»Weißt du, Pris, dein Problem ist, dass du so rational bist.«
»Aber das bin ich gar nicht. Alle sagen, dass ich immer das tue, wonach mir der Sinn steht.«
»Nein, du wirst von einer unerbittlichen Vernunft getrieben. Und die musst du loswerden. Sag Horstowski das. Sag ihm, er soll dich von dieser Vernunft befreien. Du wirkst, als ob dein Leben auf einem geometrischen Beweis beruhen würde. Mach mal etwas Unvernünftiges. Bring mich nicht zum Arzt, sondern setz mich stattdessen bei einem Schuhputzer ab, damit er mir die Schuhe poliert.«
»Deine Schuhe sind schon poliert.«
»Siehst du? Siehst du, wie du ständig vernünftig sein musst? Halt an der nächsten Kreuzung an, und wir steigen beide aus und lassen das Auto stehen. Oder wir gehen in einen Blumenladen und kaufen Blumen und bewerfen die anderen Autos damit.«
»Und wer bezahlt die Blumen?«
»Wir klauen sie. Wir rennen ohne zu bezahlen wieder raus.«
»Lass mich kurz darüber nachdenken.«
»Nachdenken? Bloß nicht! Hast du je etwas geklaut als Kind? Oder einfach nur aus Spaß etwas kaputt gemacht, irgendetwas, das der Allgemeinheit gehört – eine Straßenlaterne?«
»Ich hab mal im Laden an der Ecke einen Schokoriegel mitgehen lassen.«
»Dann machen wir das jetzt. Wir suchen uns einen Laden an der Ecke und sind wieder Kinder. Wir lassen jeder einen Schokoriegel mitgehen und suchen uns einen Platz auf einer Wiese und essen ihn.«
»Mit deiner Lippe kannst du doch gar nicht essen.«
Das verschlug mir kurzzeitig die Stimme. »Gut, zugegeben. Aber das gilt nur für mich, stimmt’s? Du könntest jederzeit in einen Laden gehen und es tun, auch ohne mich.«
»Würdest du trotzdem mitkommen?«
»Wenn du das willst. Oder ich warte draußen mit laufendem Motor, damit wir schnell abhauen können.«
»Nein, ich möchte, dass du mit in den Laden kommst. Du kannst mir zeigen, welchen Schokoriegel ich nehmen soll. Ich brauche deine Hilfe.«
»Okay.«
»Welche Strafe steht denn auf so was?«
»Ewiges Leben.«
»Du machst Witze.«
»Nein, ich meine es ernst.« Und ich meinte es tatsächlich ernst.
»Machst du dich über mich lustig? Wirke ich so lächerlich, liegt es daran?«
»Gott, nein.«
»Du musst wissen, dass ich alles glaube. In der Schule haben sie mich immer wegen meiner Leichtgläubigkeit gehänselt. ›Alice im Dummerland‹ haben sie mich genannt.«
»Komm mit in den Laden, Pris, dann beweise ich dir, dass ich es ernst meine. Ich will dich retten.«
»Vor was denn retten?«
»Vor deinem Verstand.«
Ich sah, wie sich ihr Gesicht verzog, wie sie mit sich selbst kämpfte, herauszufinden versuchte, was sie tun sollte. Sie wandte sich mir zu. »Louis, ich glaube dir das mit dem Laden. Ich weiß, dass du dich nie über mich lustig machen würdest. Du kannst mich vielleicht nicht ausstehen – du empfindest Hass auf mich, auf vielen Ebenen –, aber du bist nicht die Sorte Mensch, die daraus Vergnügen zieht, Schwächere zu verhöhnen.«
»Du bist nicht schwach.«
»Doch. Aber dir fehlt das Gespür, das wahrzunehmen. Das ist in Ordnung, Louis. Ich bin genau andersherum – ich habe das Gespür und bin nicht in Ordnung.«
»In Ordnung, nicht in Ordnung. Hör auf damit, Pris. Du bist deprimiert, weil deine Arbeit an der Lincoln beendet ist. Du weißt gerade nichts mit dir anzufangen, und wie viele andere kreative Menschen hast du ein Tief zwischen dem einen und…«
»Da ist die Praxis.« Pris hielt an.
Nachdem mich der Arzt untersucht und wieder entlassen hatte, ohne die Notwendigkeit zu sehen, irgendetwas zu nähen, gelang es mir, Pris zu einem kurzen Kneipenbesuch zu überreden. Ich brauchte dringend etwas zu trinken. Ich sagte ihr, es sei etwas, das wir tun mussten, das von uns erwartet wurde, eine Art zu feiern. Wir hatten mitangesehen, wie die Lincoln zum Leben erwacht war, und das war ein großer Moment, vielleicht der größte Moment unseres Lebens. Und doch lag in diesem Moment auch etwas Unheilvolles, Trauriges, etwas, das uns alle verstörte.
