Der Schlesier hatte für jede Frage einen ganzen Vortrag bereit. Einen solchen gab er jetzt zum besten, während Schulmann, immer noch nachsichtig lächelnd, anfing, mit dicken Fingern an den Rändern des Modells leicht herumzupolken, als ob er in der Füllung darunter etwas verloren hätte. Vielleicht habe die Uhr nicht funktioniert, sagte der Schlesier. Möglicherweise habe die Autofahrt bis in die Drosselstraße den Mechanismus durcheinandergebracht. Denkbar auch, dass der Arbeits-Attache, als er den Koffer auf Elkes Bett legte, den Stromkreis gestört habe, sagte der Schlesier. Und da es sich um eine billige Uhr gehandelt habe, sei auch vorstellbar, dass sie aufgehört habe zu gehen und dann plötzlich wieder in Gang gekommen sei. Alles war möglich, dachte Alexis, dem es nicht gelang, seinen Ärger herunterzuschlucken. Schulmann jedoch kam mit einem anderen, einem genialeren Vorschlag.
»Oder vielleicht hat der Bombenbastler nicht genug Farbe vom Uhrzeiger runtergekratzt«, sagte er wie beiläufig, während er seine Aufmerksamkeit den Scharnieren des Koffers zuwandte. Er fischte ein altes Soldatenmesser aus der Tasche, wählte einen plumpen Dorn aus der Vielzahl der Möglichkeiten aus, schob ihn versuchsweise unter den Kopf der Reißzwecke und überzeugte sich, wie leicht es war, sie zu entfernen. »Die Leute in Ihrem Labor haben die ganze Farbe abgekratzt. Aber wer weiß, vielleicht war dieser Bombenbastler nicht so ein wissenschaftlicher Typ wie Ihre Techniker«, sagte er und ließ den Dorn laut einschnappen. »Nicht so fähig. Nicht so sauber in seinen Konstruktionen.«
Aber es war doch ein Mädchen, wandte Alexis heftig bei sich ein. Warum spricht Schulmann plötzlich von einem er, wo wir doch an ein hübsches Mädchen in einem blauen Kleid denken sollen? Zumindest für den Augenblick offenbar völlig ahnungslos, in welchem Maße er den Schlesier mitten in seiner Vorführung abgekanzelt hatte, wandte Schulmann seine Aufmerksamkeit der hausgebastelten Zündvorrichtung im Deckelinneren zu und zupfte vorsichtig an dem Ende Draht, das ins Futter hineingesteckt und mit einem Dübel in der Öffnung der Wäschekammer verbunden war. »Gibt es da was Interessantes, Herr Schulmann?« erkundigte sich der Schlesier mit engelhafter Selbstbeherrschung. »Haben Sie vielleicht eine Spur entdeckt? Sagen Sie es uns, bitte. Es interessiert uns sehr.«
Schulmann überlegte sich das großzügige Angebot.
»Zuwenig Draht«, verkündete er dann, wandte sich wieder dem weißgedeckten Tisch zu und suchte unter den schauerlichen Exponaten herum. »Hier drüben haben wir die Überreste von siebenundsiebzig Zentimetern Draht.« Er fuchtelte mit einer verkohlten und aufgewickelten Drahtdocke in der Luft herum. Wie ein Strang Wolle war sie ohne Halterung aufgewickelt und wurde von einer Schlaufe um die Taille zusammengehalten. »In Ihrer Rekonstruktion sind es höchstens fünfundzwanzig Zentimeter. Warum fehlt bei Ihrer Rekonstruktion ein halber Meter Draht?« Einen Moment herrschte betretenes Schweigen, ehe der Schlesier ein lautes, nachsichtiges Lachen ausstieß.
»Aber, Herr Schulmann - der war doch übrig, dieser Draht«, erklärte er, als müsse er einem Kind etwas erklären. »Für die Wicklung. Ganz einfacher Draht. Als der Bombenbastler seinen Apparat fertig hatte, war offensichtlich Draht übrig, und da hat er – oder sie -ihn in den Koffer geworfen. Aus Gründen der Sauberkeit; so was ist normal. Der Draht war einfach übrig. Hatte technisch überhaupt nichts zu bedeuten. Wissen Sie nicht, was übrig bedeutet? Sag ihm doch übrig.«.
