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»Du könntest immer noch zur Polizei gehen«, sagte ich zu ihm.

Bedrückt schüttelte er den Kopf. »Ich habe Vertrauen in Pris. Ich weiß, dass sie den richtigen Weg finden und zu mir zurückkehren wird. Und machen wir uns doch nichts vor – sie steht unter Vormundschaft. Rechtlich gesehen habe ich ihr gar nichts mehr zu sagen.«

Ich für meinen Teil hoffte nach wie vor, dass sie nicht zurückkehrte; ohne sie war ich wesentlich entspannter. Außerdem hatte ich trotz Maurys Niedergeschlagenheit den Eindruck, dass er besser arbeiten konnte. An ihm nagten nicht mehr so viele familiäre Sorgen. Und er musste nicht mehr jeden Monat Doktor Horstowskis horrende Rechnung bezahlen.

»Glaubst du, Sam Barrows hat einen besseren Analytiker für sie aufgetan?«, fragte er mich eines Abends. »Wie viel ihn das wohl kostet? Drei Tage die Woche für jeweils vierzig Dollar – das sind fast fünfhundert im Monat. Nur um ihre kaputte Psyche in Ordnung zu bringen.« Er schüttelte den Kopf.

Mir fiel dieser Werbespruch wieder ein, mit dem die Behörden vor einem Jahr oder so jedes Postamt der Vereinigten Staaten zugeklebt hatten.

WEISEN SIE DEN WEG ZU GEISTIGER GESUNDHEIT -

SEIEN SIE DER ERSTE IN IHRER FAMILIE, DER IN EINE NERVENKLINIK GEHT!

Und Schulkinder mit grellen Buttons auf der Brust hatten abends an der Tür geklingelt, um Spenden für die psychologische Forschung zu sammeln. Alles im Namen der Volksgesundheit.

»Barrows tut mir leid«, sagte Maury. »Ich hoffe um seinetwillen, dass sie ein Simulacrum für ihn designt, aber ich bezweifle es. Ohne mich ist sie nur ein Amateur. Dieses Mosaik im Badezimmer – das war eine der wenigen Sachen, die sie je zu Ende gebracht hat. Und dabei ist noch für ein paar Hunderter Material übrig geblieben.«

»Wow.« Ich gratulierte mir und uns allen im Stillen für die Tatsache, dass Pris nicht mehr bei uns war.

»Natürlich: Diese kreativen Projekte – sie stürzt sich immer richtig auf sie, jedenfalls am Anfang. Man darf sie nicht unterschätzen. Schau dir nur mal an, wie sie die Körper von Stanton und Lincoln designt hat. Du musst zugeben, dass sie gut ist.«

»Durchaus.«

»Und wer wird uns jetzt das Nanny-Design machen, wo Pris weg ist? Du nicht, du hast nicht für einen Zehner künstlerisches Talent. Ich auch nicht. Und auch nicht diese Witzfigur, die du deinen Bruder nennst.«

»Wie wäre es mit mechanischen Babysittern im Bürgerkriegs-Design?«

Er sah mich verwirrt an.

»Dieses Design haben wir ja schon. Wir produzieren zwei Modelle, einen Babysitter im Blau der Yankees, einen im Grau der Rebellen. Feldposten, die ihre Pflicht erfüllen. Was sagst du dazu?«

»Was ist ein Feldposten?«

»So etwas wie ein Wächter, nur dass es sehr viele davon gibt.«

Maury dachte kurz nach. »Ja, ein Soldat verkörpert Pflichterfüllung. Und die Kinder wären begeistert. Außerdem kämen wir damit von diesem unpersönlichen Roboter-Design weg. Das ist eine gute Idee, Louis. Rufen wir den Vorstand zusammen und entscheiden darüber. Jetzt gleich, damit wir mit der Arbeit beginnen können.« Er lief voller Eifer zur Tür. »Ich rufe Jerome und Chester an und dann gehe ich runter und sage Lincoln und Stanton Bescheid.« Die beiden Simulacra wohnten im Erdgeschoss von Maurys Haus; die Wohnungen waren ursprünglich vermietet gewesen, doch jetzt hielt Maury sie für diesen Zweck frei. »Sie werden doch nichts dagegen haben, oder? Gerade Stanton – er ist so ein Dickschädel. Wenn er nun findet, dass es… Blasphemie ist?«

»Wenn sie dagegen sind, werben wir eben weiter dafür.

Am Ende werden wir uns durchsetzen, denn was sollte man ernsthaft dagegen haben? Von irgendwelchen puritanischen Vorstellungen von Stantons Seite abgesehen.«

Doch obwohl es meine eigene Idee war, überkam mich ein seltsames Gefühl – als hätte ich in meinem Moment der Kreativität, meinem letzten Ausbruch von Inspiration, uns und allem, wofür wir standen, den Todesstoß versetzt. Warum war das so? War sie mir zu leicht zugeflogen, diese Idee? Es war doch nur eine Adaption dessen, womit wir – das hieß Maury und seine Tochter – ursprünglich angefangen hatten. Damals hatten sie davon geträumt, sämtliche Schlachten des Bürgerkriegs nachzuspielen, mit Millionen von Teilnehmern; jetzt begeisterten wir uns an der schlichten Vorstellung eines mechanischen Dieners im Bürgerkriegsdesign, der der Hausfrau ihre täglichen Pflichten abnahm. Irgendwo unterwegs war unsere Vision auf der Strecke geblieben. Wir waren wieder nur eine kleine Firma, die versuchte, Geld zu machen. Ein Schmalspur- Barrows, wenn man so wollte. Bald würden wir diesen Nanny-Plunder auf den Markt werfen und mit einer verlogenen Werbemasche anpreisen oder irgendeinem Trick wie die Kleinanzeigen.

