»Dann würde er nicht hierher kommen«, sagte Pris. »Wahrscheinlich war es sogar gut so. Ohne die Stanton würde Barrows vielleicht gar nicht kommen. Das Telegramm allein hätte vermutlich nicht ausgereicht. Und wenn die Stanton sich nicht abgesetzt hätte, hätte er sie sich womöglich unter den Nagel gerissen, und wir wären jetzt draußen. Richtig?«
»Ja«, gab Maury verdrießlich zu.
Mein Vater räusperte sich. »Aber Mr. Barrows ist ein ehrenwerter Mann. Wo er doch so viel soziales Engagement an den Tag legt – dieser Brief, den mein Sohn mir gezeigt hat, über die Mieter, die er beschützt.«
Maury nickte.
Pris klopfte meinem Vater auf die Schulter. »Ja, Jerome. Er ist ein sehr engagierter Mann. Er wird dir gefallen.«
Mein Vater strahlte erst Pris an, dann mich. »Na, sieht doch ganz danach aus, dass sich alles zum Guten wendet, nicht wahr?«
Wir nickten alle, auf unseren Gesichtern eine Mischung aus Bedrückung und Angst.
Die Tür ging auf, und Bob Bundy kam herein, ein zusammengefaltetes Blatt in der Hand. Er gab es mir. »Ein Brief von Lincoln.«
Ich faltete ihn auf.
Sehr geehrter Mr. Rosen,
ich möchte mich nach Ihrem Zustand erkundigen. In der Hoffnung, dass es Ihnen ein wenig besser geht.
Hochachtungsvoll
A. Lincoln
»Ich gehe mich mal bedanken«, sagte ich zu Maury.
»Ja, tu das.«
Neun
Während wir im kalten Wind auf das Flugzeug aus Seattle warteten, dachte ich: Inwieweit wird er sich von den anderen Passagieren unterscheiden?
Die Boeing 900 landete und rollte auf der Landebahn aus. Die Gangways wurden ausgefahren, die Türen geöffnet, Stewardessen halfen den Leuten hinaus. Gleichzeitig sausten Gepäckwagen umher wie große Käfer, und auf der gegenüberliegenden Seite stand mit blinkenden Warnleuchten ein Tanklastzug.
Die Passagiere strömten die Gangways hinunter. Um uns herum schoben sich Freunde und Verwandte so weit auf das Flugfeld hinaus, wie es eben gestattet war.
Maury tänzelte unruhig hin und her. »Los, gehen wir ihm guten Tag sagen.«
Pris und er marschierten los, ich folgte ihnen. Ein blau uniformierter Fluglinienangestellter wollte uns zurückschicken, doch wir ignorierten ihn. An der Gangway der ersten Klasse blieben wir stehen. Die Passagiere kamen einer nach dem anderen herunter, die meisten mit ausdruckslosen müden Gesichtern.
»Da ist er«, sagte Maury.
Ein schlanker Mann im grauen Anzug kam die Gangway hinab, ein leichtes Lächeln auf den Lippen, einen Mantel über dem Arm. Ich hatte den Eindruck, dass sein Anzug besser saß als die der anderen Männer. Zweifellos maßgeschneidert, in England oder Hongkong. Und er sah entspannter aus. Er trug eine grüne, randlose Sonnenbrille; die Haare waren, wie auf den Fotos, extrem kurz, fast schon militärisch kurz. Eine fröhlich aussehende Frau folgte ihm. Ich kannte sie bereits: Colleen Nild, unter dem Arm ein Klemmbrett und Papiere.
»Sie sind zu dritt«, stellte Pris fest.
Der andere Mann war klein, korpulent und trug einen braunen Anzug, dessen Ärmel und Hosenbeine zu lang waren; ein Mann mit rotem Gesicht, einer Doktor-Doolittle-Nase und schütteren schwarzen Haaren, die er sich um den gewölbten Schädel geklatscht hatte. Er trug eine Krawattennadel, und die Art und Weise, wie er kurzbeinig hinter Barrows herschritt, ließ mich vermuten, dass es sich um einen Rechtsanwalt handelte. Genau so stampfte der Manager eines Baseballvereins auf das Spielfeld hinaus, um gegen eine Schiedsrichterentscheidung zu protestieren. Die Haltung des Protestierens, dachte ich, ist in allen Berufen dieselbe – man bläst sich ordentlich auf, redet drauflos und fuchtelt mit den Armen.
Tatsächlich redete der Anwalt gerade auf Colleen Nild ein. Er machte einen sympathischen Eindruck auf mich, voller Energie und guter Laune, genau die Sorte Anwalt, die ich in Barrows’ Diensten erwartet hätte. Wie letztes Mal trug Colleen einen blauschwarzen Wollmantel, der wie Blei an ihr hing. Dazu Handschuhe, Hut und eine Handtasche aus Leder.
Jetzt erreichte Barrows das Ende der Gangway. Seine Augen waren hinter der Sonnenbrille nicht zu erkennen. Er hielt den Kopf leicht gesenkt, um sehen zu können, was seine Füße taten.
