Ich ging nach oben und baute mich vor Maury auf. »Hör zu, mein Freund. Die Stanton wird Abe ordentlich eins überbraten. Oder habt ihr euch etwa nicht die Mühe gemacht, die Geschichtsbücher zu lesen? Doch, natürlich musstet ihr die Bücher lesen, um die Datensätze zusammenzustellen. Also wisst ihr, wie die Stanton Lincoln gegenüber empfindet. Ihr wisst, dass sie die Lincoln wahrscheinlich kurz und klein schlagen wird.«
Maury legte die Post beiseite und seufzte. »Misch dich nicht in Entscheidungen ein, die längst getroffen sind. Erst war es meine Tochter, jetzt ist es die Stanton. Ständig lauert irgendein Schrecken hinter der Ecke. Du hörst dich schon an wie eine alte Jungfer, weißt du das? Komm, lass mich arbeiten.«
Ich ging wieder hinunter in die Werkstatt. Die Stanton hatte ihr Buch ausgelesen und dachte nach. »Junger Mann«, sagte sie, als sie mich sah, »geben Sie mir bitte mehr Informationen über diesen Barrows. Sie sagten, er lebt in der Hauptstadt unserer Nation…«
»Nein, Sir. Im Staat Washington.« Ich erklärte ihr, wo Washington lag.
»Und trifft es zu, wie Mr. Rock sagt, dass dieser Barrows durch seinen Einfluss dafür gesorgt hat, dass die Weltausstellung in diese Stadt kam?«
»Ja, habe ich gehört. Natürlich gibt es bei einem so reichen und exzentrischen Menschen immer alle möglichen Gerüchte.«
»Ist diese Ausstellung noch im Gange?«
»Nein, das ist Jahre her.«
»Ein Jammer. Ich hätte sie gern besucht.«
Irgendwie rührte mich das zutiefst. Mein erster Eindruck von ihr bestätigte sich erneut: dass sie in vielerlei Hinsicht – Gott steh uns bei! – menschlicher war als wir, als Pris oder Maury oder sogar ich, Louis Rosen. Nur mein Vater stand mit all seiner Würde über ihr. Doktor Horstowski – nur ein teilweise menschliches Wesen, das neben diesem Simulacrum ziemlich mickrig aussah. Und was war mit Barrows? Wie würde er sich im Vergleich mit der Stanton machen, wenn sie einander gegenüberstanden?
Dann dachte ich: Und die Lincoln? Was wird sie uns für ein Gefühl geben, wie werden wir neben ihr aussehen?
»Ich würde gerne Ihre Meinung über Miss Frauenzimmer wissen, Sir. Wenn Sie die Zeit erübrigen können.«
»Durchaus, Mr. Rosen.«
Ich setzte mich ihr gegenüber auf einen Lkw-Reifen.
»Ich kenne Miss Frauenzimmer schon eine geraume Zeit. Ich bin mir nicht sicher, wie lange genau, aber wir sind einander wohlbekannt. Tatsächlich wohne ich derzeit bei den Frauenzimmers. Sie hat kürzlich die Kasanin-Nervenklinik in Kansas City verlassen und ist zu ihrer Familie zurückgekehrt. Sie hat hellgraue Augen und ist ein Meter achtundsechzig groß. Ihr Gewicht beträgt gegenwärtig sechzig Kilogramm. Sie hat Gewicht verloren, habe ich mir sagen lassen. Ich kann mich nicht erinnern, sie je anders als bildschön erlebt zu haben. Nun zu ihren inneren Qualitäten: Ihre Abstammung ist, wenngleich eingewandert, von der besten Sorte. In ihr lebt die amerikanische Vision, die da lautet, dass ein Mensch allein durch seine Fähigkeiten begrenzt wird und zu jedweder gesellschaftlichen Position aufsteigen kann, die diesen Fähigkeiten entspricht. Daraus ist natürlich nicht zu schließen, dass alle Menschen gleichermaßen aufsteigen werden, weit gefehlt. Aber Miss Frauenzimmer hat durchaus recht darin, alles abzulehnen, was ihren Fähigkeiten nicht entgegenkommt.«
»Das hört sich an, als ob Sie ziemlich lange über sie nachgedacht haben.«
»Dieses Thema verdient auch einiges Nachdenken.« Die Augen der Maschine funkelten kurz. »Miss Frauenzimmer ist im Grunde ihres Herzens ein guter Mensch. Sie wird ihren Weg gehen. Natürlich ist sie voller Ungeduld, voller Zorn. Aber der Zorn ist der Amboss der Gerechtigkeit, auf dem die harten Tatsachen des Lebens geschmiedet werden. Menschen ohne Zorn sind wie Tiere ohne Leben, er ist der Funke, der einen Klumpen Fell, Fleisch, Knochen und Fett in eine lebendige Äußerung des Schöpfers verwandelt.«
Ich musste zugeben, dass mich dieser Vortrag ziemlich beeindruckte.
