Und in diesem Moment, da ich Zeuge wurde, wie die Lincoln Stück für Stück in eine Beziehung zu dem trat, was sie sah, wurde mir etwas klar: Die Grundlage des Lebens ist nicht Gier oder sonst ein Verlangen. Es ist Angst – die Angst, die ich hier sah. Und nicht einmal Angst, nein, viel schlimmer. Absolutes Grauen. Lähmendes Entsetzen, das so groß war, dass es zu Apathie führte. Aber die Lincoln erhob sich daraus. Warum? Weil sie musste. Alles Handeln war dem Schrecken geschuldet. Dieser Zustand war unerträglich, jegliche Aktivität des Lebens war eine Anstrengung, sich von diesem Zustand zu befreien, war der Versuch, die Situation zu mildern, die wir gerade vor uns sahen.
Geburt, wurde mir klar, ist nichts Angenehmes. Ja, sie ist schlimmer als der Tod. Über den Tod kann man philosophieren – jeder tut das. Aber Geburt! Da gibt es kein Philosophieren, kein Mildern der Situation. Und die Aussichten sind trübe: Alles, was man tut und denkt, zieht einen nur tiefer ins Leben hinein.
Wieder ächzte die Lincoln. Und dann, mit einem heiseren Grollen, murmelte sie etwas.
»Was?«, fragte Maury. »Was hat sie gesagt?«
Bundy kicherte. »So ein Mist aber auch, die Stimme läuft rückwärts.«
Die ersten Worte der Lincoln-Maschine: rückwärts gesprochen aufgrund einer fehlerhaften Programmierung.
Acht
Es dauerte einige Tage, das Lincoln-Simulacrum in Ordnung zu bringen. In dieser Zeit fuhr ich von Ontario aus westwärts durch die Oregon Sierras, und durch die kleine Holzfällerstadt John Day, die immer meine Lieblingsstadt im Westen der USA gewesen ist. Ich machte dort jedoch nicht Halt; ich war zu ruhelos. Ich fuhr weiter nach Westen, bis ich den Highway erreichte. Diese schnurgerade Nord-Süd-Verbindung, die alte Route 99, führt über Hunderte von Meilen zwischen Nadelbäumen hindurch, und am kalifornischen Ende findet man sich zwischen Vulkanbergen wieder, stumpf und aschfarben, übrig geblieben aus der Zeit der Giganten.
Zwei kleine gelbe Finken, die in der Luft spielten, sausten auf die Motorhaube meines Autos zu. Ich hörte nichts, aber ich schloss aus ihrem Verschwinden, dass sie in den Kühlergrill geraten waren. Tot und verbrannt. Und tatsächlich, an der nächsten Tankstelle fand der Tankwart sie. Hellgelb hingen sie im Grill. Ich schlug sie in ein Taschentuch, trug sie zum Rand des Highways und warf sie dort zwischen die Bierdosen und verrottenden Pappkartons.
Vor mir lagen Mount Shasta und die Grenzstation von Kalifornien. Ich fühlte mich nicht danach weiterzufahren. Die Nacht verbrachte ich in einem Motel in Klamath Falls, und am nächsten Tag fuhr ich die Küste entlang den Weg zurück, den ich gekommen war.
Es war gerade einmal halb acht und es gab nur wenig Verkehr, als ich über mir etwas sah, das mich veranlasste, auf dem Seitenstreifen anzuhalten. Wie immer bekam ich bei dem Anblick ein Gefühl von Demut, zugleich belebte er mich. Ein riesiges Schiff zog langsam vorüber, auf seinem Weg zurück von Luna oder einem der Planeten zum Raumhafen irgendwo in der Wüste von Nevada. Düsenjäger der Air Force begleiteten es; neben ihm waren sie kaum mehr als schwarze Punkte.
Andere Wagen hatten ebenfalls angehalten. Ein Mann machte ein Foto, eine Frau und ein kleines Kind winkten. Die Bremsraketen des Schiffes ließen jetzt die Erde erbeben. Seine Außenhülle, konnte ich sehen, war von Meteoriteneinschlägen übersät und verbrannt vom Wiedereintritt in die Atmosphäre.
Dort zieht unsere Hoffnung vorüber, dachte ich und schirmte meine Augen vor der Sonne ab. Was hat es an Bord? Bodenproben? Hinweise auf außerirdisches Leben? Zerbrochene Krüge, die man in der Asche eines erloschenen Vulkans gefunden hat – Überreste einer untergegangenen Zivilisation? Nun, vermutlich bloß eine Horde Bürokraten. Bundesbeamte, Kongressmitglieder, Techniker, Militärbeobachter, Raketenwissenschaftler, vielleicht auch ein paar Reporter und Fotografen von Life und Look und Fernsehteams von NBC und CBS. Beeindruckend war es trotzdem. Ich winkte, so wie die Frau mit dem kleinen Jungen.
