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»Wer sagt das?«

»Ich sage das.«

»Du meinst, wenn du nachher zusiehst, wie die Lincoln zum Leben erwacht, wirst du keinen Stolz empfinden?«

»Ich weiß, was ich empfinden werde – noch größere Verzweiflung als vorher.«

Ich sah sie an. Warum das denn?, fragte ich mich. Verzweiflung angesichts eines Erfolgs – das ist doch Unsinn. Was würdest du dann empfinden, wenn du versagst? Begeisterung? »Ich erzähl dir eine Geschichte, Pris. Hör gut zu.«

»Okay.«

»Eines Tages wollte ich in einer kleinen Stadt in Kalifornien ein Postamt betreten, in dessen Dachvorsprüngen Vögel nisteten, da sah ich, dass ein kleiner Vogel aus seinem Nest gefallen oder geflogen war. Er saß auf dem Gehsteig, und seine Eltern flogen ängstlich umher. Ich ging zu ihm in der Vorstellung, ihn aufzuheben und zurück ins Nest zu setzen. Weißt du, was der Vogel gemacht hat?«

»Was denn?«

»Er hat seinen Schnabel aufgerissen – damit ich ihn füttere.«

Pris zog eine Augenbraue hoch.

»Verstehst du? Der Vogel kannte nur Lebensformen, die ihn fütterten und beschützten, und als er mich sah – eine völlig andere Lebensform, wie er nie eine gesehen hatte –, nahm er an, dass auch ich ihn füttern würde.«

»Und was heißt das?«

»Dass es in der Natur nicht nur Kälte und Schrecken gibt, sondern auch Wohlwollen und Freundlichkeit und gegenseitige Liebe und selbstlose Hilfe.«

»Nein, Louis, aufseiten des Vogels war es Unwissenheit. Du hast ihn ja nicht gefüttert.«

»Aber ich habe ihm geholfen. Er hatte recht darin, mir zu vertrauen.«

»Ich wünschte, ich könnte diese Seite des Lebens sehen. Aber für mich… ist es einfach nur Unwissenheit.«

»Unschuld.«

»Das ist das Gleiche. Aber es wäre toll, wenn du dir das bewahren könntest. Ich wünschte, ich hätte es mir bewahrt. Doch im Laufe des Lebens verliert man diesen Blick, denn Leben heißt Erfahrung sammeln, und Erfahrungen…«

»Jetzt wirst du aber zynisch.«

»Nein, ich bin bloß realistisch.«

»Okay, ich sehe es ja ein, es ist hoffnungslos. Zu dir kann niemand durchdringen. Und weißt du, warum? Weil du so sein willst, wie du bist. Du findest es gut so. Du bist faul, auf eine furchtbare Weise faul, und du wirst so weitermachen, bis du zu einer Veränderung gezwungen bist. Von allein wirst du dich nie ändern. Im Gegenteil, es wird immer schlimmer werden mit dir.«

Pris lachte – ein scharfes, kaltes Lachen.

Schweigend gingen wir zurück.

Als wir in die Werkstatt kamen, arbeitete Bob Bundy gerade an der Lincoln.

»Das wird der Mann, der Ihnen immer diese ganzen Briefe wegen der Amnestierung von Soldaten geschickt hat«, sagte Pris zu der Stanton, deren Blick fest auf das entstehende Simulacrum gerichtet war.

»Darüber bin ich mir im Klaren«, erwiderte sie. Sie räusperte sich geräuschvoll und verschränkte die Hände hinter dem Rücken, wiegte sich vor und zurück. Das hier geht mich etwas an, schien ihre Haltung auszudrücken. Alles von öffentlicher Bedeutung geht mich etwas an.

Sie verhält sich nun so, ging es mir durch den Kopf, wie in ihrem früheren, authentischen Leben. Sie kehrt zu ihrer gewohnten Pose zurück. Ob das gut war oder nicht, vermochte ich nicht zu sagen. Jedenfalls waren wir uns beim Betrachten der Lincoln stets der Stanton in unserem Rücken bewusst, und vielleicht war es mit Stanton früher immer so gewesen – man konnte ihn einfach nicht ignorieren, ganz egal, wie man ihm gegenüber empfand, ob man ihn nun hasste oder fürchtete oder verehrte.

»Maury, ich glaube, die hier funktioniert jetzt schon besser als die Stanton«, sagte Pris unvermittelt. »Schau, sie bewegt sich.«

Ja, die auf dem Bauch liegende Lincoln hatte sich bewegt.

Pris rang aufgeregt die Hände. »Sam Barrows müsste hier sein. Wenn er sie sehen könnte, wäre er überwältigt – das weiß ich genau. Sogar er, Maury, sogar Sam K. Barrows!«

Es war zweifellos beeindruckend.

