die erst am Nachmittag Probe hatte, sei mit gebrochenem Herzen im Motel zurückgeblieben. Munter beschrieb er ihren Kummer.

»Der Tag ist dunkel, wie bei einer Beerdigung. Der Regen fällt immer noch. Vergiss das Wetter nicht. Zuerst bist du so in Tränen aufgelöst, dass du nicht mal aufstehen kannst. Du liegst im Bett, das noch ganz warm von seinem Körper ist. Du weinst dir die Augen aus. Er hat dir gesagt, er werde versuchen, nächste Woche nach York zu kommen, doch du bist überzeugt, dass du ihn nie im Leben wieder siehst. Was machst du also?« Er gab ihr gar keine Chance zu antworten. »Du hockst dich vor den Spiegel an den schmalen Frisiertisch und starrst die Male an, die seine Hände auf deinem Körper hinterlassen haben, und deine eigenen Tränen, die immer noch fließen. Du ziehst eine Schublade auf. Nimmst die Schreibmappe des Motels heraus, einen Reklamekugelschreiber. Und schreibst ihm einen Brief, so, wie du da sitzt. Beschreibst dich, deine geheimsten Gedanken. Fünf Seiten lang. Den ersten von vielen, vielen Briefen, die du ihm schickst. Würdest du das tun? In deiner Verzweiflung? Du bist schließlich eine impulsive Briefschreiberin.«

»Wenn ich seine Adresse hätte, würde ich das tun.«

»Er hat dir eine Adresse in Paris gegeben.« Jetzt nannte er seinerseits sie ihr. Die Adresse eines Tabakladens in Montparnasse. »An Michel, bitte nachsenden - kein Nachname nötig, wurde dir auch nicht genannt.«

»Am Abend schreibst du ihm noch mal aus dem Elend des Astral Commercial and Private Hotel. Und sobald du morgens aufwachst, noch mal. Auf allem möglichen Briefpapier. Während der Proben, in den Pausen, zu den unmöglichsten Zeiten; von nun an schreibst du ihm leidenschaftliche, unüberlegte, rückhaltlos offene Briefe.« Er warf einen Blick auf sie. »Würdest du das tun?« fragte er noch einmal. »Du würdest ihm wirklich solche Briefe schreiben?«

Wie viel Bestätigung braucht ein Mann eigentlich? fragte sie sich. Doch er war bereits einen Schritt weiter. Denn, Freude über Freude - trotz ihrer pessimistischen Voraussagen -, Michel kam nicht nur nach York, sondern auch nach Bristol und - noch besser - nach London, wo er eine ganze wundervolle Nacht in Charlies Camdener Wohnung verbrachte: Raserei die ganze Zeit über. Und dort, sagte Joseph - so dankbar, als habe er jetzt endlich eine komplizierte mathematische Prämisse geschafft -»in deinem eigenen Bett, in deiner eigenen Wohnung, zwischen Beteuerungen ewiger Liebe, haben wir dann diese Ferien in Griechenland geplant, die wir hier und jetzt genießen.« Langes Schweigen, während sie fuhr und nachdachte. Wir sind also endlich hier. Von Nottingham nach Griechenland, in einer Stunde Autofahrt!