Als ich wieder in mein Auto stieg, dachte ich: Eines Tages wird es hübsche kleine Reihenhäuser dort oben auf dem Mond geben. Mit Fernsehanschluss und Rosen-Kleinklavieren in den Wohnzimmern. Vielleicht werde ich in zehn Jahren ja Anzeigen in extraterrestrischen Zeitungen aufgeben. Unsere Firma wäre mit den Sternen verbunden…
Doch in gewisser Weise war sie das bereits. Ja, ich bekam allmählich eine Ahnung von der Leidenschaft, die Pris beherrschte, von der Besessenheit in Sachen Barrows. Er war, in vielerlei Hinsicht, das Bindeglied zwischen uns gewöhnlichen Sterblichen und dem All, war in beiden Welten beheimatet, den einen Fuß auf Luna, den anderen auf Grundbesitz in Seattle und Oakland. Ohne Barrows war das alles nur ein Traum – er machte es greifbar. Man konnte nicht umhin, ihn zu bewundern. Ihn versetzte die Vorstellung, Menschen auf dem Mond anzusiedeln, nicht in Ehrfurcht; für ihn war es ein weiteres, vielversprechendes Geschäftsfeld. Eine Chance auf hohe Investitionserträge, höher noch als bei der Vermietung von Wohnraum in Slums.
Also zurück nach Ontario, sagte ich mir. Ran an die Simulacra, unser neues Produkt, das Mr. Barrows herauslocken, uns für ihn wahrnehmbar machen soll. Das uns zu einem Teil der neuen Welt, ja uns lebendig machen soll.
Als ich die Straße zu MASA Associates hinauffuhr und nach einem Parkplatz Ausschau hielt, sah ich eine Menschenmenge, die sich vor unserem Firmengebäude versammelt hatte und in den Vorführraum blickte, den Maury hatte bauen lassen. Ich parkte und mischte mich unter die Leute.
Dort, im Vorführraum, saß die große, bärtige Gestalt von Abraham Lincoln an einem altmodischen Rollladensekretär aus Walnussholz. Der Sekretär gehörte meinem Vater, sie hatten ihn für die Lincoln aus Boise hierhergeholt. Das ärgerte mich etwas, doch ich musste zugeben, dass es passte. Die Maschine, die ganz ähnliche Kleidung trug wie die Stanton, schrieb gerade mit der Feder einen Brief. Der wirklichkeitsgetreue Eindruck, den sie machte, war wirklich verblüffend. Hätte ich es nicht besser gewusst, ich wäre überzeugt gewesen, dass es sich um einen auf unnatürliche Weise wieder zum Leben erweckten Lincoln handelte. Aber war es nicht genau das? Hatte Pris letztlich nicht doch recht?
Mir fiel ein Schild im Fenster auf; es erläuterte dem Publikum, was hier vor sich ging:
DIES IST EIN LEBENSECHTER NACHBAU DES SECHZEHNTEN PRÄSIDENTEN DER VEREINIGTEN STAATEN, ABRAHAM LINCOLN. ER WURDE HERGESTELLT VON MASA Associates IN ZUSAMMENARBEIT MIT DER ROSEN-ELEKTROORGELFABRIK IN BOISE, IDAHO. ER IST DER ERSTE SEINER ART. DAS GESAMTE GEDÄCHTNIS UNSERES GROSSEN BÜRGERKRIEGSPRÄSIDENTEN WURDE IN DER ZENTRALMONADENKONSTRUKTION DIESER MASCHINE EXAKT REPRODUZIERT; SIE IST DAMIT IN DER LAGE, SÄMTLICHE HANDLUNGEN, REDEN UND ENTSCHEIDUNGEN DES PRÄSIDENTEN WIEDERZUGEBEN. ANFRAGEN ERWÜNSCHT.
Die hochtrabenden Worte ließen eindeutig auf Maury schließen. Wütend schob ich mich durch die Menge und betrat den Vorführraum. In der Ecke auf einer Couch saßen Maury, Bob Bundy und mein Vater und sahen schweigend der Lincoln zu.
»Hey, Kumpel«, sagte Maury, als er mich erblickte.
»Und? Die Kosten schon wieder reingeholt?«
»Nein. Wir nehmen kein Geld dafür. Wir führen sie einfach nur vor.«
»Dieses Schild dort ist auf deinem Mist gewachsen, nicht wahr? Mit was für Passanten rechnest du, die Anfragen stellen? Warum lässt du die Kiste nicht Autowachs verkaufen oder Geschirrspülmittel? Warum lässt du sie nur dort sitzen und schreiben? Oder nimmt sie gerade an irgendeinem Preisausschreiben teil?«