»Michel hätte diese Stadt meiner Meinung nach gefallen. Bis zur Besetzung durch die Deutschen haben da drüben auf dem Berg sechzigtausend Juden ziemlich glücklich gelebt. Postbeamte, Händler, Bankiers. Sephardim. Sie sind aus Spanien über den Balkan hierhergekommen. Als die Deutschen abzogen, waren keine mehr da. Diejenigen, die nicht ausgerottet wurden, haben sich nach Israel durchgeschlagen.«
Sie lag im Bett. Joseph stand immer noch am Fenster und beobachtete, wie das Licht auf den Straßen erlosch. Sie überlegte, ob er wohl zu ihr käme, wusste jedoch, dass er es nicht tun würde. Sie hörte ein Knarren, als er sich auf den Diwan legte, sein Körper parallel zu ihrem, und zwischen ihnen erstreckte sich nur Jugoslawien. Sie begehrte ihn mehr, als sie je einen Mann begehrt hatte. Ihre Angst vor morgen vergrößerte ihr Verlangen nur noch. »Hast du eigentlich Geschwister, Jose?« fragte sie.
»Einen Bruder.«
»Und was macht der?«
»Er ist im 67er-Krieg gefallen.«
»In dem Krieg, der Michel über den Jordan trieb«, sagte sie. Sie hätte nie erwartet, dass er ihr eine ehrliche Antwort geben würde, doch sie wusste, dass er die Wahrheit gesagt hatte. »Hast du in dem Krieg auch mitgekämpft?«
»Das will ich meinen.«
»Und in dem Krieg davor? Dem, an dessen Datum ich mich nicht erinnere?
»Sechsundfünfzig.«
»Ja?«
»Ja.«
»Und in dem danach? ‘73.«
»Anzunehmen.«
»Wofür hast du gekämpft?«
Wieder warten.
»‘56, weil ich ein Held sein wollte, ‘67 für den Frieden. Und 73« -es schien ihm schwer zu fallen, sich zu erinnern - »für Israel«, sagte er.
»Und jetzt? Wofür kämpfst du diesmal?«
Weil es da ist, dachte sie. Um Leben zu retten. Weil sie mich dazu aufgefordert haben. Damit die Bewohner meines Dorfes den dabke tanzen und damit sie auch die Berichte der Reisenden hören können.
»Jose?« »Ja, Charlie?«
»Woher hast du eigentlich diese tiefen, runden Narben?« Seine langen Pausen hatten im Dunkeln etwas Erregendes wie ein Lagerfeuer bekommen. »Die Brandmale, würde ich sagen. Die habe ich bekommen, als ich in einem Panzer saß. Und die Löcher von den Kugeln, als ich da raus wollte.«
»Wie alt warst du damals?«
»Zwanzig. Einundzwanzig.«
Mit acht habe ich mich der Ashbal angeschlossen, dachte sie. Mit fünfzehn...
»Und wer war dein Vater?« fragte sie, entschlossen, am Ball zu bleiben. »Er war ein Pionier. Ein früher Siedler.« »Woher?« »Aus Polen.« »Wann?«
»In den zwanziger Jahren. Mit der dritten aliyah, falls du weißt, was das bedeutet.«
Sie wusste es nicht, doch für den Augenblick spielte das keine Rolle.
»Was hat er gemacht?«
»War Bauarbeiter. Hat mit seinen Händen gearbeitet. Eine Sanddüne in eine Stadt verwandelt. Sie Tel Aviv genannt. Ein Sozialist - einer von den praktischen. Hat nicht viel an Gott gedacht. Nie getrunken. Nie etwas besessen, das mehr als ein paar Dollar wert gewesen wäre.«
»Wärest du das auch gern gewesen?« fragte sie. Darauf antwortet er nie, dachte sie. Er schläft ja schon. Sei nicht unverschämt.
»Ich habe die Berufung zu was Höherem gewählt«, erwiderte er trocken.
Oder sie hat dich gewählt, dachte sie, denn so nennt man Berufung, wenn man in die Gefangenschaft hineingeboren wurde. Und irgendwie schlief sie dann plötzlich sehr schnell ein. Aber Gadi Becker, der kampferprobte Krieger, lag geduldig wach, starrte ins Dunkel und lauschte den unregelmäßigen Atemzügen seiner jungen Rekrutin. Warum hatte er so mit ihr gesprochen? Warum hatte er sich ausgerechnet in dem Augenblick erklärt, da er sie mit ihrem ersten Auftrag ausschickte? Manchmal traute er sich selbst nicht mehr. Es spannte die Muskeln, nur um festzustellen, dass die Bänder der Disziplin sich nicht mehr so strafften wie früher. Er würde einen geraden Kurs einschlagen, nur um zurückzuschauen und sich zu wundern, bis zu welchem Grade er sich geirrt hatte. Wovon träume ich, dachte er, vom Kampf oder vom Frieden? Er war für beides zu alt, zu alt, um weiterzumachen, und zu alt, um aufzuhören. Zu alt, um sich aufzugeben, und doch unfähig, sich vorzuenthalten. Zu alt, um den Geruch des Todes nicht zu erkennen, ehe er tötete.
