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Als Pris und Maury dann die Lincoln-Hülle ins Büro brachten, war ich ziemlich geplättet. Selbst in inaktivem Zustand war sie so lebensecht, dass man den Eindruck hatte, sie würde jeden Moment aufstehen und loslegen. Pris und Maury trugen das Ding mit Bob Bundys Hilfe in die Werkstatt; ich folgte ihnen und sah zu, wie sie es auf die Werkbank legten.

»Das muss ich dir lassen, Pris…«, sagte ich.

Mit den Händen in den Manteltaschen stand sie düster da. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen und sie war sehr blass – sie hatte kein Make-up aufgelegt und vermutlich die letzten Nächte durchgearbeitet, um rechtzeitig fertig zu werden. Außerdem hatte sie abgenommen; sie wirkte jetzt regelrecht dünn. Unter dem Mantel trug sie Jeans und ein gestreiftes T-Shirt. Sie schaukelte auf ihren Absätze vor und zurück und biss sich auf die Lippe.

»… du hast erstklassige Arbeit geleistet.«

Sie sah mich an. »Louis, bring mich hier raus. Irgendwohin. Spendier mir einen Kaffee, oder lass uns einfach Spazierengehen.« Sie ging zur Tür, und nach einem Moment des Zögerns folgte ich ihr.

Wir schlenderten den Gehweg hinunter. Pris kickte einen kleinen Stein vor sich her. »Die Erste war gar nichts«, sagte sie, »verglichen mit dieser. Stanton ist niemand besonderes und doch hat er uns fast überfordert. Ich habe zu Hause ein Buch mit jedem Foto, das jemals von Lincoln gemacht wurde. Ich habe sie studiert, bis ich sein Gesicht besser kannte als mein eigenes.« Sie ließ den Stein in einen Gully fallen. »Kaum zu glauben, wie gut diese alten Fotografien sind. Man benutzte damals Glasplatten, und der zu Porträtierende musste ganz still sitzen. Man hatte besondere Stühle dafür, mit denen man den Kopf fixierte, damit er nicht wackelt.« Sie blieb stehen. »Wird er wirklich zum Leben erwachen?«

»Keine Ahnung, Pris.«

»Es ist alles Selbstbetrug. Wir können nichts Totes lebendig machen.«

»Ist es das, worum es dir geht? Wenn du es so formulierst, stimme ich dir zu. Aber es klingt, als wärst du emotional zu sehr involviert. Am besten, du machst einen Schritt zurück.«

»Dann erschaffen wir also nur eine Nachbildung, die herumläuft und redet wie das Original? Der Geist ist nicht da, nur die Erscheinung?«

»Ja.«

»Bist du je zu einer katholischen Messe gegangen, Louis?«

»Nein.«

»Sie glauben, dass Brot und Wein wirklich das Fleisch und das Blut Jesu sind. Dass es ein Wunder ist. Wer weiß, wenn wir die Speicher perfekt hinkriegen und die Stimme und das äußere Erscheinungsbild und…«

»Ich hätte nie gedacht, einmal zu erleben, wie du Angst hast.«

»Ich habe keine Angst. Es ist bloß alles zu viel für mich. In der Junior Highschool war Lincoln mein Held, ich habe sogar ein Referat über ihn gehalten. Du weißt, wie das als Kind ist – alles, was du in einem Buch liest, gibt es wirklich. Für mich gab es Lincoln wirklich. Aber natürlich habe ich ihn mir nur herbeiphantasiert. Ich brauchte Jahre, um diese Phantasien wieder abzuschütteln, Phantasien über die Kavallerie der Unionisten, über Schlachten, über Ulysses S. Grant… Nun ja, du weißt schon.«

»Ja.«

»Glaubst du, eines Tages wird jemand von dir und mir Simulacra herstellen? Und wir müssen wieder zum Leben erwachen?«

»Eine reichlich morbide Vorstellung.«

»Da sind wir dann, tot, ohne jede Sinneswahrnehmung – und auf einmal fühlen wir eine Regung. Sehen vielleicht ein wenig Licht. Und dann prasselt alles auf uns ein, die ganze Wirklichkeit. Und wir können den Prozess nicht aufhalten, wir sind gezwungen, zurückzukommen. Wiederaufzuerstehen!« Pris erschauderte.

»Aber das macht ihr ja gar nicht, das ist etwas ganz anderes. Du musst in deinem Kopf den echten Lincoln von dieser…«

»Aber in meinem Kopf existiert der echte Lincoln.«

»Das glaubst du doch nicht im Ernst. Was willst du denn damit sagen? Du meinst, du hast die Vorstellung in deinem Kopf.«

Sie sah mich an. »Nein, Louis, ich habe wirklich Lincoln in meinem Kopf. Und ich habe nächtelang daran gearbeitet, ihn dort herauszubekommen, zurück in die Welt.«

Ich musste lachen.