Maury trat vor. »Mr. Barrows!«
In einer fließenden Bewegung blieb Barrows stehen, glitt zur Seite, damit die Leute hinter ihm die Gangway verlassen konnten, und streckte die Hand aus. »Mr. Rock?«
»Ja, Sir.« Sie schüttelten sich die Hände. Wir anderen scharten uns um sie. »Das ist Pris Frauenzimmer. Und das ist mein Partner, Louis Rosen.«
»Sehr erfreut, Mr. Rosen.« Barrows gab auch mir die Hand. »Das ist Mrs. Nild, meine Sekretärin. Und dieser Gentleman hier ist Mr. Blunk, mein Rechtsanwalt. Frisch hier draußen auf dem Rollfeld, nicht wahr?« Barrows ging Richtung Flughafengebäude. So schnell, dass wir anderen hinter ihm hergaloppieren mussten wie eine Herde schwerfälliger Kühe. Blunks kurze Beine bewegten sich wie in einem mit doppelter Geschwindigkeit abgespielten Film; es schien ihm jedoch nichts ausmachen, er verströmte weiterhin gute Laune. »Boise«, verkündete er und sah sich um. »Boise, Idaho. Was werden sie sich noch alles einfallen lassen?«
Colleen Nild schloss zu mir auf. »Schön, Sie wiederzusehen, Mr. Rosen. Wir fanden dieses Stanton-Wesen sehr amüsant.«
»Ja, eine fabelhafte Konstruktion«, dröhnte Blunk. »Wir dachten, es wäre jemand vom Finanzamt.« Er grinste mich breit an.
Barrows und Maury betraten das Flughafengebäude, gefolgt von Pris, dann kam Mr. Blunk, Colleen Nild und ich bildeten das Schlusslicht. Bis wir uns alle durch das Gebäude gedrängt hatten und auf der Straßenseite waren, wo die Taxis warteten, hatten Barrows und Maury bereits die Limousine ausfindig gemacht. Der uniformierte Fahrer hielt eine der hinteren Türen auf, und Barrows und Maury stiegen ein.
»Gepäck?«, fragte ich Mrs. Nild.
»Nein. Darauf zu warten, kostet zu viel Zeit. Wir sind nur für ein paar Stunden hier, dann fliegen wir wieder zurück. Sollten wir wider Erwarten über Nacht bleiben, kaufen wir alles Nötige.«
»Aha.« Ich war einigermaßen beeindruckt.
Wir anderen stiegen ebenfalls ein. Der Fahrer setzte sich hinters Steuer, und schon waren wir unterwegs in die Stadt.
»Ich begreife nicht, wie die Stanton in Seattle eine Kanzlei eröffnen kann«, sagte Maury zu Barrows. »Sie ist überhaupt nicht berechtigt, im Staat Washington als Anwalt zu arbeiten.«
»Stimmt. Ich glaube, Sie werden sie in den nächsten Tagen wiedersehen.« Barrows bot Maury und mir eine Zigarette aus seinem Etui an.
Er agierte, wurde mir bewusst, als wäre ihm sein grauer englischer Anzug gewachsen wie einem Tier das Fell; er war ein Teil von ihm, wie seine Fingernägel und seine Zähne. Er war sich des Anzugs gar nicht bewusst, ebenso wenig wie seiner Krawatte, seiner Schuhe, seinem Zigarettenetui – er war sich der eigenen Erscheinung nicht bewusst.
So ist das also, wenn man Multimillionär ist, dachte ich. Meilenweit entfernt von unsereins, die wir uns ständig fragen, ob unser Hosenschlitz offen ist. Sam K. Barrows warf in seinem ganzen Leben keinen verstohlenen Blick zu seinem Hosenschlitz. Wenn er offen war, machte er ihn einfach zu. Wenn ich doch auch nur reich wäre!
Aber meine Aussichten waren hoffnungslos. Ich hatte es bisher nicht einmal so weit geschafft, mir Sorgen über meinen Krawattenknoten zu machen wie andere Männer. Vermutlich kam ich nie dorthin.
Außerdem sah Barrows auch noch richtig gut aus, vom Typ her wie Robert Montgomery. Nun, nicht ganz so attraktiv wie Montgomery, denn als er die Sonnenbrille abnahm, sah ich, dass die Haut unter seinen Augen geschwollen und zerknittert war. Doch er hatte diesen athletischen Körperbau, vermutlich vom regelmäßigen Training in seiner eigenen Sporthalle. Und er hatte einen erstklassigen Arzt, der ihm verbot, billigen Fusel zu trinken oder in Schnellrestaurants zu essen. Er aß wahrscheinlich auch nie Schweinefleisch, immer nur Lammfilet und Steak und Roastbeef und so was, und natürlich hatte er mit einer solchen Ernährung kein Gramm zu viel auf den Rippen. Das deprimierte mich noch mehr.