»Bundy speist gerade neue Daten ein«, sagte Maury. »Pris ist über eine Stanton-Biografie gestolpert, die einiges neues Material beinhaltet.«
Bundy war in der Werkstatt. Er setzte die Stanton gerade wieder zusammen und stellte ihr dabei Fragen. »Andrew Johnson ließ die Union im Stich aufgrund seiner Unfähigkeit, die rebellischen Staaten als…« Er brach ab, als er mich sah. »Hallo, Rosen.«
»Ich würde gern mit der Maschine reden.«
Bundy ließ mich mit der Stanton allein. Sie saß, ein Buch im Schoß, in einem braunen Sessel und sah mich ernst an.
»Erinnern Sie sich an mich, Sir?«
»Ja, das tue ich. Sie sind Mr. Louis Rosen aus Boise, Idaho. Ich erinnere mich an den netten Besuch bei Ihrem Herrn Vater. Geht es ihm gut?«
»Nicht so gut, wie ich es mir wünschen würde.«
»Wie schade.«
»Sir, ich würde Sie gern etwas fragen. Kommt es Ihnen nicht merkwürdig vor, dass Sie, obwohl Sie um 1800 herum geboren wurden, 1982 immer noch am Leben sind? Und kommt es Ihnen nicht merkwürdig vor, dass Sie dann und wann abgeschaltet werden? Und dass Sie aus Transistoren und Relais bestehen? So sind Sie früher nicht gewesen – 1800 gab es noch keine Transistoren und Relais.«
»Ja, das ist in der Tat merkwürdig. Ich habe hier ein Buch, das sich mit der Wissenschaft der Kybernetik befasst. Diese Wissenschaft bringt ein wenig Licht in das Dunkel meines Falls.«
»Ihres Falls?«
»Ja. Während meines Aufenthalts bei Ihrem Vater habe ich einige verwirrende Themen mit ihm erörtert. Wenn ich die kurze Spanne meines Lebens betrachte, die von der Ewigkeit davor und danach begrenzt, ja verschluckt wird, den winzigen Raum, den ich ausfülle, der in der Unendlichkeit von Räumen untergeht, die ich nicht kenne und die mich nicht kennen, dann bekomme ich es mit der Angst.«
»Verständlicherweise.«
»Ich bekomme es mit der Angst, und ich wundere mich, dass ich mich hier und nicht dort befinde. Denn es gibt keinen Grund, warum ich hier und nicht dort sein sollte oder jetzt und nicht irgendwann.«
»Und sind Sie zu einem Schluss gekommen?«
Die Stanton räusperte sich, zog ein Stofftaschentuch hervor und säuberte sich sorgfältig die Nase. »Es scheint mir, dass die Zeit in Sprüngen vonstatten geht und dazwischenliegende Epochen auslässt. Aber warum sie das tut oder wie, das weiß ich nicht. Ab einem gewissen Punkt vermag der Geist die Dinge nicht weiter zu durchdringen.«
»Wollen Sie meine Theorie hören?«
»Sehr gerne.«
»Ich behaupte, dass es keinen Edwin M. Stanton oder Louis Rosen gibt. Es gab sie einmal, aber sie sind tot. Wir sind Maschinen.«
Die Stanton sah mich an, das runde Gesicht leicht verknittert. »Daran könnte etwas Wahres sein.«
»Und Maury Rock und Pris Frauenzimmer haben uns entworfen, und Bob Bundy hat uns gebaut. Und im Augenblick arbeiten sie an einem Abraham-Lincoln-Simulacrum.«
Jetzt verdüsterte sich das runde, zerknitterte Gesicht. »Mr. Lincoln ist tot.«
»Ich weiß.«
»Sie meinen, sie holen ihn wieder zurück?«
»Ja.«
»Warum?«
»Um Mr. Barrows zu beeindrucken.«
»Wer ist Mr. Barrows?« Die Stimme der Stanton klang kratzig.
»Ein Multimillionär aus Seattle, Washington. Er hat den Mond parzelliert.«
»Haben Sie je von Artemus Ward gehört?«
»Nein, Sir.«
»Wenn Sie Mr. Lincoln wieder ins Leben zurückholen, werden Sie sich zahllose humoristische Zitate aus den Schriften von Artemus Ward anhören müssen.« Mit diesen Worten nahm die Stanton ihre Lektüre wieder auf. Ihr Gesicht war gerötet, ihre Hände zitterten.
Offensichtlich hatte ich das Falsche gesagt.
Tatsächlich wusste ich kaum etwas über Edwin M. Stanton. Da in unserer Zeit jeder Abraham Lincoln bewundert, war es mir gar nicht in den Sinn gekommen, dass die Stanton anders empfinden konnte. Aber man lernt eben nie aus. Immerhin hatten sich die Ansichten der Maschine vor über einem Jahrhundert entwickelt.
