Jetzt wurde mir klar, wie die Sechskilometerläufe morgens um fünf da hineinpassten. Der exzentrische junge Millionär, dessen Foto wir in Look gesehen hatten, würde nicht mit vierzig an Herzproblemen sterben; er hatte vor, am Leben zu bleiben und sich seines Vermögens zu erfreuen. Keine Witwe würde es erben, auch wenn das Klischee es anders wollte.
Exzentrisch? Quatsch!
Clever.
Es war kurz nach sieben, als wir die Innenstadt erreichten und unsere Gäste verkündeten, dass sie noch nicht zu Abend gegessen hätten. Ob wir ein gutes Restaurant in Boise wüssten?
Leider gibt es in Boise kein gutes Restaurant.
»Irgendeinen Laden, wo wir gebratene Garnelen oder so was kriegen«, sagte Barrows. »Wir hatten ein paar Drinks während des Fluges, aber keiner von uns hat etwas gegessen.«
Schließlich fanden wir ein ganz passables Lokal. Der Kellner führte uns nach hinten zu einer hufeisenförmigen Nische. Wir legten unsere Mäntel ab, setzten uns und bestellten etwas zu trinken.
»Haben Sie Ihr erstes Geld wirklich beim Pokern gemacht?«, fragte ich Barrows.
»Nein, beim Würfeln. Bei einem sechs Monate dauernden Würfelspiel, um ganz genau zu sein. Das war meine Militärzeit. Pokern muss man können – ich habe Glück.«
»Sie sind aber nicht aus purem Glück ins Immobiliengeschäft gekommen«, meldete sich Pris.
»Nein, das war, weil meine Mutter früher Zimmer vermietet hat, in unserer alten Wohnung in L.A.«
»Und Sie sind auch nicht aus purem Glück zum Streiter für die Gerechtigkeit geworden, der vor den Supreme Court gezogen ist und sich gegen die Space Agency und ihre Monopolisierung ganzer Planeten durchgesetzt hat.«
Barrows sah sie lächelnd an. »Sie sind sehr großzügig in Ihrer Darstellung. Ich besaß meiner Meinung nach Besitzansprüche auf lunares Land und wollte die Rechtmäßigkeit dieser Ansprüche so weit juristisch abklopfen lassen, dass sie nie wieder jemand infrage stellen kann. Aber sagen Sie, wir sind uns schon einmal begegnet?«
»Ja.« Pris strahlte.
»Ich weiß nur nicht, wo ich Sie hintun soll. Helfen Sie mir!«
»Es war nur für einen kurzen Moment. In Ihrem Büro. Ich mache Ihnen keinen Vorwurf, dass Sie sich nicht erinnern können. Aber ich kann mich an Sie erinnern.«
»Sie sind Rocks Tochter?«
»Ja.«
Pris sah heute um einiges besser aus. Sie hatte sich die Haare machen lassen und trug genug Make-up, um ihre Blässe zu verbergen, aber nicht so viel, dass sie wieder dieses schrille, maskenhafte Aussehen bekam. Jetzt, wo sie ihren Mantel abgelegt hatte, sah ich, dass sie einen hübschen kurzärmeligen Jersey-Pullover und über der rechten Brust eine goldene Brosche in Form einer Schlange trug. Mein Gott, dachte ich, sie hat sogar einen BH an, einen von denen, die für Oberweite sorgen, wo keine vorhanden ist. Für diesen besonderen Anlass hatte Pris sich also einen Busen zugelegt.
»Sind Sie sicher«, dröhnte Blunk plötzlich und zeigte auf Maury, »dass dieser alte Schwerenöter wirklich Ihr Vater ist? Oder ist es nicht vielmehr so, Sir, dass Sie sich einer Sünde schuldig machen, der Unzucht mit Minderjährigen? Schande über Ihr Haupt!« Er grinste bräsig.
»Sie wollen Sie ja nur für sich selbst, Blunk.« Barrows biss einer Garnele den Schwanz ab und legte ihn beiseite. »Woher wollen Sie wissen, dass sie nicht auch eines von diesen Simulacra ist, wie die Stanton?«
»Dann nehm ich gleich ein Dutzend«, rief Blunk. Seine Augen leuchteten.
»Sie ist wirklich meine Tochter. Sie war etliche Jahre auf einer Schule.« Maury schien sich unwohl zu fühlen.
»Und jetzt ist sie wieder da…« Blunk senkte die Stimme und schlug Maury auf die Schulter. »In anderen Umständen, stimmt’s?«
Maury grinste gequält.