»Ich weiß noch, wie unsere erste Elektroorgel fertig war«, wandte sich Maury an mich. »Und wir alle darauf gespielt haben, den ganzen Tag lang, bis um ein Uhr morgens. Weißt du noch?«

»Ja.«

»Du und ich und Jerome und dein Bruder, wir haben das verdammte Ding wie ein Cembalo klingen lassen und eine Hawaiigitarre und eine Dampforgel. Wir haben alles mögliche Zeug darauf gespielt, Bach und Gershwin. Und dann haben wir uns eigene Kompositionen ausgedacht, und wir haben alle möglichen Sorten von Klangeinstellungen gefunden, Tausende, haben uns Musikinstrumente ausgedacht, die es gar nicht gab. Wir haben komponiert! Und wir haben dieses Aufnahmegerät geholt und mitlaufen lassen. Junge, das war was.«

»Ja, das war wirklich was.«

»Und ich habe mich auf den Boden gelegt und die Fußpedale bedient, mit denen man diese tiefen Noten macht – beim tiefen G bin ich weggetreten, wenn ich mich recht entsinne. Zu viel Drinks. Und die Orgel hat immer weitergespielt. Als ich am nächsten Morgen wieder zu mir kam, dröhnte dieses verfluchte tiefe G immer noch wie ein Nebelhorn. Wow! Diese Orgel – wo die jetzt wohl ist, Louis?«

»In irgendeinem Wohnzimmer. Sie nutzen sich ja nicht ab, weil sie keine Wärme erzeugen. Und sie müssen nie gestimmt werden. Irgendjemand spielt darauf gerade irgendeine Melodie.«

»Bestimmt.«

»Helft ihr, sie aufzusetzen«, sagte Pris.

Mühsam versuchte die Lincoln-Maschine in eine sitzende Position zu kommen. Sie blinzelte, zog Grimassen; ihre groben Züge waren in Bewegung. Maury und ich stützten sie. Wie schwer sie war, wie massives Blei. Aber schließlich bekamen wir sie hoch und lehnten sie gegen die Wand, damit sie nicht wieder umkippte.

Sie ächzte.

Irgendetwas an dem Ton verursachte mir eine Gänsehaut. Ich sah Bundy an. »Was meinen Sie? Ist alles in Ordnung mit ihr? Sie leidet doch nicht, oder?«

»Keine Ahnung.« Bundy fuhr sich nervös mit den Fingern durch die Haare; mir fiel auf, dass seine Hände zitterten. »Ich kann sie ja noch mal durchchecken. Die Schmerzschaltungen.«

»Schmerzschaltungen?«

»Ja klar, die muss sie haben, damit sie nicht gegen die Wand läuft oder gegen irgendetwas anderes und sich selbst Schaden zufügt.« Der Techniker zeigte mit dem Daumen zu der Stanton. »Die hat auch welche.«

Kein Zweifeclass="underline" Wir waren Zeugen, wie ein Lebewesen zur Welt kam. Die Lincoln nahm uns jetzt wahr; ihre pechschwarzen Augen bewegten sich hin und her, sogen uns geradezu auf. Was zeigte sich in diesen Augen? Argwohn, der jede menschliche Vorstellungskraft überstieg. Die Intelligenz einer Lebensform von jenseits unserer Welt, aus einem fremden Land. Ein Wesen, das auf einmal in unserer Zeit und unserem Raum war, sich unser bewusst, sich seiner selbst bewusst. Die Augen rollten hin und her, sahen alles, sahen zugleich nichts – als würde es sich in der Schwebe befinden. Es wartete. Es hatte Angst, so große Angst, dass das Wort Emotion dafür nicht ausreicht. Die Angst war die Basis seiner Existenz. Es war abgetrennt worden, fortgerissen aus einer Verschmelzung, die wir nicht kannten, noch nicht kannten. Vielleicht hatten wir ja alle einmal in dieser Verschmelzung existiert, aber für uns lag der Bruch weit zurück, für die Lincoln hatte er sich gerade erst ereignet.

Ihr Blick ließ sich noch immer nicht irgendwo nieder; sie weigerte sich, einen bestimmten Gegenstand wirklich wahrzunehmen.

»Mann«, sagte Maury leise. »Die guckt uns echt komisch an.«

Irgendetwas war mit diesem Ding, es besaß irgendeine unergründliche Fähigkeit. Hatte Pris sie ihr verliehen?

Ich bezweifelte es. Maury? Auf gar keinen Fall. Keiner von ihnen hatte das getan, auch nicht Bob Bundy, dessen Vorstellung von Vergnügen es war, nach Reno zu düsen, um zu zocken und mit einer Nutte herumzumachen. Sie hatten diesem Ding Leben eingehaucht, doch es war nur eine Übertragung, keine Erfindung. Sie hatten Leben weitergegeben, aber es hatte seinen Ursprung in keinem von ihnen und auch nicht in allen zusammen. Es war wie eine Seuche; die drei hatten sie sich irgendwann eingefangen, und nun war dieses Material daran erkrankt. Das Leben ist ein Zustand, den Materie annimmt, dachte ich, während ich zusah, wie dieses Lincoln-Ding uns und sich selbst wahrnahm. Es ist etwas, was Materie tut. Der erstaunlichste, ja der einzige wahrhaft erstaunliche Zustand im Universum – der, hätte er nicht existiert, niemals hätte vorhergesagt oder auch nur erträumt werden können.