Wieder lauschte er auf ihren Atem, der jetzt den ruhigeren Rhythmus des Schlafs angenommen hatte. Er hielt das Handgelenk im Dunkeln vor sich, wie Kurtz es tat, und blickte auf das Leuchtzifferblatt seiner Uhr. Dann zog er so leise, dass sie selbst dann, wenn sie hellwach gewesen wäre, kaum etwas gehört hätte, den roten Blazer über und stahl sich aus dem Raum.
Der Nachtportier war ein heller Kopf und brauchte den wohlgekleideten Herrn, der sich ihm näherte, bloß zu sehen, um zu wissen, dass ein großes Trinkgeld zu erwarten war. »Haben Sie Telegrammformulare?« fragte Becker in gebieterischem Ton.
Der Nachtportier bückte sich unter den Tresen. Becker schrieb. Große, sorgfältige Buchstaben, mit schwarzer Tinte. Die Adresse hatte er im Kopf - zu Händen eines Anwalts in Genf; Kurtz hatte sie ihm von München aus durchgegeben, nachdem er sich bei Yanuka vorsichtshalber noch einmal vergewissert hatte, dass sie noch galt. Den Text hatte Becker gleichfalls im Kopf. Er begann: »Raten Sie Ihrem Klienten freundlicherweise« und bezog sich auf die Fälligkeit von Verbindlichkeiten in Übereinstimmung mit unserem Standardvertrag. Das Telegramm war fünfundvierzig Worte lang, und nachdem er sie noch einmal durchgelesen hatte, fügte er die steife, selbstbewusste Unterschrift hinzu, die Schwili ihm mit Geduld beigebracht hatte. Dann reichte er das Formular über den Tresen und gab dem Portier fünfhundert Drachmen, die er für sich behalten sollte.
»Ich möchte, dass Sie es zweimal abschicken, haben Sie verstanden? Dieselbe Nachricht, zweimal. Einmal jetzt per Telefon, und dann morgen früh noch einmal vom Postamt aus. Überlassen Sie es nicht irgendeinem Jungen, sondern tun Sie es selbst. Anschließend schicken Sie mir dann eine Kopie zur Bestätigung auf mein Zimmer.« Der Nachtportier erklärte sich bereit, alles genauso zu tun, wie es der Herr angeordnet hätte. Er hatte von arabischen Trinkgeldern gehört, davon geträumt. Heute endlich, aus heiterem Himmel, hatte er eines bekommen. Er hätte dem Herrn mit Freuden noch viele andere Dienste erwiesen, doch ach, der Herr ging auf seine Vorschläge nicht ein. Verloren sah der Portier seiner Beute nach, wie sie auf die Straße trat und dann den Weg in Richtung Hafen einschlug. Der Lieferwagen der Funker stand auf dem Parkplatz. Es wurde für den großen Gadi Becker Zeit, Bericht zu erstatten und sich zu vergewissern, dass alles klar war für den großen Stapellauf.
Kapitel 13
Das Kloster lag zwei Kilometer von der Grenze entfernt in einer von Felsen und Riedgras umgebenen Senke: ein trauriger, entweihter Ort, die Dächer waren eingedrückt, die Zellentüren zum Innenhof aufgebrochen, die Steinmauern mit psychedelischen Hula-Mädchen bemalt. Ein Nach-Christ haue versucht, hier eine Diskothek einzurichten, dann jedoch genauso das Weite gesucht wie zuvor die Mönche. Auf dem Betongeviert, das als Tanzfläche hatte dienen sollen, stand der rote Mercedes wie ein Streitross, das zur Schlacht fertig gemacht wird; daneben die Amazone, die es lenken sollte, und neben ihr Joseph, der Aufseher über alles. Bis hierhin hat dich Michel gebracht, um die Nummernschilder auszuwechseln und wo er Abschied von dir nimmt, Charlie; hier hat er dir die falschen Papiere und die Wagenschlüssel ausgehändigt. Rose, wisch die Tür bitte noch mal ab. Rachel, was ist das für ein Stück Papier dort auf dem Boden? Er war wieder Joseph, der Perfektionist, der sich auch noch um das winzigste Detail kümmerte. Der Lieferwagen der Funker stand neben der Außenmauer, und seine Antenne schwankte sanft im heißen Wind.