»Wissen Sie, dieser Stanton-Roboter hat uns eine Heidenangst eingejagt«, sagte Barrows nun. Seine Ellbogen ruhten auf dem Tisch, die Arme waren verschränkt. Er hatte seine Garnelen gegessen und sah sehr zufrieden aus. Für einen Menschen, der den Tag mit eingeweichten Backpflaumen begann, schien er wirklich gern zu essen. Ich empfand das als ermutigendes Zeichen.
»Ja, Leute, man kann euch nur gratulieren«, rief Blunk. »Ihr habt ein Monster geschaffen.« Er lachte laut auf. »Ich sage: Macht es kalt! Holt den Mob mit seinen Fackeln!«
Wir mussten alle lachen.
»Wie ist Frankensteins Monster am Ende eigentlich gestorben?«, fragte Colleen Nild.
»Erfroren«, erwiderte Maury. »Das Schloss ist niedergebrannt, und sie haben das Feuer gelöscht, und das Wasser wurde zu Eis.«
»Im nächsten Film allerdings haben sie es im Eis gefunden«, sagte ich. »Und es dann wieder zum Leben erweckt.«
Blunk schlug mit der Hand auf den Tisch. »Es ist in einer brodelnden Lavagrube versunken. Ich war dabei. Ich besitze einen Knopf von seinem Mantel.« Er zog einen Knopf aus der Tasche und zeigte ihn uns. »Vom weltberühmten Frankenstein-Monster.«
»Der ist von deiner Weste, David«, sagte Mrs. Nild.
»Was?« Blunk starrte finster an sich hinab. »Tatsächlich! Der Knopf ist von mir.« Er lachte erneut.
Barrows, der sich mit dem Daumennagel die Zähne säuberte, wandte sich Maury und mir zu. »Wie viel hat es Sie gekostet, den Stanton-Roboter zusammenzuschrauben?«
»Ungefähr fünftausend«, erwiderte Maury.
»Und für wie viel lässt er sich in großen Stückzahlen herstellen? Sagen wir, ein paar hunderttausend?«
»Ich würde sagen, um die sechshundert Dollar. Vorausgesetzt, dass sie identisch sind, die gleichen Zentralmonaden haben und die gleichen Speicherinhalte.«
»Im Grunde ist das Ganze eine lebensgroße Version dieser Sprechpuppen, die früher so beliebt gewesen sind.«
»Nicht ganz.«
»Na, er spricht aber und läuft herum. Er hat den Bus nach Seattle genommen. Ist das nicht einfach ein weiterentwickelter Roboter? Worauf ich hinauswill, ist, dass an der Sache eigentlich nichts neu ist, oder?«
Stille.
»Aber ja.« Maury sah nicht sonderlich vergnügt aus.
Und auch Pris schien plötzlich ihre gute Laune verloren zu haben.
»Nun, dann verdeutlichen Sie mir das doch bitte.« Barrows nippte an seinem Glas Green Hungarian.
»Das ist alles andere als ein Roboter, Sir. Kennen Sie die Arbeiten von William Grey Walter in England? Seine ›Schildkröten‹? Das nennt man ein homöostatisches System. Es ist von seiner Umwelt unabhängig, regelt sich selbst. Wie die vollautomatische Fabrik, die sich selbst repariert. Wissen Sie, was mit ›Rückkopplung‹ gemeint ist? In elektrischen Systemen gibt es…«
Blunk legte Maury eine Hand auf die Schulter. »Was Mr. Barrows wissen möchte, hat mit der, wenn ich so sagen darf, Patentfähigkeit Ihrer Roboter zu tun.«
Mit ruhiger, beherrschter Stimme sagte Pris: »Wir stehen unter vollem Patentschutz. Wir haben eine hervorragende Rechtsvertretung.«
Barrows lächelte sie an. »Das höre ich gern. Anderenfalls gäbe es nämlich nichts zu kaufen.«
»Zahllose Bestandteile sind neu«, fuhr Maury fort. »Das Stanton-Simulacrum verkörpert die jahrelangen Mühen etlicher staatlicher und nicht-staatlicher Forscherteams, und wir sind alle mehr als erfreut, ja sogar verblüfft über die Ergebnisse. Wie Sie selbst gesehen haben, als die Stanton in Seattle aus dem Greyhound gestiegen ist und sich ein Taxi zu Ihrem Büro genommen hat.«