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»Sie erledigt eben ihre Korrespondenz.«

»Wo ist deine Tochter?«

»Sie kommt gleich wieder.«

Ich wandte mich meinem Vater zu. »Stört es dich nicht, dass die Maschine deinen Schreibtisch benutzt?«

»Nein, mein Sohn. Komm, rede mit ihr. Selbst wenn man sie unterbricht, legt sie eine verblüffende Gelassenheit an den Tag. Davon könnte ich mir eine Scheibe abschneiden.«

Ich hatte meinen Vater noch nie so nachdenklich erlebt. »Okay«, sagte ich und ging zu der schreibenden Gestalt hinüber. Draußen vor dem Schaufenster gafften die Leute. »Mr. President.« Meine Kehle war trocken. »Sir, ich störe Sie nur ungern.« Ich war nervös und mir doch gleichzeitig absolut darüber im Klaren, dass es sich nur um eine Maschine handelte. Zu ihr zu gehen und sie so anzusprechen, machte mich zu einem Bestandteil der Fiktion, zu einem ebensolchen Schauspieler wie sie. Aber mich hatte niemand programmieren müssen, ich spielte meine Rolle in diesem Unsinn freiwillig.

Warum sagte ich nicht einfach ›Mr. Simulacrum‹? Das war schließlich die Wahrheit. Die Wahrheit? Was hieß das denn? Wie bei einem kleinen Jungen, der im Kaufhaus zum Weihnachtsmann geht – die Wahrheit kundzutun, wäre wie sterben. Mein Sterben. Wollte ich das? Das Simulacrum würde nicht darunter leiden. Maury, Bundy und mein Vater würden es nicht einmal mitbekommen. Also machte ich weiter. Weil ich es war, den ich schützte.

Die Lincoln blickte auf, legte die Feder beiseite und sagte mit hoher, angenehmer Stimme: »Guten Tag. Ich nehme an, Sie sind Mr. Louis Rosen.«

»Ja, Sir.«

In diesem Moment explodierte der Raum. Der Rollladensekretär zersprang in tausend Stücke, die mir ins Gesicht flogen. Ich kniff die Augen zu und fiel nach vorn. Ich streckte noch nicht einmal die Hände aus, um den Aufprall abzufedern. Dunkelheit hüllte mich ein.

Oben im Büro auf einem Sofa kam ich wieder zu mir. Maury saß neben mir, rauchte eine seiner Corina Larks und hielt mir eine Flasche Haushaltsammoniak unter die Nase. »Jesus«, sagte er, als er merkte, dass ich wieder bei Bewusstsein war. »Du hast eine Beule an der Stirn und eine Platzwunde an der Lippe.«

Ich hob die Hand und befühlte die Beule. Sie schien die Größe einer Zitrone zu haben. Und ich hatte Fetzen von meiner Lippe auf der Zunge. »Ich bin ohnmächtig geworden.«

»Ach, wirklich?«

Nun sah ich auch meinen Vater. Und Pris Frauenzimmer in ihrem langen grauen Leinenmantel, die auf und ab ging und mich halb amüsiert, halb verächtlich betrachtete. »Ein Wort von ihr«, sagte sie, »und du fällst um. Meine Güte!«

Ich rieb mir die Augen. »Ja, und?«

Maury sah seine Tochter grinsend an. »Das beweist, dass sie wirkt.«

»Was… hat die Lincoln gemacht? Nachdem ich umgefallen bin?«

»Sie hat dich genommen und nach oben getragen.«

»Wirklich?«

»Warum bist du überhaupt ohnmächtig geworden?« Pris beugte sich über mich, starrte mich eindringlich an. »Du Idiot! Aber gut, die Leute waren jedenfalls hin und weg. Du hättest sie hören sollen. Man hätte meinen können, wir hätten Gott zusammengeschraubt oder so was. Sie haben wirklich gebetet, und ein paar alte Damen haben sich bekreuzigt. Und andere, du wirst es kaum glauben…«

»Schon gut, Pris.«

»Lass mich ausreden.«

»Nein. Halt den Mund, ja?«

Wir funkelten einander an, dann richtete sich Pris auf. »Weißt du eigentlich, dass deine Lippe aufgeplatzt ist? Du solltest sie nähen lassen.«

Ich berührte meine Lippe und stellte fest, dass sie immer noch blutete. Vielleicht hatte Pris recht.

»Ich bring dich zu einem Arzt.« Sie ging zur Tür. »Komm.«

»Das braucht nicht genäht zu werden«, murmelte ich. Trotzdem stand ich auf und folgte ihr wacklig.

Während wir im Flur auf den Fahrstuhl warteten, sagte Pris: »Du bist nicht gerade der Mutigste, hm?«

Ich antwortete nicht.

