Wir konnten diesen Qualen nur entkommen, indem wir uns Pris vom Hals schafften. Aber etwas anderes war geschehen: Wir hatten Pris verloren. Und damit die unmittelbare Wirklichkeit mit all ihren Widersprüchen und Absurditäten. Von nun an war das Leben vorhersagbar: Wir würden die Bürgerkriegs-Nannys produzieren, würden das eine oder andere Geld machen und so weiter. Aber was für eine Bedeutung hatte das? Was spielte es für eine Rolle?
»Hör mir zu, Louis«, sagte Maury. »Wir müssen da durch.«
Ich nickte.
»Ernsthaft. Wir dürfen nicht aufgeben. Wir rufen jetzt den Vorstand zusammen, und du unterbreitest ihnen deine Idee. Und du hängst dich richtig rein, als ob du wirklich daran glaubst. Ja? Versprichst du mir das?« Er kam zu mir und schlug mir auf den Rücken. »Komm schon. Hoch mit dem Hintern, Kumpel!«
»Na gut. Aber du sprichst mit jemandem, der eigentlich schon unter der Erde ist.«
»Ja, genau so guckst du auch aus der Wäsche. Aber jetzt komm. Wir müssen ohnehin nur Stanton überzeugen. Lincoln wird uns keine Probleme machen – er hockt ja bloß in seinem Zimmer und lacht sich über ›Winnie Pu‹ kaputt.«
»Was zum Teufel ist das nun schon wieder? Noch so ein Kinderbuch?«
»Genau das, Kumpel. Los jetzt!«
Ich gab mir einen Ruck und machte mich auf den Weg. Aber ins Leben zurückholen konnte mich nichts außer Pris. An dieser Tatsache kam ich nicht vorbei, und sie kostete mich jeden Tag mehr Kraft.
Der erste Artikel in einer Seattler Zeitung, in dem Pris vorkam, wäre uns beinahe entgangen, denn auf den ersten Blick handelte er gar nicht von ihr. Wir mussten ihn mehrmals lesen, bis wir uns ganz sicher waren.
Er handelte von Sam Barrows – das hatte unsere Aufmerksamkeit erregt. Und von einer hinreißenden jungen Künstlerin, mit der er sich in den Nachtclubs sehen ließ. Der Name der jungen Frau lautete, dem Verfasser zufolge, Pristine Womankind.
»Herrgott noch mal«, rief Maury mit tiefrotem Gesicht. »Womankind, das ist englisch für Frauenzimmer. Es soll eine Übersetzung sein, aber es stimmt nicht. Ich habe euch da nämlich immer etwas vorgemacht, dir und Pris und meiner Exfrau. Frauenzimmer bedeutet nicht das weibliche Geschlecht, es bedeutet Hure.« Er las sich den Artikel noch einmal durch. »Sie hat ihren Namen geändert, aber sie hat keine Ahnung. Es müsste Pristine Streetwalker heißen. Was für eine Farce! Und weißt du, wo sie das her hat? Aus ›Marjorie Morningstar‹. Morgenstern… Daher hat Pris die Idee. Und aus Priscilla wird Pristine.« Er stiefelte hektisch durch das Büro. »Ich weiß, dass es Pris ist, es muss Pris sein. Hör dir die Beschreibung an:
Bei Swami’s gesichtet: Niemand anders als Sam (The Big Man) Barrows, in Begleitung seines – wie wir es für Kinder, die lange aufbleiben, gern ausdrücken – »neuen Proteges«, einem Mädel schärfer als der Bleistift, mit dem eine Lehrerin der sechsten Klasse die Schulaufgaben benotet, das da heißt – und jetzt verschlucken Sie sich nicht – Pristine Womankind, mit einem Nicht-von-dieser-Welt- Gesichtsausdruck, schwarzen Haaren und einer Figur, die diese alten hölzernen Galionsdinger (Sie wissen schon) vor Neid erblassen lässt. Ebenfalls dabei Dave Blunk, der Rechtsanwalt, der uns erzählt, dass Pris eine Künstlerin und darüber hinaus mit Gaben gesegnet ist, die man nicht sehen kann. Und, sagte er, vielleicht wird sie demnächst im Fernsehen zu sehen sein, als Schauspielerin…
Gott, was für ein Dreck!« Maury warf die Zeitung auf den Tisch. »Diese Klatschkolumnisten haben doch alle ein Rad ab. Aber es geht eindeutig um Pris. Nur was soll das heißen, dass sie als Fernsehschauspielerin auftreten wird?«
»Barrows gehört vermutlich auch ein Fernsehsender.«