»Eine ziemlich schreckliche Welt ist das, in die ich ihn bringe. Aber ich sag dir mal was, ich weiß da einen Weg, diese Wespen loszuwerden, die einen immer piesacken. Es ist ganz leicht, man braucht nur einen Eimer Sand.«

»Aha.«

»Man wartet, bis es dunkel ist, dann sind alle Wespen in ihrem Nest und schlafen. Man geht hin und gießt den Sand darüber aus. Und jetzt pass auf. Du denkst natürlich, dass der Sand sie erstickt. Aber so ist es nicht. Tatsächlich passiert Folgendes: Am nächsten Morgen wachen die Wespen auf und stellen fest, dass ihr Eingang versperrt ist, also beginnen sie, den Sand wegzuschaffen. Doch sie können ihn nirgendwo anders hintragen als in andere Teile des Baus. Und je mehr Sand sie vom Eingang wegschaffen, desto mehr fällt herunter.«

»Verstehe.«

»Ist das nicht furchtbar?«

»Ja.«

»Sie füllen ihr eigenes Nest langsam mit Sand. Und je härter sie arbeiten, um den Eingang freizulegen, desto schneller ist es vorbei – sie ersticken. Es ist wie eine orientalische Folter. Als ich das gehört habe, Louis, wäre ich am liebsten gestorben. Ich will nicht in einer Welt leben, in der so etwas möglich ist.«

»Wann hast du von dieser Methode erfahren?«

»Vor Jahren, ich glaube, ich war sieben. Ich habe mir immer vorgestellt, wie es in dem Nest wäre. Ich würde schlafen.« Sie griff plötzlich nach meinem Arm und kniff die Augen zu. »In tiefster Dunkelheit. Überall um mich herum andere wie ich. Dann – wuusch. Ein Geräusch, jemand kippt den Sand aus. Aber wir wissen nicht, was es bedeutet, wir schlafen alle weiter.« Sie ließ sich jetzt von mir den Gehweg entlangführen. »Wir schlafen und schlafen, die ganze Nacht lang, weil es kalt ist. Dann kommt die Sonne, und der Boden wird warm. Aber immer noch ist es dunkel. Wir wachen auf. Warum gibt es kein Licht? Wir gehen zum Eingang. Er ist blockiert, von diesen seltsamen Körnern. Wir haben Angst. Was ist los? Wir packen alle mit an, versuchen, nicht in Panik zu geraten. Wir verbrauchen den Sauerstoff nur langsam, organisieren uns in Teams, arbeiten ruhig, effizient. Aber wir werden kein Tageslicht mehr sehen, egal, wie viele Sandkörner wir wegschaffen. Wir arbeiten und warten, doch es kommt nicht. Nie wieder.« Sie öffnete die Augen wieder und sagte mit erstickter Stimme: »Wir sterben, Louis. Dort in unserem Nest.«

Ich nahm ihre Hand in meine. »Wie wäre es mit einem Kaffee?«

»Nein, ich möchte nur Spazierengehen… Diese Insekten, Louis, Wespen und Ameisen – sie machen ganz viel da in ihren Nestern. Das ist äußerst komplex.«

»Ja, bei Spinnen auch.«

»Vor allem bei Spinnen. Ich habe mich gefragt, was eine Spinne empfindet, wenn ihr jemand das Netz zerreißt.«

»Sie sagt wahrscheinlich ›Mist‹.«

»Nein. Zuerst ist sie sauer – doch dann kommt diese furchtbare Verzweiflung über sie. Sie begreift, dass ihr auch das nächste Netz wieder zerstört werden wird.«

»Und trotzdem bauen Spinnen immer wieder das Nächste.«

»Ja, sie können nicht anders, es liegt in ihren Genen. Darum sind sie schlechter dran als wir – sie können nicht einfach aufgeben und sterben, sie müssen immer weitermachen.«

»Weißt du, du solltest ab und zu mal auch an die schönen Seiten des Lebens denken. Du leistest erstklassige Arbeit – die Mosaiken, die Simulacra –, vergiss das nicht. Erfüllt es dich nicht mit Freude zu sehen, was deine Kreativität vermag?«

»Nein. Es spielt keine Rolle. Es reicht nicht.«

»Was würde denn reichen?«

Pris entzog ihre Finger den meinen. Es wirkte automatisch, sie schien es nicht mit Absicht zu machen. Ein Reflex, dachte ich. Wie bei Spinnen. »Ich weiß nicht. Aber eines weiß ich, egal wie hart ich arbeite oder wie lange oder was dabei herauskommt – es wird nie reichen.«