»Left over?« übersetzte jemand höchst überflüssigerweise. »Er hat keine Bedeutung, Mr. Schulmann. Er ist übrig geblieben.« Der Augenblick war vorüber, die Kluft überbrückt, und als Alexis das nächstemal einen Blick von Schulmann erhaschte, stand dieser diskret an der Tür, im Begriff zu gehen, den breiten Kopf jedoch teilweise Alexis zugewandt und den Arm mit der Uhr erhoben, aber dennoch wie jemand, der eher seinen Bauch befragt als seine Uhr. Ihre Blicke trafen sich nicht ganz; trotzdem war Alexis überzeugt, dass Schulmann auf ihn wartete, wollte, dass er quer durch den Saal zu ihm kam und ihm bedeutete: Mittagessen. Der Schlesier redete eintönig weiter, die Zuhörer standen unentschlossen um ihn herum wie eine Traube von Fluggästen, die landen mussten. Alexis löste sich unauffällig vom Rand dieser Gruppe und ging auf Zehenspitzen rasch hinter dem davongehenden Schulmann her. Auf dem Korridor packte Schulmann ihn mit einer spontan liebevollen Geste am Arm. Auf dem Bürgersteig - es war wieder ein bezaubernder, sonniger Tag - zogen beide Männer die Jacken aus, und Alexis erinnerte sich später sehr gut, wie Schulmann die seine zusammenrollte wie einen Schlafsack, während Alexis ein Taxi heranwinkte und dem Fahrer den Namen eines italienischen Restaurants nannte.
das auf einem Hügel auf der anderen Seite von Bad Godesberg lag. Frauen hatte er dorthin zwar schon ausgeführt, nie jedoch Männer, und Alexis, der Genussmensch, war sich eines ersten Mals stets bewusst.
Auf der Fahrt wechselten sie kaum ein Wort. Schulmann bewunderte die Aussicht und strahlte die Heiterkeit dessen aus, der sich seinen Sabbat verdient hatte, obwohl es erst Mitte der Woche war. Seine Maschine, so erinnerte sich Alexis, sollte Köln am frühen Abend verlassen. Wie ein Kind, das schulfrei bekommen hat, zählte Alexis die Stunden, die ihnen blieben, wobei er davon ausging, dass Schulmann keinerlei andere Verpflichtungen hatte, eine lächerliche, aber wundervolle Vermutung. Im Restaurant, hoch auf der Cäcilien-Höhe, machte der italienische Besitzer, wie vorauszusehen war, ziemliches Aufheben um Alexis, doch Schulmann bezauberte ihn dann regelrecht. Der Wirt redete ihn mit ›Herr Professor‹ an und ließ es sich nicht nehmen, einen großen Tisch am Fenster zu decken, an dem ohne weiteres sechs Personen hätten sitzen können. Unter ihnen lag die Altstadt, dahinter die Windungen des Rheins mit den braunen Hügeln und den schartigen Burgen. Alexis kannte die Landschaft zwar in- und auswendig, doch heute sah er sie mit den Augen seines neuen Freundes Schulmann zum erstenmal. Alexis bestellte zwei Whiskys. Schulmann erhob keinen Einwand. Während sie auf die Drinks warteten, blickte Schulmann bewundernd auf und sagte schließlich: »Wer weiß, wenn Wagner sich nicht den Siegfried vorgenommen hätte, ob wir dann heute nicht doch eine bessere Welt hätten.«
Im ersten Augenblick begriff Alexis nicht, wie ihm geschah. Bis zu diesem Augenblick war sein Arbeitstag ziemlich voll gewesen; er hatte einen leeren Magen und war etwas durcheinander. Schulmann sprach deutsch! Unverkennbar mit sudetendeutschem Akzent, der knarrte wie eine eingerostete Maschine, die lange nicht gelaufen ist. Und tat es überdies auch noch mit einem zerknirschten Grinsen, das zugleich ein Geständnis war und die Aufforderung, sich verschwörerisch mit ihm zusammenzutun. Alexis ließ ein leises Lachen vernehmen, Schulmann stimmte ein, der Whisky kam, und sie tranken einander zu; freilich nicht mit der schwerfälligen deutschen Zeremonie des Sich-in-die-Augen-Sehens, Nippens und Sich-wie-der-Anblickens, die Alexis stets übertrieben fand, besonders Juden gegenüber, die in deutscher Förmlichkeit instinktiv etwas Bedrohliches sahen.
»Wie ich gehört habe, bekommen Sie eine neue Aufgabe, unten in Wiesbaden«, sagte Schulmann immer noch auf deutsch, nachdem sie diese Zeremonie des Sich-miteinander-Bekanntmachens hinter sich hatten. »Irgendeinen Schreibtisch-Job. Größer, aber kleiner, wie ich höre. Es heißt, Sie brächten die Leute hier alle dazu, sich ganz klein zu fühlen. Jetzt, wo ich Sie und die Leute hier erlebt habe, überrascht mich das nicht.«