»Ihm gehört eine Hundefutterfabrik, die eine wöchentliche Fernsehshow sponsert, eine Art Variete-Sendung. Und wahrscheinlich macht er ordentlich Druck, dass sie Pris ein paar Minuten geben. Nur wozu? Sie kann überhaupt nicht schauspielern. Sie hat keinen Funken Talent. Ich glaube, ich gehe zur Polizei. Er schläft mit ihr! Dieses Vieh schläft mit meiner Tochter!« Maury rief beim Flughafen an und versuchte, einen Raketenflug nach Seattle zu bekommen. »Ich flieg da hin und lass ihn festnehmen«, erklärte er zwischen den Telefonaten. »Nein, ich nehme gleich selbst eine Waffe mit – zur Hölle mit der Polizei. Die Kleine ist erst achtzehn, das ist eine Straftat. Ich mach ihn fertig. Der geht für fünfundzwanzig Jahre hinter Gitter.«
»Jetzt hör mir mal zu, Maury. Barrows hat das alles von vorne bis hinten durchdacht. Er hat diesen Anwalt, Blunk. Die haben sich abgesichert. Frag mich nicht wie, aber die haben an alles gedacht. Bloß weil irgendein Klatschkolumnist schreibt, dass deine Tochter…«
»Dann bring ich eben sie um.«
»Warte! Setz dich um Himmels willen hin und hör mir zu. Ob sie mit ihm schläft oder nicht, weiß ich nicht. Ja, wahrscheinlich ist sie seine Geliebte. Aber wir können es nicht beweisen. Natürlich, du kannst sie zwingen, nach Ontario zurückzukehren, doch selbst dann wird er sich irgendwas einfallen lassen.«
»Wäre sie doch bloß in Kansas City geblieben. Wäre sie bloß nie aus der Nervenklinik rausgekommen. Sie ist doch noch ein Kind.« Er sah mich an. »Und was könnte er sich einfallen lassen?«
»Er könnte sie mit irgendeinem Hiwi in seiner Firma verheiraten. Dann hat ihr niemand mehr etwas zu sagen.« Ich hatte mit der Lincoln gesprochen und wusste Bescheid. Sie hatte mir klargemacht, wie schwer es war, gegen einen Mann wie Barrows anzutreten, der die Paragrafen zurechtbiegen konnte wie Pfeifenreiniger. Für ihn waren sie keine Vorschriften, keine Hindernisse, sondern Gebrauchsgegenstände.
»Ja, ich verstehe, worauf du hinauswillst. Als rechtmäßigen Vorwand, sie in Seattle zu behalten.« Maurys Gesicht war grau.
»Und dann siehst du sie nie wieder.«
»Und sie wird mit zwei Männern schlafen. Mit ihrem Hiwi-Ehemann, irgendeinem Büroboten in irgendeiner Fabrik, die Barrows gehört, und… mit Barrows.« Er starrte mich an.
»Maury, du solltest den Tatsachen ins Auge sehen. Pris hat wahrscheinlich schon mit Männern geschlafen.«
Seine Züge verzerrten sich noch mehr.
»Ich sag dir das wirklich nicht gern, aber die Art und Weise, wie sie neulich abends mit mir geredet hat…«
»Na schön. Belassen wir es dabei.«
»Mit Barrows zu schlafen, wird sie nicht umbringen, und dich wird es auch nicht umbringen. Zumindest wird sie kein Kind kriegen, dafür wird er schon sorgen. Er ist schlau genug, sie regelmäßig impfen zu lassen.«
Maury nickte düster. »Am liebsten wäre ich tot.«
»Geht mir genauso. Aber weißt du noch, was du vor nicht einmal zwei Tagen zu mir gesagt hast? Dass wir weitermachen müssen, ganz egal, wie wir uns fühlen? Jetzt sage ich dasselbe zu dir. Ganz egal, was Pris dir und mir bedeutet hat.«
»Ja.«
Also machten wir da weiter, wo wir aufgehört hatten.
Auf der letzten Vorstandssitzung hatte sich die Stanton dagegen verwahrt, dass die Nannys das Grau der Rebellen trugen. Sie war durchaus bereit, das Bürgerkriegsthema mitzutragen, doch die Soldaten mussten treue Unionisten sein. Wer würde sein Kind schon einem Rebellen anvertrauen? Wir akzeptierten das, und Jerome erhielt den Auftrag zur Umrüstung der Fabrik. In der Zwischenzeit machten wir uns in Ontario an die Entwürfe, berieten uns mit einem japanischen Elektroingenieur, den wir auf Teilzeitbasis eingestellt hatten.