»Ein Bier, mehr nicht«, sagte Pris, während wir den Gehsteig überquerten.
In der Kneipe bestellte ich ein Bier für sie und einen Irish Coffee für mich. »Ja, ich kann mir vorstellen, dass du dich hier wohlfühlst«, sagte sie. »Du verbringst viel Zeit damit, in Kneipen herumzuhocken, stimmt’s?«
»Ich muss dich mal was fragen, Pris. Glaubst du das, was du da ständig über andere sagst, eigentlich selbst? Oder plapperst du einfach nur drauflos, Hauptsache, der andere fühlt sich schlecht dabei?«
»Was denkst du?«
»Keine Ahnung.«
»Warum willst du das überhaupt wissen?«
»Mich interessiert einfach alles, was dich betrifft. Die kleinsten Kleinigkeiten.«
»Warum?«
»Du hast eine faszinierende Geschichte. Schizoid mit zehn, zwangsneurotisch mit dreizehn, vollständig schizophren und unter staatlicher Aufsicht mit siebzehn, jetzt halbwegs geheilt und zurück in der Welt, aber immer noch…« Ich schluckte. Nein, das war nicht der Grund. Nicht ihre Geschichte. »Okay, ich werde dir die Wahrheit sagen. Ich liebe dich.«
»Du lügst.«
»Gut, ich könnte dich lieben.«
»Wenn was wäre?« Sie wirkte jetzt äußerst nervös, ihre Stimme bebte.
»Ich weiß nicht. Irgendetwas hält mich zurück.«
»Angst.«
»Vielleicht. Ja, vielleicht ist es einfach nur Angst.«
»Machst du dich lustig über mich, Louis?«
»Nein.«
Sie lachte kurz auf. »Wenn du deine Angst besiegen würdest, könntest du eine Frau für dich gewinnen. Nicht mich, aber irgendeine andere. Ich kann gar nicht fassen, dass du das zu mir gesagt hast. Louis, wir sind so verschieden, wie es nur geht, siehst du das nicht? Du zeigst deine Gefühle, ich behalte sie für mich. Wie wäre das wohl, wenn wir ein Kind hätten… Ich kann Frauen nicht verstehen, die ständig Kinder haben wollen, sie sind wie Hundeweibchen – jedes Jahr ein Wurf.« Sie sah mich aus dem Augenwinkel an. »Das ist ein Buch mit sieben Siegeln für mich. Sie finden Erfüllung durch ihre Fortpflanzungsorgane. Ich bin solchen Frauen begegnet, aber ich könnte nie so sein. Ich bin unglücklich, wenn ich nicht etwas mit meinen eigenen Händen tun kann. Warum ist das so?«
»Weiß ich nicht.«
»Es muss eine Erklärung dafür geben, alles hat einen Grund. Weißt du, Louis, ich kann mich nicht mehr richtig erinnern, aber ich glaube nicht, dass je irgendjemand gesagt hat, er sei in mich verliebt.«
»Ach, bestimmt. Jungs in der Schule.«
»Nein, du bist der Erste. Keine Ahnung, wie ich darauf reagieren soll. Ich weiß nicht mal, ob es mir gefällt. Es fühlt sich komisch an.«
»Nimm es einfach an.«
»Liebe und Kreativität… Wir setzen mit der Stanton und der Lincoln Kinder in die Welt. Liebe und Kinder kriegen – beides hängt miteinander zusammen, nicht? Man liebt, was man in die Welt setzt, und da du mich liebst, Louis, willst du auch mit mir zusammen etwas Neues in die Welt setzen, oder nicht?«
»Denke schon.«
»Wir sind wie Götter. Stanton und Lincoln, eine neue Spezies… Aber während wir ihnen das Leben schenken, bleibt in uns selbst eine Leere zurück. Fühlst du dich nicht auch leer?«
»Nein, überhaupt nicht.«
»Du bist eben anders als ich. Du hast kein Gespür für das, was wir getan haben. Gehst hier in diese Kneipe… Das war ein spontaner Impuls, dem du nachgegeben hast, nicht wahr? Maury und Bob und dein Vater und die Stanton sind immer noch bei MASA, bei der Lincoln – du denkst gar nicht an sie, du willst hier sitzen und etwas trinken.« Sie lächelte mich an.
»Kann schon sein.«
»Ich langweile dich, oder? Du interessierst dich gar nicht für mich, interessierst dich nur für dich selbst.«