»Du hast schlimmer reagiert als ich, schlimmer als alle bisher. Das überrascht mich. Du bist offenbar weniger stabil, als wir dachten. Eines Tages, unter Stress, wird sich das gravierend bemerkbar machen. Eines Tages wirst du schwerwiegende psychische Probleme bekommen.«

Der Fahrstuhl kam, wir traten ein, die Türen schlossen sich. Ich sah sie an. »Ist es denn so schlimm, eine Reaktion zu zeigen?«

»In Kansas City habe ich gelernt, wie man erst dann eine Reaktion zeigt, wenn es im ureigenen Interesse ist. Das hat mich gerettet, das hat mich da wieder rausgebracht. Ein extremer Effekt ist immer ein schlechtes Zeichen, wie in deinem Fall. Es zeugt von mangelhafter Anpassung. In Kansas City sagt man Parataxie dazu -Emotionalität drängt sich in zwischenmenschliche Beziehungen und verkompliziert sie. Wobei es keine Rolle spielt, ob man dabei Hass oder Neid oder, wie in deinem Fall, Angst ausagiert – alles bloß Parataxie. Und wenn die Gefühle übermäßig stark werden, hast du eine psychische Erkrankung. Und wenn sie völlig die Kontrolle übernehmen, hast du Schizophrenie, wie bei mir vor einer Weile. Das ist das Schlimmste.«

Ich tupfte mit einem Taschentuch an meiner Lippe herum. Mir war klar, dass es keine Möglichkeit gab, Pris meine Reaktion begreifbar zu machen; ich versuchte es gar nicht erst.

»Soll ich es küssen? Damit es wieder gut wird.«

Ich warf ihr einen wütenden Blick zu, doch dann erkannte ich, dass sie wirklich Mitgefühl empfand. »Das wird schon wieder.« Ich fühlte mich wie ein kleiner Junge. »Weißt du, Erwachsene reden nicht so miteinander. Küssen, damit es wieder gut wird…«

»Ich will dir nur helfen.« Sie sah mich traurig an. »Ach, Louis – es ist vorbei.«

»Was ist vorbei?«

»Sie lebt. Ich kann sie nie wieder anrühren. Was soll ich jetzt tun? Ich habe kein Ziel mehr.«

»Ach, Pris.«

»Mein Leben ist leer, ich könnte ebenso gut tot sein. Mein ganzes Tun und Denken ist nur um die Lincoln gekreist.« Die Fahrstuhltüren öffneten sich, und wir traten in die Eingangshalle hinaus. »Ist es dir wichtig, zu was für einem Arzt du gehst? Ich bring dich am besten gleich zu der Praxis weiter die Straße hinunter.«

»Gut.«

Wir stiegen in den Jaguar. »Sag mir, was ich machen soll, Louis. Ich muss sofort irgendetwas machen.«

»Du wirst da schon wieder rauskommen.«

»So habe ich mich noch nie gefühlt.«

»Lass dich doch zum Papst wählen.« Es war das Erste, was mir in den Kopf gekommen war; es war völlig hirnrissig.

»Sehr witzig. Ich wünschte, ich wäre ein Mann. Frauen ist so viel verwehrt. Ihr könnt alles werden, aber was kann eine Frau schon werden? Hausfrau oder Verkäuferin oder Schreibkraft oder Lehrerin.«

»Werd doch Ärztin. Nähe verletzte Lippen.«

»Ich kann kranke oder behinderte Menschen nicht ertragen. Darum bringe ich dich ja zum Arzt. Ich kann dich gar nicht ansehen, verstümmelt wie du bist.«

»Ich bin nicht verstümmelt. Ich habe nur eine aufgeplatzte Lippe!«

Pris ließ den Motor an und fädelte in den Verkehr ein. »Ach, ich lass es einfach gut sein mit der Lincoln. Von nun an ist sie nur noch eine Sache. Etwas, das sich vermarkten lässt.«

Ich nickte.

»Ich werde dafür sorgen, dass Sam Barrows sie kauft. Eine andere Aufgabe habe ich nicht. Von nun an wird sich mein gesamtes Denken und Tun um Sam Barrows drehen.«

So sehr mich ihre Worte auch zum Lachen reizten, ich brauchte sie nur anzusehen – in ihrem Gesicht stand eine solche Niedergeschlagenheit, ein solcher Mangel an Zufriedenheit oder Freude oder auch nur Humor, dass ich lediglich nicken konnte. Während Pris mich zum Arzt fuhr, damit meine Lippe genäht wurde, hatte sie offenbar einen heiligen Eid geleistet. Darin lag etwas Manisches, und mir war klar, dass es aus lauter Verzweiflung geschehen war. Sie ertrug es nicht, auch nur einen Moment ohne Beschäftigung zu sein; sie brauchte ein Ziel. Das war ihre Art, der Welt einen Sinn abzutrotzen.