»Nein«, rief ich Maury hinterher. »Die Idee ist Schrott. Vergiss es!«

Er blieb in der Tür stehen. »Warum? Sie ist super!«

»Weil sie…« Ich konnte es nicht erklären. Ich fühlte mich ausgelaugt. Verzweifelt. Einsam. Wer oder was fehlte mir? Pris Frauenzimmer? Die ganze Bande, Barrows und Blunk und Colleen Nild und Bob Bundy und Pris – was machten sie jetzt gerade? Welchen verrückten Plan heckten sie gerade aus?

»Spuck’s aus. Warum?«

»Sie ist… kitschig.«

»Kitschig? Von wegen.« Er funkelte mich an.

»Vergiss die Idee. Was, glaubst du, treibt Barrows jetzt gerade? Meinst du, die bauen die Edwards? Oder klauen sie uns gerade die Idee mit der Hundertjahrfeier? Oder hecken etwas völlig Neues aus? Maury, wir haben keine Vision. Das ist unser Problem.«

»Klar haben wir eine.«

»Nein. Weil wir nicht verrückt sind. Wir sind viel zu normal. Wir sind nicht wie deine Tochter, wir sind nicht wie Barrows. Ist doch so, oder? Sag bloß, du fühlst es nicht? Den Mangel an Verrücktheit hier? Das Herumbasteln an irgendeinem monströsen, durchgeknallten Projekt bis in die Puppen, das vielleicht mittendrin abgebrochen wird, damit man etwas Neues, genauso Durchgeknalltes anfangen kann.«

»Ja, mag sein. Aber Herrgott noch mal, Louis, wir können uns nicht einfach zum Sterben hinlegen, nur weil Pris die Seite gewechselt hat. Kannst du dir nicht denken, dass ich selbst solche Gedanken gehabt habe? Ich kenne sie besser als du, mein Freund, viel besser. Aber wir müssen weitermachen und tun, was wir können. Deine Idee eben, die kommt vielleicht nicht an die Glühbirne oder das Streichholz ran, aber sie ist gut. Sie ist machbar und lässt sich verkaufen. Sie wird funktionieren. Und was haben wir denn Besseres? Auf jeden Fall sparen wir damit Geld – wir brauchen keinen Designer von außen holen, der die Nannys entwirft, und auch keinen Ingenieur als Ersatz für Bundy, falls der sich überhaupt ersetzen lässt.«

Geld sparen, dachte ich. Darüber brauchen sich Pris und Barrows keine Gedanken zu machen, die schicken mal kurz einen Umzugswagen rüber, um Pris’ Kram von Boise nach Seattle zu schaffen. Wir sind Schmalspurunternehmer. Wir sind Zwerge. Ohne Pris sind wir nichts…

Was ist denn jetzt los? Habe ich mich etwa in sie verliebt? In eine Frau mit Augen aus Eis, eine von Ehrgeiz zerfressene Schizoide, die unter Vormundschaft des FBMH steht und für den Rest ihres Lebens in therapeutischer Behandlung bleiben muss? Eine ehemalige Psychotikerin, die sich in hirnrissige Projekte stürzt, die jeden verleumdet und angreift, der ihr nicht genau das gibt, was sie haben will? Wie kann man sich in eine solche Frau, in ein solches Monstrum verlieben?

Es war, als wäre Pris für mich nicht nur das Leben, sondern auch das Anti-Leben – das Tote, das Grausame, das Verletzende. Und damit zugleich die personifizierte Existenz. Leben in seiner berechnenden, harten, rücksichtslosen Realität. Ich ertrug ihre Gegenwart nicht und ihre Abwesenheit auch nicht. Ohne Pris vertrocknete ich wie eine Fliege auf der Fensterbank, unbemerkt und unwichtig; in ihrer Nähe war ich zerrissen, am Boden zerstört, doch irgendwie lebendig – dann gab es mich. Genoss ich es, zu leiden? Nein. Aber das Leiden schien einfach zum Leben dazuzugehören, und ohne Pris gab es kein Leiden, nichts Unberechenbares, Unfaires, Verrücktes. Und es gab auch kein Leben, nur Möchtegernpläne und ein verstaubtes kleines Büro, in dem zwei Männer Sandkastenspiele veranstalteten… Ich wollte weiß Gott nicht, dass Pris oder irgendjemand sonst mir Leid zufügte. Aber zu leiden hieß, dass man nah an der Wirklichkeit war. In einem Traum gibt es Angst, aber keinen tatsächlichen, körperlichen Schmerz, keine alltäglichen Qualen, wie Pris sie uns durch ihre bloße Gegenwart verschaffte. Es war nichts, was sie uns antat; es war eine natürliche Folge dessen, was sie war.