»Was mir an Priscilla Sorgen bereitet, ist nicht ihr Feuer und ihr Mut, beileibe nicht. Wenn sie ihrem Herzen vertraut, geht sie nicht fehl. Doch sie hört nicht immer auf ihr Herz. Ich sage das nicht gern, aber sie schenkt oft ihrem Kopf zu viel Beachtung. Das macht mir Sorgen.«
»Aha.«
»Ja. Denn die Logik einer Frau ist nicht die Logik des Philosophen. Sie ist ein bleicher Schatten dessen, was das Herz weiß, und als Schatten ist sie kein verlässlicher Ratgeber. Frauen, die auf ihren Verstand statt auf ihr Herz hören, verfallen leicht in Irrtümer, und dies mag sich in Priscilla Frauenzimmers Fall allzu rasch erweisen. Wenn sie nur auf ihren Verstand horcht, breitet sich eine große Kälte in ihr aus.«
»Meinen Sie?«
»Ja.« Die Stanton nickte und wackelte mit dem Zeigefinger. »Auch Sie, Mr. Rosen, haben diesen Schatten bemerkt, diese eigentümliche Kälte, die von Miss Frauenzimmer ausgeht. Und ich sehe, dass er Ihrem Herzen ebenso Kummer bereitet wie meinem. Wie sie damit in Zukunft zurechtkommen wird, weiß ich nicht, aber sie wird damit zurechtkommen müssen. Denn ihr Schöpfer wollte, dass sie mit sich zurechtkommt, und gegenwärtig vermag sie diesen Teil von ihr nicht mit Nachsicht zu betrachten, diese kalte, ungeduldige, vernünftige, berechnende Seite ihres Charakters. Sie besitzt, was viele von uns in ihrem Inneren finden: die Tendenz, einer dürftigen, bornierten Philosophie das Eindringen in den Alltag zu gestatten. Nichts ist gefährlicher als dieses uralte Gemisch aus Meinung, Glaube, Vorurteil und längst verworfenen wissenschaftlichen Ansichten – diese überkommenen Rationalismen bilden den sterilen, stumpfen Ursprung ihrer Handlungen. Dabei könnte sie, wäre sie nur bereit dazu, den individuellen und gesunden Ausdruck ihres eigenen Herzens hören.«
Damit beendete die Stanton ihre kleine Rede zum Thema Pris. Woher hatte sie sie nur? Sich ausgedacht? Oder hatte Maury sie als Datei eingespeist, damit sie für eine solche Gelegenheit bereitlag? Nur dass sie ganz und gar nicht nach Maury klang… War etwa Pris selbst dafür verantwortlich? War es ihre bittere Ironie, die sie bewog, der Maschine eine so treffende Analyse ihrer Persönlichkeit in den Mund zu legen? Wenn es so war, dann war der schizophrene Prozess in ihr immer noch im Gange.
»Vielen Dank«, sagte ich. »Ich muss gestehen, ich bin sehr davon beeindruckt, was Sie da so einfach aus dem Stegreif gesagt haben.«
»Aus dem Stegreif?«
»Ohne Vorbereitung.«
»Aber dies entsprang langer Vorbereitung. Ich mache mir ernsthafte Sorgen um Miss Frauenzimmer.«
»Ich auch.«
»Doch nun wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir etwas über Mr. Barrows erzählen könnten. Soweit ich weiß, hat er Interesse an mir bekundet.«
»Ich besorge Ihnen den Look-Artikel. Tatsächlich bin ich ihm nie begegnet, aber ich habe vor Kurzem mit seiner Sekretärin gesprochen und ich habe einen Brief von ihm…«
»Dürfte ich den Brief sehen?«
»Ich bringe ihn morgen mit.«
»Hatten Sie auch den Eindruck, dass Mr. Barrows an mir interessiert ist?«
»Ich… denke schon.«
»Sie zögern.«
»Sie sollten selbst mit ihm reden.«
»Ja.« Die Stanton kratzte sich am Nasenflügel. »Ich werde Mr. Rock oder Miss Frauenzimmer bitten, mich dorthin zu befördern und mir dabei behilflich zu sein, Mr. Barrows persönlich kennenzulernen.« Sie nickte, als wollte sie ihre Entscheidung damit unterstreichen.
Sieben
Die Stanton hatte also beschlossen, Sam K. Barrows zu besuchen. Blieb nur noch die Frage des geeignetsten Zeitpunkts.
Unterdessen näherte sich das Abraham-Lincoln-Simulacrum seiner endgültigen Fertigstellung. Maury setzte den ersten Test für das folgende Wochenende an. Dann würde der Innenteil komplett montiert und ins Gehäuse eingesetzt sein.