Ich verabschiedete mich – die Stanton nickte, ohne aufzusehen – und ging die Straße hinunter zur Bücherei. Kurz darauf hatte ich die entsprechenden Bände der Encyclopaedia Britannica vor mir liegen und schlug unter ›Lincoln‹, ›Stanton‹ sowie ›Amerikanischer Bürgerkrieg‹ nach.
Der Eintrag zu Stanton war kurz, aber sehr aufschlussreich. Stanton hatte Lincoln zunächst nicht ausstehen können; er war Mitglied der Demokraten gewesen und hatte nichts für die neue Republikanische Partei übrig gehabt. Stanton wurde als ziemlich streng beschrieben, was mir bereits aufgefallen war, und der Eintrag wusste von zahlreichen Auseinandersetzungen mit Generälen, vor allem mit Sherman, zu berichten. Aber, so hieß es weiter, er hatte unter Lincoln gute Arbeit verrichtet, hatte betrügerische Zulieferer in die Wüste geschickt und für eine gute Ausrüstung der Truppen gesorgt. Und am Ende der Feindseligkeiten hatte er 800.000 Mann aus dem Kriegsdienst entlassen – keine schlechte Leistung nach einem blutigen Bürgerkrieg.
Der Ärger hatte erst nach Lincolns Tod so richtig begonnen. Zwischen Stanton und Präsident Johnson war es eine Zeit lang hoch hergegangen. In dieser Zeit hatte es so ausgesehen, als würde der Kongress die Macht übernehmen und als einzige Staatsgewalt bestehen bleiben. Während ich den Eintrag las, bekam ich eine ziemlich gute Vorstellung von Stanton: Er war eine richtige Kämpfernatur; er war jähzornig und besaß eine scharfe Zunge; es hatte nicht viel gefehlt, und er hätte Johnson abgesetzt und sich zu einer Art Diktator aufgeschwungen. Aber die Britannica führte auch aus, dass er ein zutiefst aufrichtiger Mensch und überzeugter Patriot gewesen war.
Während ich die Lexikonbände zurück ins Regal stellte, stieß ich einen Seufzer der Erleichterung aus. Schon allein diese kurzen Einträge vermittelten ein Bild der giftgetränkten Atmosphäre, die damals vorgeherrscht hatte. Die Intrigen und der Hass hatten etwas vom Russland des Mittelalters, oder besser: vom Russland unter Stalin.
Auf dem Weg zurück ins Büro dachte ich: sympathischer älterer Herr – von wegen. Das Rock-Frauenzimmer-Kombinat hatte nicht nur einen Menschen wieder zum Leben erweckt, sondern eine beängstigende Geisteshaltung aus einem düsteren Kapitel in der Geschichte unseres Landes. Sie hätten besser eine Zachary-Taylor-Maschine produzieren sollen. Zweifellos war es Pris – ihr pervertierter, nihilistischer Verstand –, die diese Wahl aus Abertausenden, ja Millionen von Möglichkeiten getroffen hatte. Warum nicht Sokrates? Warum nicht Gandhi?
Und nun wollten sie ein zweites Simulacrum ins Leben rufen: jemanden, gegen den Edwin M. Stanton einige Animositäten hegte. Wie dumm konnte man sein!
Ich ging in die Werkstatt und fand die Stanton immer noch lesend vor; sie hatte das Kybernetikbuch fast durch. Keine drei Meter entfernt lag der Haufen halb fertiger Schaltkreise, der einmal die Abraham Lincoln werden sollte. War das der Stanton klar? Sah sie zwischen diesem Durcheinander von Bauteilen und dem, was ich gesagt hatte, eine Verbindung? Ich warf einen verstohlenen Blick auf die neue Maschine. Sie machte nicht den Eindruck, als hätte jemand – oder etwas – daran irgendwelche Manipulationen vorgenommen. Bundys sorgfältige Arbeitsweise war zu erkennen, nichts anderes. Wenn die Stanton sich in meiner Abwesenheit an ihr zu schaffen gemacht hätte, wären bestimmt einige zerbrochene oder verschmorte Teile zu erkennen gewesen – ich sah nichts dergleichen.
Pris, überlegte ich, war vermutlich zu Hause und trug gerade lebensechte Farbe auf die Wangen der Abraham-Lincoln-Hülle auf, die diese ganzen Teile bald in sich tragen würde. Der Bart, die großen Hände, die dünnen Beine, die traurigen Augen – da konnte sich Pris’ künstlerische Seele austoben. Sie würde hier nicht auftauchen, bevor sie nicht erstklassige Arbeit verrichtet hatte.